3-wöchige USA-Journalistenprogramme 2010
Frühjahr und Herbst
RIAS USA-Frühjahrsprogramm
14. März – 3. April 2010
Zwölf deutsche Journalisten in den USA: Organisiertes Programm in Washington und New York sowie für alle Teilnehmer jeweils individuelles Praktikum in amerikanischen Rundfunk- oder Fernsehstationen.
TEILNEHMERBERICHTE
Annette Betz, Bayerischer Rundfunk, München
New Jersey, Hoboken High School… durchs Dach tropft Regenwasser, auf den Gängen der Schule stehen Eimer. Wir laufen im Zick-Zack-Kurs um die Kübel. Versuchen unsere Betroffenheit nicht zu zeigen: U.S.-Bildungssystem, das kann’s ja wohl nicht sein?
Wenig später stehen wir mit den High-School-Kids in einem „MAC LAB“. Einem Klassenzimmer, diesmal trocken und mit teurem Equipment, das es in sich hat: Zeitgemäße Macintosh-Computer als Schnittplätze, auf denen die Schüler Videoclips produzieren. Drei Minuten über die „Great Depression“, die Wirtschaftskrise der 30er Jahre! Angewandter Geschichtsunterricht, self-made, in einer Qualität, die so manches europäische Regionalstudio vor Neid erblassen ließe. Und auf dem Gang steht das Wasser: Amerika, Land der Gegensätze!
Die Lehrer stellen sich auf ihre „Onliner“ ein, sind flexibel und überraschend locker. Immer mehr kommen auf dem „2.Bildungsweg“ in die Schulen, sind eigentlich keine Pädagogen, sondern Praktiker mit Berufs- und Lebenserfahrung: Rachel war Produzentin beim Fernsehen, ihr Kollege nebenan Broker an der Börse — ihre Schüler sind für sie keine kids, sondern junge Erwachsene, denen schon bald dieselbe „Job-Rotation“ droht.
Die Wirtschaftskrise wirbelt den „Amerikanischen Traum“ kräftig durcheinander — eine Erfahrung, die sich wie ein roter Faden durch die RIAS-Reise zieht: Arbeitsplätze stehen auf der Kippe, Häuser fallen im Wert und die private Altersversorgung löst sich gerade in Luft auf, wenn man Pech hat.
Das sorgt für Unsicherheit, für Polarisierungen, für Werte-Diskussionen und Auseinandersetzungen. Im Büro, im Bus und zuhause, in den Familien — früher war Politik ein Tabu-Thema beim Abendessen, heute nicht mehr!
Tough times, harte Zeiten: Unsere Ansprechpartner in Washington D.C, Seattle, New York City und New Jersey sind offen und aufgeschlossen, auch wenn sie die Situation unterschiedlich interpretieren. Wir bombardieren sie mit Fragen. Wenn nicht jetzt, wann dann?
Wir reisen quer durch die Gesellschaft. Wir führen Gespräche mit U.S.-Journalisten in Fernseh- und Radiostationen, bei CNN, BBC und NBC. Mit Diplomaten (dem dt. Botschafter) und mit deutschen Medien-Kollegen (den Korrespondenten des ARD-Studios Washington und des ZDF-Büros New York) Hohe Schlagzahl, Termine fast im Stundentakt.
Anfangs sind wir uns nicht sicher, wie weit man gehen darf in der Diskussion mit den Gastgebern, mit Vertretern politischer Parteien, religiöser Gruppen, mächtiger Wirtschaftsverbände und intellektueller think tanks? Überall heißt man uns willkommen, nimmt sich Zeit und überall entsteht ein lebhafter Austausch, mit EINER Ausnahme: Die Profis von der Pharma-Industrie scheinen daran nicht interessiert zu sein, sie halten einen Frontal-Vortrag über ihre Sichtweise des Gesundheitssystems , sie dulden kaum Widerspruch und diskreditieren sich damit selbst!
Die RIAS-Journalistengruppe trennt sich: für eine Woche bin ich Hospitantin bei NEWS TALK 97-3 KIRO-FM, einer privaten Radio-Station in Seattle, auf der anderen Seite des Kontinents! Tom Tangney, der Mann am Newsdesk, bindet mich in den Alltag ein und sorgt für Tages-Praktika bei weiteren Radio-Sendern. So lerne ich Luke Burbank kennen.
Luke ist ein PIRAT, ein Podcast-Pirat! Das heißt: Luke macht „iPod-Broadcasting“. Er produziert mitten im Wohnzimmer seine eigene Radiotalkshow. Täglich 60–90 Min. nur fürs Internet und abrufbar, von wem und wann auch immer. Zum Runterladen auf den MP3-Player oder auf I-Tunes. Lukes Fangemeinde spendet Geld, um ihn zu hören und ich weiß jetzt, warum: Er ist witzig, redet über Bücher und Beziehungen, über sein Lieblings-Basketballteam und seine Kumpels; manchmal hat er Gäste, manchmal beantwortet er Hörer-Mails, manchmal spielt er Musik — alles nicht neu, aber alles typisch Luke! Das reicht offenbar, um Kult zu werden.
Im Hintergrund hämmern und sägen die Handwerker, Luke lässt grade sein Haus renovieren, das kostet… Podcast scheint sich zu lohnen! Hoffnungsträger in schwierigen Zeiten: Luke war nur einer von vielen, die ich kennenlernen durfte auf einer großartigen Reise durch die Staaten: Fein abgestimmt, logistisch durchdacht und perfekt organisiert!
Nicht das erste Mal, dass ich dort unterwegs war. Ich habe in den USA studiert und gearbeitet, habe einiges mitgebracht, aber noch viel mehr mitgenommen — allen, die das möglich gemacht haben: Thank you thousand times!
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Pia Bierschbach, Westdeutscher Rundfunk, Köln
“Amish people? Why are you so crazy about the Amish?“ Die USA sind modern, technologisch auf dem neusten Stand, eine Weltmacht. Die Amerikaner haben das iPhone und jetzt auch noch das iPad erfunden und da wollen die deutschen Gäste zurück ins 17. Jahrhundert?
Großes Erstaunen bei Channel 5 in Cincinnati — die amerikanischen Kollegen geben uns aber schließlich doch einen heißen Tipp, wo in Ohio wir „the Amish“ sehen können. Unserem Tagesausflug in die Vergangenheit steht also nichts mehr im Wege.
