2006

Deutsches RIAS-Fellows-Treffen 2006
Berlin, 5. Februar 2006

Über 500 Gäste, darunter viele ehemalige RIAS-Mitarbeiter, nahmen im Juni an der Veranstaltung im Rathaus Schöneberg teil, in der die RIAS-Preisverleihung, das deutsche RIAS-Fellow-Treffen 2005 und die Feier zum 60. Jahrestag des RIAS Berlin zusammengefasst waren.

Gastredner war Dr. h.c. Klaus Schütz, Regierender Bürgermeister von Berlin, 1967–1977; deutscher Botschafter in Israel, 1977–1981; Intendant Deutsche Welle, 1981–1986; Direktor Landesanstalt für Rundfunk NRW, 1988–1993.


Verehrte Frau Chermak, lieber Jürgen Graf, meine Damen und Herren.

Mein besonderer Gruß gilt den Mitgliedern der RIAS BERLIN KOMMISSION. Alle sollen es wissen: Diese Kommission ist nicht für kurze Zeit geschaffen worden. Und: Es gibt genug Gründe dafür, dass sie weiterhin notwendig ist.

Mein Thema ist: „60 Jahre RIAS BERLIN“. Ich muss Sie allerdings warnen. Denn: Ich werde mich weniger mit den Besonderheiten dieses bedeutenden Rundfunksenders beschäftigen. Mein eigentlicher Beitrag gilt Berlin und in diesem Rahmen gilt er allerdings auch und gerade dem RIAS. Und wenn ich dabei den Sender da einordne, wo er hingehört, dann soll von Anfang an klar sein. Wenn hier von Berlin die Rede ist, dann bleibt die ganze Stadt Berlin im Blick. Denn: Hier ging es in all den Jahren um die gesamte Stadt. Und: Hier waren alle Berlinerinnen und hier waren alle Berliner gefragt.

Wir jedenfalls vergessen gerade die ersten Jahre nicht, die Jahre direkt nach der Befreiung vom Nationalsozialismus. Nicht die Blockade, nicht das Chrustchow- Ultimatum und nicht den Bau der Mauer. Damals bei den großen Demonstrationen standen wir — Ostberliner und Westberliner — zusammen auf den Straßen und den Plätzen der Stadt. Und zusammen riefen wir die Völker der Welt auf: „Schaut auf diese Stadt“.Das mag bei manchem nicht mehr so präsent sein in der Erinnerung. Aber damals waren wir eine Stadt. Spätestens bis zum Bau der Mauer. Und selbst danach war unsere Zusammengehörigkeit der oberste Grundsatz bei so gut wie all unserem Tun.

Ich kann mir denken: Für diejenigen, die sich angesichts der heutigen Weltlage zurechtfinden müssen, ist die Erinnerung an die ersten Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg und an das Ringen um die Freiheit von Berlin und um seine Fähigkeit zur unabhängigen Existenz bestenfalls von historischen Interesse. Und ich akzeptiere das auch. Nur: Auch die Zukunft, vor der wir heute stehen und an die wir heute denken müssen, wird nur sinnvoll gemeistert werden, wenn wir uns der eigenen Vergangenheit und damit unserer Geschichte bewusst bleiben. Vor allem aber, wenn wir klar erkennen, wie und aus welchen Gründen die Menschen in Berlin damals so entschieden haben und nicht anders. Das aber heißt nicht nur, was der eine oder was die andere in jenen Jahren gesagt und getan hat. Sondern: Wie und warum eine so große Zahl der Berlinerinnen und der Berliner — die direkt Betroffenen also — damals so und nicht anders gehandelt haben.

Möglicherweise klingen diese Hinweise einigen unter Ihnen etwas arg theoretisch. Das würde mir leid tun. Ich meine allerdings, dass es gerade im Rahmen unseres heutigen Themas notwendig ist, auf diese Tatbestände gesondert hinzuweisen. Denn: In den ersten Jahren nach Ende des Krieges ging es in Berlin genau darum, zu verhindern, dass an diesem Ort eine verhängnisvolle Entwicklung akzeptiert werden würde. Sozusagen: Quasi schicksalhaft. Eine Entwicklung, durch die eine Großmacht ihren geographisch-politischen Vorsprung dazu nutzen wollte, die anderen Mächte aus deren Rechtspositionen zu verdrängen. Hier in Berlin glaubte nämlich die Sowjet-Union — damals, wie wir uns erinnern, eine Großmacht — sie könnte ihre Chance erfolgreich nutzen, um die drei Westmächte aus ihren Verpflichtungen für die Stadt Berlin herauszuzwingen. Das alles — wie es so hieß — um des Friedens willen. Und auch deshalb, weil es — strategisch gesehen — doch so vernünftig zu sein schien.