Die Uhr zurückgedreht, im wahrsten Sinne des Wortes. Ich sitze zu Hause, packe mit Mühe meinen Koffer, dank neuer Gepäckbestimmungen, die es Frauen sehr schwer machen, lange zu verreisen — denn das bisschen, was man noch mitnehmen darf, kann niemals ausreichen — und höre: „Oh, das wird anstrengend, eine Reise in die Staaten. Diese Sicherheitsvorkehrungen. Das ist ja alles so übertrieben und nervt.“
Und ja, es nervt; und nein, vielleicht ist es nicht übertrieben. Vielleicht muss es sein. Ob die Maßnahmen die richtigen sind — das ist die einzige Frage, die ich mir stelle. Mich hält auf jeden Fall nichts davon ab in die Staaten zu reisen. Aufregung und Abenteuerlust im Bauch und drei RIAS-Wochen vor mir.
Washington empfängt unsere Gruppe mit Regen und Kälte. Wo ist die Kirschblüte? Weit und breit nichts zu sehen. Doch das soll sich noch ändern. Das Programm ist straff, aber die Energie ist groß und zum Glück gibt es Jon Ebinger, der uns die gesamte Zeit gewissenhaft von einem zum anderen Termin leiten wird. CNN die erste Station — hier wird der Startschuss gegeben für das Hauptthema der Reise: „Healthcare“. Wir haben das große Glück, ganz nah bei einer der wichtigsten politischen Entscheidungen des Landes dabei sein zu können. Ob CNN, NBC oder bei verschiedenen „Think Tanks“. Wir können Fragen stellen, diskutieren und haben die Chance zu erfahren, wie die politischen Lager operieren und was der Bürger eigentlich versteht von dem, was da kommen soll. Vor dem Capitol und dem Weißen Haus Demos für und gegen ein neues Gesundheitssystem. Gespräche mit amerikanischen Bürgern, die eines deutlich machen: Viele haben einfach Angst vor Veränderungen. Angst, dass der Staat zu viel bestimmt. Auch wir aus Deutschland versuchen immer wieder deutlich zu machen, welche Vorteile eine umfassendere gesundheitliche Versorgung doch bieten kann. Bei der republikanisch orientierten Heritage Foundation haben die deutschen RIAS-Gruppen schon lange den Ruf, zu „Obama-freundlich“ zu sein, oder anders, zu demokratisch.
Hitzige Diskussionen werden hier sogar erwartet, wie wir erfahren und auch unsere Gruppe enttäuscht die Obama-Kritiker nicht. Hitzige Diskussionen funktionieren auch zwei Flugstunden entfernt in Cincinnati. Zusammen mit Monika Hyngar verbringe ich hier meine individuelle Praktikumswoche. Raus aus der Großstadt und rein in das „real American life“, wie ich es gerne nenne. Da sind unsere beiden „hosts“ Chris und Laure. Kameramann Chris hat Zweifel am neuen Gesundheitssystem, Laure sitzt im Rat der Stadt und kämpft als Demokratin für die Veränderung. Spannender könnte es für uns nicht sein.
„That’s not fast enough.“ Kopfschütteln bei den Kollegen von Channel 5. Fakt ist: Das Nachrichtengeschäft funktioniert in Deutschland und in den Staaten einfach ganz anders. Man will uns nicht glauben, dass es schnell geht, im Schnitt zu sitzen und gleichzeitig zu texten und wir sind genauso erstaunt zu sehen, dass der Cutter, der ja eigentlich Kameramann ist, die Bilder alleine aussucht und der Reporter seinen Beitrag vor der Ausstrahlung nicht einmal ganz gesehen hat. Zwei Systeme und spannend zu sehen, dass Filme machen nicht gleich Filme machen ist.
Und noch was lernen wir hier: Rhein ist nicht gleich Rhein. Das „Over the Rhine“ Viertel in Cincinnati wurde ursprünglich von Deutschen besiedelt und es gab hier auch wirklich einmal einen Kanal, den sie Rhein nannten. Heute ist es das ärmste und gefährlichste Viertel in der Stadt, doch nicht mehr lange. Aus Bruchbuden werden Luxuswohnungen. Wir hätten sofort zuschlagen sollen. Denn eines ist sicher: In wenigen Jahren ist es richtig schick, hier zu wohnen.
Oder doch lieber eine Wohnung in New York?„Traumstadt, aber ganz schön hektisch!“ so die Meinung vieler. Ja, sie ist hektisch und laut aber vor allem ist sie faszinierend und wen stören da die vielen Menschen und Autos. Mein Lächeln wird zum dauerhaften Begleiter in dieser Stadt. Als Tourist war fast jeder schon mal hier, als Journalist ist es noch aufregender und als RIAS-Teilnehmer dazu eine einmalige Chance. Nicht nur interessante Gespräche, zum Beispiel beim Jewish Committee oder der Börsenbesuch. Was wir sehen, ist auch ein ganz anderes New York. Besuchen so etwa Brooklyn und sprechen mit Schülern in New Jersey.
Vor Ground Zero hatte ich Angst und tatsächlich hat mich der Besuch sehr bewegt — doch mir war es wichtig, dort gewesen zu sein. Komisch, erst Tage später, als ich auf der Brooklyn Bridge ein Foto von mir und der Skyline machen lasse, merke ich, wie sehr die Türme wirklich fehlen — so bewusst ist es mir ganz nah an der Baustelle nicht gewesen.
Die Tage rasen und New York will es uns extra schwer machen zu gehen. Die Sonne scheint, der Central Park blüht, die Stimmung ist perfekt. Und doch hat das RIAS-Programm ein Ende. Ein Programm, das mir gezeigt hat, wie spannend es ist, ein Land so intensiv kennenzulernen. Mit wichtigen Organisationen zu sprechen, politische Details zu erfahren, durch Besuche bei TV-Sendern das amerikanische Mediensystem zu verstehen. Und es waren vor allem die Gespräche in entspannter Atmosphäre, etwa bei Roxanne in Washington, einer ehemaligen RIAS-Teilnehmerin, die unsere ganze Gruppe zu sich nach Hause eingeladen hat, die schönen Abende mit unseren „hosts“ in Cincinnati, bei denen wir auch ihre Familien kennenlernen und einen Einblick in ihr Leben bekommen durften oder die namenlosen Amerikaner, denen man auf der Reise begegnet ist, denen vielleicht auch Oberflächlichkeit nachgesagt wird. Mich haben sie sehr positiv überrascht, mit ihrer Freundlichkeit und ihrem Interesse.
Ob „the Amish“ freundliche Menschen sind, haben wir übrigens nie so wirklich erfahren können. Nach unendlichen Stunden Fahrt zur angegebenen Adresse platzte unser Traum vom Einblick in eine andere Welt. Wir sahen Autos, Strom, eine Toilettenspülung….so hatten wir uns das nicht vorgestellt. Eine Frau trug die unverwechselbare Amish-Kleidung und verkaufte uns echtes Amish-Gebäck. Nur eine Touri-Attraktion? Zumindest hier lebten sie wohl nicht. Ob der heiße Tipp nicht extra so ausgesucht war? Wollte man uns lieber nur das moderne Amerika zeigen? Ein unvergesslicher und schöner Ausflug war es dennoch an diesem Tag und auch an allen anderen spannenden RIAS-Tagen.
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Thomas Denzel, ARD, Südwestrundfunk, Köln
46 Dollar und eine aufmerksame Nachbarschaft
„I was just wondering whether you might need some help.“ Der Polizist klingt sehr freundlich und lächelt, als er seinen Wagen direkt neben mir abstellt und die Scheibe herunterlässt. Natürlich ist mir klar: der wahre Grund seines Besuchs ist ein ganz anderer. Zwar stehe ich erst zehn Minuten wartend am Straßenrand, doch offenbar bin ich in einer besonders aufmerksamen Nachbarschaft gelandet — hier in Punta Gorda, im Westen Floridas. Kein Wunder. Die, die hier leben, haben wirklich etwas zu verlieren. Zwischen den Luxusvillen fließen Wasserkanäle, die durch die Mangroven und schließlich ins offene Meer führen. Hinter jedem Haus ist mindestens ein schmuckes Boot festgemacht.
Wer so lebt, für den fallen 46 Dollar nicht ins Gewicht, sollte man meinen. Und doch sind eben genau 46 Dollar der Kern der Story, für die wir heute hier drehen: die Anwohner wehren sich gegen eine Gebühr in dieser Höhe, die sie für die Umbenennung ihrer Straße bezahlen sollen. Und in dieser Straße stehe ich nun, warte auf die FOX4-Reporterin Pooja, mit der ich hier verabredet bin. Gemeinsam mit Kameramann Chris biegt sie gerade rechtzeitig um die Ecke, um die letzten Zweifel des officers zu zerstreuen.
Die lokale Fernsehstation FOX4 im benachbarten Fort Myers kennt hier schließlich jeder. Geschichten wie die mit der 46-Dollar-Gebühr sind typisch für das Programm. Neben Kriminalität, Skurrilem und vor allem vielen Wetterberichten gehören die Sorgen und Nöte der Zuschauer zu den Themen, die die Redaktion am liebsten in die Sendung nimmt. Mit Erfolg. Pro Woche gehen Dutzende Anrufe und e-mails ein. Die Zuschauer schlagen längst selbst neue Themen vor für die Rubrik „Four In Your Corner“. Pooja ist als sogenannter troubleshooter investigator fast nur mit solchen Aufträgen beschäftigt. Aus ihren Beiträgen und denen ihrer Kollegen entstehen täglich insgesamt zwei Stunden Morning Show und 90 Minuten Abend-News. Der Großteil des Programms kommt aus der Zentrale des FOX-networks: „American Idol“, „24“ und andere Unterhaltungsformate.
Die Gesundheitsreform spaltet die Nation
Politische Nachrichten finden nur schwer ins Programm von Lokalsendern wie FOX4. Doch diese Woche ist in den USA alles anders: eben hat der Kongress die Gesundheitsreform beschlossen. Und dieses Thema bewegt die ganze Nation — so trocken es auch klingen mag und so wenig die meisten U.S.-Bürger im Detail über die fast 3000 Seiten Gesetz Bescheid wissen. Für die einen ist eine gesetzliche Krankenversicherung eine längst überfällige und eigentlich selbstverständliche Sache. Die anderen setzen die Reform mit der Einführung des Kommunismus gleich — und im selben Atemzug Obama mit Hitler. Jedenfalls haben — typisch USA — fast alle eine dezidierte Meinung, für die sie heftigst eintreten.
Unter solchen Umständen kann bei FOX4 auch ein politisches Thema den Tag beherrschen. Am Tag nach der entscheidenden Abstimmung im Kongress sind alle Reporter damit beschäftigt — auch ich selbst. Die Sicht der Demokraten in Florida auf den healthcare bill soll ins Programm. Für ein O-Ton-Interview treffe ich Alex Sink, die Kandidatin der Demokraten für die nächste Gouverneurswahl in Florida. Für dieses Gespräch fühlte ich mich gut vorbereitet. Den historischen Moment, die letzte Woche Debatte um den healthcare bill hatte ich gemeinsam mit den anderen RIAS-fellows in Washington D.C. erlebt — und in Gesprächen mit Lobbyisten, Journalisten und den politischen Vordenkern der think tanks vertieft. Der amerikanische TV-Journalist Jon Ebinger begleitete uns durch ein hochinteressantes Programm, das uns in der U.S.-Hauptstadt und später in New York City mit den aktuellen amerikanischen Themen und der U.S.-Medienlandschaft vertraut machte.
Journalismus in den USA — die Sorge um die Zukunft
Schon unser erster Abend in Washington D.C. hat uns gezeigt: die Sorgen der amerikanischen Kollegen sind ganz ähnliche wie unsere eigenen zuhause in Deutschland. Wir treffen Journalisten amerikanischer Sender zu einem Begrüßungsdinner — mit dabei auch Lynn, TV-Reporterin bei ABC. „Ich mache mir wirklich Sorgen um die journalistische Qualität,“ sagt sie. „Es wird nie wieder so sein, wie es einmal war. Heute geht es doch nur noch darum, Geld zu sparen.“ Amerikanische Fernsehsender haben bereits hunderte Mitarbeiter entlassen. Die Nachrichten — früher die „Juwelen“ der Sender — verschwinden allmählich aus der prime time und werden durch Unterhaltungsformate ersetzt. Längst bestehen Kamerateams aus nur einer Person, die zugleich für Bild und Ton zuständig ist und dann meist noch den Schnitt übernimmt. Und inzwischen gehen immer mehr Sender den nächsten Schritt, den zum Video-Journalisten — zum Reporter, der auch den kompletten Dreh übernimmt. In den USA nennen sie das die one man band. Erstaunlich nur, dass sie dort noch nicht bei allen Sendern Alltag ist — in dem Land, das sonst so oft einen Schritt voraus ist. Nein, auch in den USA ist die Skepsis groß. Und was Lynn erzählt, könnte so auch aus einem Gespräch unter deutschen Kollegen stammen: „Du kannst doch nicht drehen und gleichzeitig Reporter sein. Da verpasst Du doch die Story, die gerade hinter Deinem Rücken passiert! Aber die Jungen sind ehrgeizig und experimentierfreudig — die übernehmen den Job, wenn Du es nicht tust.“
Allerdings erleben wir ein paar Tage später auch eine ganz andere Realität. Wir sind zu Gast bei Al Jazeera Washington, wo uns Jean Garner begrüßt. Die amerikanische Journalistin ist vor ein paar Jahren zum englischsprachigen Programm des arabischen Senders gewechselt. Auch deshalb, weil sie hier einen vergleichsweise sicheren Job habe, gibt sie offen zu. „Wir sind der einzige Sender in den USA, der im Moment in neues Personal investiert“, sagt sie und zeigt uns Beispiele ihrer Arbeit. Jean Garner ist bei Al Jazeera für eine 30minütige Dokumentationsreihe zuständig — ein Format, das man sonst im U.S.-Fernsehen kaum noch findet.