Die Drei haben dem widerstanden. Und sie haben damit dem Frieden gedient. Ich bin davon überzeugt, dass das norwegische Nobel-Preis-Komitee im Dezember 1971 recht hatte. Bei der Überreichung das Friedens-Nobel-Preises an Willy Brandt hat es seine Entscheidung neben anderem damit begründet, „dass eine Niederlage für das freie Berlin den Keim einer Niederlage für den Frieden Europas“ bedeutet hätte. Und ich bleibe dabei, dass es letztlich die gesammelte Kraft der Berlinerinnen und der Berliner gewesen ist, die Paris, London, vor allem aber Washington dazu veranlasst hat, ihre Rechte in Berlin wirklich ernst zu nehmen und sie dementsprechend zu verteidigen. Die Persönlichkeit, die dafür zusammen mit Lucius D. Clay stand, und in unserer Erinnerung wohl immer stehen wird, war Ernst Reuter. Nur: Bei aller Achtung vor der Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte, ohne uns Berlinerinnen und ohne uns Berliner — und das heißt: ohne praktisch jeden Einzelnen von uns — wäre das nicht gegangen. Besonders für die, die damals dabei waren, sind eine Reihe von Bezugspunkten von bleibender Bedeutung. Etwa wenn ich Ereignisse oder Dinge nenne wie die Blockade, den 17. Juli 1953,das sowjetische Ultimatum von 1958, die Mauer, der Strom von Flüchtlingen, das Bauen von Tunneln und vieles andere.

Aber jeder dieser Punkte steht — so wichtig er für sich allein schon war — in direkter Beziehung zu einer Reihe von Bezugspunkten aus viel späteren Jahren. So gut wie keiner ist als einmaliger Vorgang stehen geblieben in der politischen Landschaft unseres Landes und dieser Stadt. Es hat nicht nur eine, sondern viele Fortschreibungen gegeben. Denn nach etwa fünfzehn Jahren begann in und um Berlin eine wichtige, eine neue Entwicklung. Es begann sozusagen eine zweite Phase des Ringens um Berlin. Bis dahin hatten wir uns das Ziel gesetzt, den freien Teil der Stadt in seiner inneren Ordnung zu stabilisieren. Und ihn so zu einer lebensfähigen Großstadt auszubauen.

Das war schon angesichts der tatsächlichen Lage ein gewagter Versuch. Denn: Gleichzeitig musste in den Auseinandersetzungen eines Kalten Krieges, der immer noch existierte, Position bezogen werden. In Berlin und von Berlin aus. Wohlwissend, dass der Konflikt um die Stadt noch lange und über die Jahrzehnte hinweg dauern würde. Jetzt aber waren zusätzliche Aufgaben zu erkennen. Und wir mussten uns ihnen stellen. Lassen Sie mich dies in einem gesonderten Zusammenhang deutlich machen. Eine Westberlinerin hat vor einiger Zeit ihre Erinnerungen an das Berlin aufgeschrieben, in dem sie aufgewachsen ist. Es ist das Berlin jener zweiten Phase, auf die ich hinweisen will. Und sie hat dabei ihre Bezugspunkte genannt. In etwas mehr als dreißig Hinweisen. Ich greife einige heraus. Inselleben, Passierscheinstelle, Entlastungsstraße, Senatsreserve, Berlinzulage. Auch der RIAS kommt drin vor und noch vieles andere.

Ich weise auf das Buch von Kerstin Schilling deshalb hin, weil es deutlich macht, dass das Berlin, das sie erlebt hat, mehr oder weniger den Geist der Jahre nach 1963 wiedergibt. Und die Grundstimmung, in der wir damals gelebt haben. Ihre Bezugspunkte liegen also ziemlich eindeutig in der Zeit nach dem Mauerbau. Präziser gesagt: Nach dem Jahr 1963. Nach dem Jahr, in dem sich John F. Kennedy, so eindeutig wie es zuvor nie möglich schien, zu Berlin bekannt hat. Und anderseits nach dem Jahr, in dem zum Weihnachtsfest 1963 die erste Regelung für Passierscheine möglich geworden war. Allerdings: Ich jedenfalls spanne meine Bezugspunkte weiter als diese Generation. Ich sehe Berlin in der Zeit von 1948 bis 1989 stärker im Zusammenhang. Stärker als jene, die ihre Erfahrungen allein stützen auf ein Westberlin, das zum ersten Mal fest eingeordnet war in Verträge zwischen Ost und West. Und dies verbunden mit einer nun wirklich zweifelsfreien Zusicherung für seine freiheitliche Lebensordnung. Ich gehöre nun mal zu einer Generation, die in den Jahren von 1948 bis 1961 in anderen Kategorien gedacht und gelebt hat als die Späteren. Für uns war die Einheit der Stadt noch so etwas wie eine Gewissheit. Für uns war die Teilung immer ein Provisorium geblieben. Wir hatten unsere Erfahrungen in der Blockade und beim Chrustchow-Ultimatum. Und wir erwarteten weiterhin und unverdrossen eine Lösung der Berliner Frage. Zugegeben: Wann und wie, das wussten wir auch nicht.

Aber nach dem Bau der Mauer und besonders nach 1963 musste vieles neu überdacht werden und auch neu geordnet. Das Ziel war jetzt, den freien Teil von Berlin zu einer in sich lebensfähigen Einheit zu entwickeln. Vielleicht sogar zu einem Modell einer modernen Großstadt. Mit festen Bindungen an den Westen und wohl eingefügt in das Wirtschafts- und Sozialsystem der Bundesrepublik Deutschland. Und das also ist — Nehmt alles nur in allem — gelungen. Gemessen an der Lage zuvor wurde so aus dem umkämpften West-Berlin ein Gemeinwesen der besonderen Art. Vielleicht tatsächlich so etwas wie eine „Besondere Politische Einheit“.