Natürlich auch nicht bei FOX4 in Florida. Dort will man Kosten sparen, die Reporter müssen oft zwei Stories pro Tag abliefern. Selbst mein Gastgeber Patrick Nolan, eigentlich anchor der Spätnachrichten, ist ausserdem häufig vormittags auf Dreh. Der Zeitdruck ist groß, doch die Reporter arbeiten sehr professionell und hoch engagiert. Allerdings erwägt auch FOX4, künftig nur noch mit one man bands zu arbeiten. Einige der Kollegen denken mit Grausen daran.
Ich möchte gerne die lokale NPR-Station in Fort Myers kennenlernen. Patrick Nolan, der selbst zu den Stammhörern gehört, vermittelt mir den Kontakt. NPR wird oft mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Deutschland verglichen — weil sich NPR und sein TV-Pendant PBS dem Qualitätsjournalismus verpflichtet fühlen. Es gibt allerdings einen entscheidenden Unterschied — und den erlebe ich bei meinem Besuch hautnah. Der Sender befindet sich mitten in seiner Spendenaktion. Zwar ist gerade ein Historiker zu einem einstündigen Interview zu Gast. Doch alle zehn Minuten wird das laufende Programm für einen Aufruf unterbrochen. „Wenn wir Ihnen wirklich wichtig sind, wenn Sie Wert auf ein Programm legen, in dem Sie nicht ständig die Werbung anblökt, dann helfen Sie uns!“ NPR finanziert sich nicht über Rundfunkgebühren, sondern fast ausschließlich über freiwillige Spenden seiner Hörer. Zweimal im Jahr wird jeweils zwei Wochen lang gesammelt. Heute ist pets day — die Zuhörer können im Namen ihrer lebenden oder verstorbenen Haustiere spenden. Das finden selbst die Mitarbeiter „rather weird“, aber es funktioniert. „Typisch Amerika eben“, zwinkern mir die Radiomacher zu. Eben gingen 120 Dollar „in rememberance of Allie the poodle“ ein, damit sind es heute insgesamt 8200 Dollar. Bis zum Ende der Aktion erhofft sich der Sender 150.000 Dollar.
Walk-And-Talk rettet die Story
Die Geschichte um die 46 Dollar für den neuen Straßennamen gestaltete sich übrigens schwierig. Zwar finden wir in Maureen Morris eine Anwohnerin, die ihrem Ärger über die Gebühr gerne vor der Kamera Luft macht. Doch weitere Dreharbeiten rund um ihr Haus lässt sie nicht zu. Maureen hat wohl selbst eingesehen, wie schlecht ihr Anliegen zusammengeht mit dem luxuriösen Wintergarten, der alpinen Felslandschaft dort und dem drei Meter hohen Indoor-Wasserfall. Gerade einmal den Briefkasten und die Gebührenrechnung dürfen wir zeigen. Zu dumm, dass außerdem die Stadtverwaltung kein Fernsehinterview geben will.
Die Kollegin von FOX4 ist dennoch wenig verzweifelt. Sie weiß, dass sie auch mit den wenigen Bildern leben kann. Den Großteil eines typischen FOX4-Beitrags agiert ohnehin der Reporter im Bild. Walk-And-Talk nennt man das hier. Also lässt sich Pooja drehen, wie sie die Straße entlang geht und schildert dabei das Problem, das viele mit deren Umbenennung haben. Mit der Stadtverwaltung führt sie ein Telefoninterview. Sie steht dabei am Straßenrand — und auch dieses Bild fängt Kameramann Chris ein. Zurück im Studio werden noch Schriftgrafiken erstellt und in das Stück geschnitten. Alles, was Pooja im Beitrag nicht unterbringen konnte, erzählt sie vor und nach ihrem Bericht. Sie wird dazu live in die Sendung geschaltet, aus dem Newsroom nebenan. Sieht schick aus — keiner weiß, dass zwischen ihr und den Moderatoren gerade einmal zehn Meter Distanz liegen.
Hochprofessionell, aber bildarm und wenig filmisch — denkt man da als Kollege aus Deutschland. Aber dieses selbst für amerikanische Maßstäbe extrem Reporter-fixierte Format ist bei FOX4 eingeführt und bietet einen großen Vorteil: Stories, die bei uns wegen Bilderarmut gar nicht stattfinden, bekommt man so problemlos ins Programm.
Als Maureen Morris uns an der Haustür verabschiedet, hat sie schon die nächste Themenidee. Mit Nachbarn hat sie eine Bürgerinitiative gegründet. Gemeinsam kämpfen sie gegen ein Bauprojekt. — „Die wollen uns einen Seven-Eleven-Supermarkt vor die Nase setzen,“ sagt Maureen. „Wer will schon solch einen Schandfleck in seiner Nachbarschaft?“ Maureen jedenfalls nicht. Sie ist schließlich mobil und kann überall einkaufen — in der Garage stehen ein Porsche und ein Beetle Cabrio.
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Christian Feld, Westdeutscher Rundfunk, Köln
„They’ve all come to look for America“ (Simon and Garfunkel)
Gleich am Anfang: die Kapitulation! Wie soll ich drei intensive Wochen mit gefühlt unendlich vielen Gesprächen, Bildern und Kaffees auf so wenig Platz angemessen beschreiben? Wenn das ginge, könnte ja auch einer auf die verrückte Idee kommen, über 300 Millionen völlig unterschiedliche Menschen in ein Land zu packen und das dann „Vereinigte Staaten“ zu nennen. Widersprüchliche Staaten von Amerika — Contradictory States of America (CSA) — das würde es eigentlich besser treffen.
Drei Wochen in Washington, D.C., Missouri und New York. Es waren fast zu viele wertvolle Gespräche, um wirklich immer das Optimum mitzunehmen. Mich hat besonders die Woche auf dem platten Land fasziniert. Sie nimmt in diesem Bericht deshalb auch den größten Raum ein.
WASHINGTON, D.C.
Die Auftaktwoche. Plötzlich feiert ein scheinbar längst vergessenes Gruppen-Erlebnis sein Comeback. Wie war das noch damals bei Klassenfahrten? Viel Zeit darüber nachzudenken, bleibt nicht. Keine Atempause, Termine sind gemacht — es geht voran.
Auf ein Kriegsgebiet allerdings waren wir nicht vorbereitet. Aber anders lässt sich das politische Washington bei unserem Besuch nicht beschreiben. Es ist der Kampf um die Gesundheitsreform. Das Thema Health Care zieht sich durch fast alle Gespräche: bei inländischen und internationalen Journalisten, bei Lobbyisten aus Politik und Religion.
Aufschlussreich aber auch das Begrüßungsessen mit ehemaligen U.S.-Teilnehmern und Freunden des RIAS-Austausches. Die amerikanische Medienbranche steuert durch harte Zeiten. Immer wieder hören wir Horror-Zahlen von Entlassungen selbst bei großen Sendern. Kein Wunder, dass da auch gestandenen Radiojournalisten Kameras mit zu ihren Terminen schleifen, um noch ein paar Videos für die Homepage zu drehen. Verweigerung gefährdet die berufliche Existenz.
SPRINGFIELD, MISSOURI
„Oh! Sie bleiben sechs Nächte? Das haben wir nicht so oft.“ Was hat die Überraschung der jungen Frau an der Hotel-Rezeption zu bedeuten? Es hat meine Mitreisende Ellen und mich doch immerhin in eine der größten Städte des Bundesstaates Missouri verschlagen. Die Zweifel sind unbegründet. Es soll eine schöne Woche jenseits der schrillen (New York) oder hyperwichtigen (Washington, D.C.) Metropolen werden. Eine Woche im Herzen des Landes.
Health Care — was sonst?
Nein, auch hier im Mittleren Westen kann man dem großen politischen Thema nicht entgehen. Unsere Hosts Missy Belote und Ed Fillmer haben uns zur Begrüßung zu einem zünftigen Essen eingeladen. Im Arbeitszimmer läuft der Parlamentskanal. Abstimmung über das Gesetz zur Krankenversicherungsreform, das in der Woche vorher das politische Washington elektrisiert hat. Jetzt steht also der Showdown an. Fünf Menschen starren gebannt auf einen Bildschirm, auf dem sich alle paar Sekunden die Ja- und Nein-Stimmen ändern. Es reicht! Obama hat die so oft beschworene Schlacht auf dem Capitolshügel gewonnen. Und in Springfield, Missouri, jubeln sie so, als hätte ihre Mannschaft gerade den Superbowl gewonnen. Zugegeben: für Missouri war das sicher an diesem Abend eine eher untypische Szene. Konservative Gegend ist noch eine etwas vorsichtige Umschreibung.
Was Health Care in der Praxis bedeutet, erfahren wir im Jordan Valley Community Health Center, einer öffentlichen Gesundheitsstation in Springfield. Hier bekommen auch die Menschen medizinische Versorgung, die keine Krankenversicherung haben. Denen bleibt sonst in einem der reichsten Länder der Welt nur der Gang in die Notaufnahme. Im Emergency Room darf niemand abgewiesen werden. Die Gesundheitsstation macht einen modernen, einladenden Eindruck. Vor allem Vorsorge wollen sie bieten, damit in Zukunft wenigstens manchen Kindern völlig abgefaulte Gebisse erspart bleiben. Viele Eltern schieben den Zahnarzt-Besuch auf, weil sie es sich einfach nicht leisten können.
Recht und Ordnung im Mittleren Westen
„Sündige ruhig mit Satan, aber dann brenn auch mit ihm in der Hölle!“ Die Schilder am Straßenrand hat kein Diplomat gemalt. Ähnlich drastisch teilen Abtreibungsgegner ihre Sicht der Dinge mit uns, als wir über die Highways des Mittleren Westens rollen. Die Gegend ist nicht nur konservativ sondern auch religiös. Mega-Churches haben nicht nur die Ausmaße von großen Einkaufszentren, sie sind längst selbst Gebetshäuser mit angeschlossener Shopping Mall.
Besuch im College of the Ozarks, genauer gesagt in der Bäckerei. Hier sorgen sechs junge Studentinnen und Studenten dafür, dass die Backöfen unablässig den offenbar sehr berühmten Fruchtkuchen ausspucken. Arbeiten — ob in der Bäckerei, der Mühle oder im Kuhstall — gehört zum Campusleben dazu. Dafür müssen die Studierenden aber auch keine Studiengebühren bezahlen. „Ich bin froh, dass ich nach dem Studium nicht verschuldet bin. Das ist der große Vorteil hier“, erzählt eine der jungen Frauen. Dafür nehmen sie aber auch ein striktes Regelwerk in Kauf. Das Ziel der Ausbildung beschreibt die Uni so: „The vision of College of the Ozarks is to develop citizens of Christ-like character who are well-educated, hard-working, and patriotic.“ Was das so alles im Detail bedeutet, beschreibt das Studenten-Handbuch — belegt mit den passenden Bibelstellen. Für jegliche Form von gleichgeschlechtlicher Liebe drohen Strafen. Was wir zum Thema Politik hören, kann dann auch nicht mehr wirklich erstaunen. „Sarah Palin? Die finde ich gut. Die tut was für die kleinen Leute — im Gegensatz zu Obama.“ Selbst von gestandenen Republikanern hört man sonst meist nicht allzu viel Gutes über die Hockey-Mom aus Alaska.
Aber kaum fühlt man sich in seinen Erwartungen an Missouri bestätigt, kommt die Überraschung. Wir sitzen im Büro von Dave Coonrod. Er ist Vorsitzender des County Councils, vergleichbar also mit einem Landrat in Deutschland. Muss ja ein Republikaner sein hier in dieser Gegend. Von wegen — Coonrod ist Demokrat. Aber mit am Tisch sitzen mit Roseann Bentley und Harold Bengsch zwei Republikaner, auf die die Beschreibung Elder Statesmen prima passt. Reibungslos funktioniere die „große Koalition“, erzählen sie. Und es gibt keinen Grund daran zu zweifeln.
NEW YORK
Lobbyisten arbeiten geräuschlos und im Hinterzimmer. Diese nicht! Sie brüllen sich die Seele aus dem Leib. Andersdenkende müssen sich Kraftausdrücke anhören, die in diesem Bericht nicht schicklich wären. Es ist Amateurs Night im Stadtteil Harlem. Eine Talentsuche mit beeindruckenden Talenten. Schauplatz ist das ehrwürdige Apollo Theater. Fast ganz oben auf der atemberaubend steilen Tribüne kreischt eine Fangruppe den eigenen Schützling nach vorn. Auch eine Form von Demokratie.
Der Musikabend war der beste Beweis, dass immer wieder neue Erfahrungen warten, selbst wenn es schon der x-te Besuch in New York ist. So wie im Dokumentationszentrum von Ground Zero, der offenen Wunde der Stadt. Journalisten demonstrieren ja sonst gerne, dass auch in bittersten Katastrophensituationen auf ihren Zynismus und ihre Abgebrühtheit Verlass ist. Hier scheint so mancher aus der Gruppe mit den Tränen zu kämpfen. Wahrscheinlich habe ich mich nur getäuscht. Bei mir persönlich war es auf jeden Fall so. Die Abschlusswoche. Die Klassenfahrt ganz in voller Besetzung weiter. Und wieder Termine, Termine, Termine.