Und gleichzeitig entwickelten wir hier im Westen der Stadt unseren eigenem Zeitgeist. Einen Zeitgeist von besonderem Zuschnitt. Fern von Westdeutschland und mitten in der DDR. Mit oder ohne Ironie, mit oder ohne Arroganz. Aber mit einer Spur von Stolz, dessen sich niemand zu genieren braucht.

Übrigens: Eigentlich ist es ziemlich egal, ob wir uns mehr in der ersten oder mehr in der zweiten Phase des Ringens um die Freiheit der Stadt zu Hause gefühlt haben. Oder: Ob wir uns zu dieser oder zu jener Generation von Westberlinern rechnen.. Eins hatten wir auf jeden Fall gemeinsam: Den Rundfunk im amerikanischen Sektor. Erinnern wir uns: Eine freie Stimme der freien Welt. Denn: In den Auseinandersetzungen und bei den Ereignissen, an die ich eben erinnert habe, ging es neben vielem anderen auch darum, die zeitgemäßen Mittel einer hoch entwickelten Informationstechnik so wirkungsvoll wie möglich einzusetzen. Mit dem Ziel, auf dem außerordentlich wichtigem Gebiet der Information und der Meinung die offenbar unausweichliche Auseinandersetzung mit der sowjetischen Großmacht und ihrer Gehilfen in Ost-Berlin erfolgreich bestehen zu können. Und in diesem Rahmen wurde neben den Zeitungen und den Zeitschriften der Rundfunk — und hier präzise gesagt: der Hörfunk — außerordentlich bedeutungsvoll. So begann die außergewöhnliche Geschichte des Rundfunks im amerikanischen Sektor, von RIAS BERLIN.

RIAS Berlin hat von West- Berlin aus eine bewundernswerte Leistung für die ganze Region vollbracht. Als es darum ging, den Menschen in der sowjetischen Zone und dann in der DDR die Welt so darzustellen, wie sie wirklich ist. Durch ein umfassendes Vollprogramm, das über Jahrzehnte hinweg auf hohem Niveau informativ und unterhaltsam zugleich war.

Davon haben die Westberliner selbstredend auch profitiert. Denn es war ihre Stimme, die da in die Umgebung getragen worden ist. Ganz gleich, was immer und wann immer gesendet wurde. Ob es ernste Musik war oder moderne Schlager. Ob kulturelle Ereignisse von hohem Glanz übertragen wurden oder wissenschaftliche Beiträge. Gar nicht zu sprechen vom Berliner Kabarett an seiner Spitze die berühmten „Insulaner“. Bis hin zu den Kinderprogrammen. Denn: Bei allen, die damals in Berlin Kind gewesen sind, bleibt unvergessen, dass „Onkel Tobias vom RIAS“ da war. So war RIAS Berlin bald eigentlich der Haussender bei den Berlinern geworden. Und er ist es bis zum Schluss geblieben.

Übrigens: Er ist es auch dort bald so etwas wie ein Haussender geworden, wo die politische Führung ihn besonders ungern hörte, in der DDR. Und dies auch deshalb weil diese freie Stimme der Freien Welt immer unabhängig geblieben ist. Unabhängig der Berliner Politik gegenüber sowieso. Aber auch die Amerikaner haben den Mitarbeiterinnen und den Mitarbeitern des Senders jede nur mögliche Freiheit gegeben, das Programm des Senders wirkungsvoll und interessant zu gestalten. Das kann sich heute der eine oder der andere gar nicht vorstellen. Aber es war nun einmal so. Tatsächlich war genau dies die Grundlage dessen, dass RIAS Berlin eine so außergewöhnliche Vertrauensstellung bei seinen Hörerinnen und bei seinen Hörern hatte. In Ost und in West. Und das über Jahrzehnte hinweg.

Die Geschichte des RIAS ist vielfach erzählt worden. Wir, die wir sie sozusagen selbst erlebt haben, wissen um das Gewicht und wir wissen um die Bedeutung dieses wohl einmaligen Senders. Manche von uns haben mit ihm hier gelebt. Von Anfang an und bis hin zum endgültigem Zusammenbruch des Kommunismus. Das heißt also: Bis zum Fall der Berliner Mauer und bis zur Vereinigung unseres Landes und seiner Hauptstadt. Die Geschichte Berlins und die von RIAS Berlin gehören, wie ich zeigen wollte, zusammen. Sie sind eins.

Diese Geschichte sollte nicht vergessen werden. Und sie wird nicht vergessen. Denn: Sie lebt — in veränderter und in zeitgemäßer Form — im heute bundesweiten DeutschlandRadio. Und auf ihre Weise sorgt die RIAS-KOMMISSION dafür, dass der alte RIAS lebendige Erinnerung bleibt. Und dafür gilt ihr unser aller Dank.