Versuch eines Fazits
Die Contradictory States of America verstehen zu wollen, muss scheitern. Es ist wie mit einem gigantischen Puzzle. Kaum hat man mal ein paar Teile zusammen gelegt und glaubt das Gesamtbild zu erkennen, kommt Teile-Nachschub.
Die RIAS-Kommission hat uns die Puzzle-Teile gleich eimerweise auf den Tisch gekippt. Von diesem großen facettenreichen Land viele neue Eindrücke gewinnen zu können — das ist die eigentliche Chance des RIAS-Programms. Es ist eine Einladung zum Staunen, Kopfschütteln und Hinterfragen der eigenen Vorurteile.
Dafür ganz herzlichen Dank an die RIAS-Kommission, besonders an den unermüdlichen Jon Ebinger: Organisator vor Ort, Reiseführer und nebenbei Hoherpriester der Dress-Sharp-Religion.
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Dr. Monika Hyngar, Norddeutscher Rundfunk, Hamburg
Eigentlich wollte ich über Religion schreiben, über Religion, Glauben und Überzeugung. Denn Luis Lugo hatte mich schwer beeindruckt. Der Chef des Pew-Forums faltete mit kubanischem Charme die religiöse Welt Amerikas vor uns auf. Was Gott in sieben Tagen schuf, das schaffte Lugo in 45 Minuten. Für mich ergab sich daraus ein Fazit: In der Welt Amerikas gibt es offenbar ein Gesetz: Es ist egal an was Du glaubst, Hauptsache Du glaubst. Das Schlimmste ist, wenn Du zu den 16,1 Prozent der Bevölkerung gehörst, die glaubenstechnisch betrachtet, nirgends hingehören. Denen gnade Gott…
Hier ein paar Zahlen mit denen mich Lugo beeindruckte: 26,3 Prozent der Amerikaner sind Evangelisten, dann kommen die Protestanten, Spanisch-Katholische, die Nicht-Spanisch-Katholischen und für mich sehr erstaunlich: nur 1,7 Prozent der Amerikaner gehören dem jüdischen Glauben an. Und dann die entscheidende Feststellung: „Wir Amerikaner trennen Religion und Staat. Ganz strikt.“ Aha. Das mag tatsächlich auf eine gewisse Art und Weise stimmen, aber anstelle der Religion treten, so scheint es mir, der Glaube und die Überzeugung.
Eigentlich wollte ich, wie gesagt, über Religion schreiben, aber die tägliche Debatte über die Gesundheitsreform überlagerte alles. Würde das Gesetz im Senat scheitern? Würden sich genug Demokraten bereit erklären, dafür zu stimmen. Es schien mir, als hätten alle ihre Fäuste geballt, solange noch nichts entschieden war. Dabei schien mir alles recht logisch: Die Unversicherten gehen Nachts in die Notaufnahmen, wenn es längst oder fast zu spät ist, sie lassen sich dort kostenlos behandeln, das kostet Unsummen, die der Staat übernimmt. Gibt man den Herzkranken, Diabetikern oder bloß Übergewichtigen hingegen eine medizinische Grundversorgung, bekommen sie beim Arzt Medikamente, Früherkennung und Prävention. Sie brauchen nicht halbtot in die Notaufnahme, sie kosten den Staat insgesamt weniger. Eigentlich logisch. Doch Logik ist nicht immer gefragt in der Welt der Gläubigen und Überzeugten, womit wir irgendwie wieder beim Thema Religion sind.
Und unserem Treffen mit Mitgliedern der Republikaner-nahen Stiftung „Heritage-Foundation“. Man ist gegen die Reform, auch wenn es gute Argumente dafür gibt. „Kennen Sie eigentlich jemanden persönlich, der keine Versicherung hat?“ frage ich. Die Antwort ist ausweichend. „Wir wollen keinen Sozialismus“, das Totschlagargument, der Staat soll sich nicht einmischen, keine Regulierung — bloß nicht zuviel Staat.
Dabei gibt es in den USA vieles, das mich an Sozialismus erinnert. Da ist zum Beispiel das Einchecken bei Delta. Schlangestehen, um die Bordkarte zu drucken, neu anstellen, um einzuchecken, zurück in die Schlange, um das Gepäck aufgeben und wieder Anstellen zur Sicherheitskontrolle. Nach einer Weile hat man eine soziale Bindung zu seinen Mitreisenden und kennt alle Schimpfwörter. Ein bisschen wie früher Zucker und Wodka kaufen in der Sowjetunion. Oder der Schalter am Flughafen von Cincinatti. Der einzige Schalter, an dem man ein Taxi bestellen kann. Man bezahlt im Voraus und geht mit Nummer und Quittung zum Taxistand. Das nennt man wohl Überregulierung.
Überhaupt scheint mir das Land geprägt durch viele Widersprüche. Hauptsache ist aber, man glaubt an etwas. Unsere Hosts sind zauberhaft freundlich und in der Frage der Gesundheitsreform ebenso gespalten. Laure — eine unserer Gastgeberinnen, eine demokratische Abgeordnete, ist für die Reform. Ihr Mann dagegen, Chris, mein zweiter Host, eher unentschieden, sich fragend, wie es ihn wohl betrifft.
Montag gehen wir mit Chris zur Arbeit. Er ist Kameramann bei WLWT Channel 5. Das Topthema: Die Gesundheitsreform ist verabschiedet. Wir fahren raus, besuchen eine Klinik, sprechen mit Medizinern. Alle sind dafür. Der Tagesreporter Brian fragt mich aus: wie ist es bei euch und warum funktioniert es in Deutschland und nicht bei uns?
Ich lerne: Menschen können ihre Versicherung nicht mitnehmen.Wenn sie ihren Job wechseln, verlieren sie ihren Status und fast immer verlieren sie ihren Schutz, wenn sie ernsthaft erkranken. Ich frage mich nun ernsthaft, wozu ich dann eine Versicherung brauche. Und dann die Prämienerhöhungen — manche Versicherungen erhöhen um 50 Prozent im Jahr, erzählt Brian. Wovor dann noch Angst haben?
Aber es geht eben nicht um Argumente, sondern um das, woran man glaubt. Cinncinati macht Spaß: da ist das deutsche Viertel, das wieder restauriert wird, das Tuckers-Restaurant. Eine recht hässliche Gardine verwehrt den Blick auf ein Diner, in dem die Zeit stehen geblieben ist. Hier gibt es Bratkartoffeln, Ham-Scheiben beträchtlichen Durchmessers und Frieden. Tuckers liegt eigentlich in einem noch nicht befriedeten Teil des Viertels. Aber trotzdem hat es hier noch nie eine Schießerei gegeben. Keiner mag auf das Tuckers verzichten, die Spiegeleier sind zu gut. Ich wette, die Tuckers haben keine Krankenversicherung…
Channel 5 ist spannend, der Wettermann unfassbar professionell und der Moderator trägt Toupet und ein schmieriges Lächeln im Gesicht. Ich fühle, das ist das wahre Amerika. Am letzten Tag will ich unbedingt die „Amish People“ sehen. Denn eigentlich will ich ja die über Religion schreiben. Wir fahren Stunden und sind überrascht: Die habe alles: Strom, Handys, Autos. Den Pferdekarren sehe ich nur auf einem Schild. Dann zahle ich noch ein Vermögen für Amish-Kekse aus der eigenen Bäckerei. Es geht wohl doch nicht nur allein um Religion, Überzeugung und Glauben, sondern ziemlich oft auch ums Geld.
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Dr. Alex Jakubowski, Hessischer Rundfunk, Frankfurt/Main
Cpt. America sagt: „Kill the bill“
Es ist ein Superheld, der da vor dem Capitol steht. Nein, nicht Barack Obama — ganz im Gegenteil. Ein Demonstrant hat sich als Cpt. America verkleidet und schwenkt das Star Spangled Banner. Drei Fernsehteams drehen das einprägsame Bild. Superheld und Fahne sind doch die Symbole für den amerikanischen Kampf gegen Unterdrückung und den Einsatz für Gerechtigkeit. Schade nur, dass dieser Cpt. America einen mächtigen Bierbauch hat und sich sein Freiheitskampf ausgerechnet gegen den amerikanischen Präsidenten richtet.
An diesem schönen Samstag im März schwenkt Cpt. America nicht nur seine Fahne, er brüllt auch mit zehntausenden anderen Demonstranten auf dem Capitol Hill: „Kill the bill“. Die anwesenden — meist konservativ orientierten — Amerikaner wollen damit Obamas Gesetzesvorlage zur Gesundheitsreform bekämpfen. Die Healthcare-Reform ist bisher der wichtigste Meilenstein in Obamas Amtszeit. Klar, dass uns das Thema schon die gesamte Woche in Washington begleitet.
Auf dem Mäuerchen am Rande des Demonstrationsplatzes sitzt Mary Dell-Onley. Auch die Rentnerin aus Chicago schreit unablässig „kill the bill“, wahlweise auch „keep fighting“ oder „don’t slaughter the constitution!“. Sie brauche keine Krankenversicherung, erläutert mir Mary. Wenn sie krank werde, gehe sie zum Arzt und bezahle die Rechnung. Wenn nötig auch in Raten, bis zu zwei Jahre lang.
Sie nickt verständnisvoll als ich einwende, in Deutschland könne man die Kritik vieler an der Gesundheitsreform nicht verstehen. Viele ihrer Vorfahren hätten Deutschland und Europa eben verlassen, um es anders zu haben, sagt sie darauf hin. So sei das eben auch jetzt. Den Sozialismus, den Obama wolle, lehnten Mary und die zehntausend anderen eben ab.
Unter Sozialismus verstehe ich zwar etwas anderes, doch das will Mary nicht hören. Hier endet ihr Verständnis für mich dann doch. Darüber wundere ich mich genauso, wie über die vielen Plakate, die den amerikanischen Präsidenten mit Hitlerbärtchen zeigen. Die Form des Protestes hier geht ins Extreme — wird dabei auch immer wieder pathetisch. Etwa dann, wenn wiederholt die Nationalhymne gesungen oder gemeinsam aus der Verfassung zitiert wird.
Mir fällt ein, dass ich meine persönliche Erfahrung mit dem amerikanischen System gleich am ersten Tag gemacht habe. Weil mir im Flug nach Washington ein Gold-Inlay herausgefallen ist, teste ich den Dentist in Washington. Eine halbe Stunde und 270 Dollar später kann ich wieder kauen. Ob ich versichert bin ist dem Arzt egal, hauptsache ich zahle cash.
Die goldene Plombe sitzt, ich kann es mir also wieder leisten, während der Demo mit offenem Mund da zu stehen. Denn in der Tat bin ich fassungslos. So viel Ärger, fast schon Hass macht sich hier gegen Obama und seine Reform breit. Jeder Abgeordnete, der aus dem Capitol kommt, um vor den Demonstranten zu reden, wird frenetisch bejubelt. Noch größer wird die Begeisterung, als sich ein sichtlich alt gewordener Schauspieler seinen Weg durch die Menge bahnt: John Voigt, Vater von Angelina Jolie wird gefeiert — er sei doch der einzige Hollywood-Schauspieler, der sich im Moment offen für die Republikaner einsetze, erklärt mir Mary. Mir fällt da noch so ein Österreicher ein, aber egal…
Mary jedenfalls wischt sich noch schnell eine Träne aus den Augen — das Singen der Nationalhymne hat sie zu sehr gerührt — um gleich wieder in den „Kill the bill“-Chor einzustimmen. Sie schäme sich nicht für ihre Emotionen, sagt sie, sie schäme sich für ihr Land und das, was Obama den USA antue.
„Katrina“ und die „Saints“
Es ist der letzte, aber wirklich starke Eindruck, den ich nach einer Woche aus Washington mitnehme. In New Orleans, wo ich meine Station-Week verbringe, steht das Thema Health Care nicht mehr so prominent auf der Agenda.
Bei meinem Gastsender FOX8News beherrschen Tote und das Wetter die Sendungen. Meine Gastgeberin Jennifer hat mir ein ähnliches Programm zusammen gestellt, wie zuvor in Washington: Gespräche bei TV-Sendern, Zeitungen, Wiederaufbau-Projekten und, und, und. Schnell wird mir klar, dass drei Themen New Orleans beherrschen: Katrina, die Saints und die Korruption.
Am Dienstag fahre ich also zu einem investigativ arbeitenden Internet-Magazin. Die Kollegen bei „The Lens“ passen problemlos in einen Raum. Die Redaktion besteht aus vier Mitgliedern. Nach fünf Minuten Redaktionssitzung fragt mich Karen Gadbois, ob ich sie begleiten wolle. Sie hat vor, raus an den See zu fahren. Dort will sie Fotos machen von einem Pumpwerk, bei dem die Stadt seit einem Jahr pfuscht.
Backdoor-policy sagt Karen, das sei ihr Thema. Langsam begreife ich, was sie damit meint. Denn während wir in ihrem Auto durch die „damaged-areas“ fahren, sehe ich das Ergebnis der Naturkatastrophe noch immer. Auch fünf Jahre nach dem großen Hurrikan und der noch größeren Flut, sehen die Überflutungsgebiete aus, als wäre das Wasser eben erst abgelaufen. Bis übers Dach habe das Wasser gestanden, erklärt mir Karen. Ich erinnere mich zwar an die Fernsehbilder von damals, vorstellen aber kann ich mir das heute trotzdem nicht mehr.
„Sie kassieren das Geld von der Versicherung und machen sich dann aus dem Staub,“ erklärt mir die Kollegin. „Bei Privatleuten mag das ja noch angehen“, sagt sie. Aber bei öffentlichen Gebäuden, die auch noch Fördermittel von der Stadt bekommen? Das gehe gar nicht.
Karen ist eigentlich Schauspielerin, Anfang 60. Von Journalismus hat sie eigentlich keine Ahnung, aber nach dem Hurrikan packte sie die Wut. Immer wieder dokumentierte sie in ihrem Blog, welche Gebäude verfallen, obwohl öffentliche Mittel vergeben wurden. „Ich wollte nur darauf aufmerksam machen, gar nicht bewerten.“ Karen wundert sich noch jetzt, welche Entwicklung ihr Blog danach genommen hat. Ihre Versuche, das Thema bei örtlichen Medien unterzubringen, scheiterten. Bis ein Reporter von der Washington Post bei ihr anrief.
„Seitdem hat sich alles geändert“. Karen sagt das fast ohne Emotion. Obwohl sie inzwischen eine kleine Berühmtheit ist. Der Kollege von der Washington Post nannte Karen als Koautorin und diese wurde auf einmal mit Journalistenpreisen überhäuft. Danach war klar: Journalismus wird ihre Hauptbeschäftigung.
Wir sind inzwischen beim Pumpwerk angekommen. Vorbei am alten Wohnhaus von Fats Domino und hunderten verfallenen Häusern, stehen wir mittlerweile an einem Pumpwerk. Der Zaun drum herum ist notdürftig geflickt. Auf dem Rasen vor der Anlage liegen zwei große Metallteile. Danach hat Karen gesucht. Schnell macht sie mit ihrem Handy ein paar Fotos der defekten Pumpen. Aus dem Auto steigt sie lieber nicht — „bad area“ — so ihre Begründung.
Während ich mich noch wundere, fährt Karen wieder los und beginnt eine dreistündige Stadtrundfahrt. Nur für mich! Es ist eine dieser beeindruckenden Erfahrungen, die ich vor allem in meiner New-Orleans-Woche mache: Eine Frau, die ich vor wenigen Minuten zum ersten Mal gesehen habe, nimmt sich mehrere Stunden für mich Zeit und zeigt mir halb New Orleans. Die ein oder andere Geschichte aus ihrem Leben darf ich mir auch anhören — mir gefällt das.
Im French Quarter lässt mich Karen anschließend raus. Ein paar Tipps für das musikalische Nachtleben gibt es noch oben drauf. Lächelnd winkt sie mir zu und fährt weiter.
Amateurs Night
Rund eine Woche später, im New Yorker Nachtleben. Wir haben den offiziellen Tag heute beendet und sind im privaten Teil angekommen… Vor dem legendären „Apollo Theater“ stehen die Leute Schlange. Die Amateurs Night hat auch ein paar „fellows“ von uns zu sich gelockt. Keiner weiß so richtig, was nun kommt. Von Stand-up-comedy ist die Rede, andere glauben, wir würden eine Jam-Session sehen. Was dann folgt ist — mit einem Wort — unglaublich.
Die amerikanische Variante von „Deutschland sucht den Superstar“ schlägt alles, was wir in „good old Germany“ diesbezüglich so kennen. Perfekt singende Neunjährige, ein Schlagzeug spielender Wunderknabe — und das schon im Vorprogramm.
Die erwachsenen Teilnehmer an der Hauptshow könnten bei uns längst die Hitparaden anführen, so perfekt sind Gesang und Ausdruck. Komisch, dass in Deutschland so wenig Talent zu sehen ist. Doch abseits der Bühne geht die wahre Show ab. Da jeder Teilnehmer seine Fans zu Dutzenden mitgebracht hat, wird gebuht, gejohlt und geklatscht, was das Zeug hält — und das oft, bevor überhaupt der erste Ton gesungen ist.
Zwei Reihen vor uns steht der Krawallmacher Nummer Eins. Man muss richtig Angst haben, dass der Mann nicht über die steile Brüstung stürzt. Immer wieder wirft er sich ins Zeug. Der Oberkörper bebt, er wirft die Hände nach vorne. „Buh, buh, buh, stop it. Go home.“ Er schreit so laut, dass wir trotz der wahnsinnig lauten Saalbeschallung kaum verstehen, was da gerade auf der Bühne gesungen wird.
Das Spektakel dauert einige Stunden. Aber der Frontkämpfer drei Reihen vor uns lässt einfach nicht nach. Sein Hemd klebt bereits am Körper, der Schweiß tropft ihm von der Stirn. Da helfen auch die Getränke kaum, die ihm seine Freunde in regelmäßigen Abständen durch reichen.
Am Schluss wird sein Engagement belohnt. Seine Favoritin landet sogar auf Platz zwei und kommt eine Runde weiter. Halb taub und wahnsinnig beeindruckt geht für uns der Abend zu Ende. Und mit der Erkenntnis: Die Staaten sind einfach anders — aber beeindruckend!
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Kerstin Klein, Norddeutscher Rundfunk, Köln
Es ist DER Abend. Der Abend, an dem das U.S.-Repräsentantenhaus über die Gesundheitsreform von Barack Obama abstimmt. Über die Reform also, um die unsere erste RIAS-Woche in Washington ständig kreiste. „You are here at a historic time. It’s a very important battle, that’s most interesting to witness“, wie es Mike Gonzalez, stellvertretender Leiter der Kommunikationsabteilung der konservativen Heritage Foundation, auf den Punkt brachte. Und zwar in jeder Hinsicht. Denn nicht nur war die Entscheidung, die anstand, eine von historischer Reichweite, sondern die Auseinandersetzung darüber kam tatsächlich eher einer ideologischen Schlacht gleich denn einem inhaltlichen Diskurs über das bestmögliche Gesundheitssystem.
Als unser RIAS-Programm begann, hatte der Präsident gerade eine geplante Asienreise verschoben, um in der Hauptstadt zu sein für den Showdown, an dessen Happy End die Demokraten um Nancy Pelosi und Obamas Stab im Weißen Haus unter Hochdruck arbeiteten. Kriegen sie die Mehrheit oder nicht? — Diese Frage bestimmte die politische Agenda so sehr, dass es in all unseren Gesprächen Thema war, sogar in jenen wie dem mit der Washingtoner CNN Kollegin Pam Benson, die sich beruflich eigentlich ausschließlich mit der nationalen Sicherheitspolitik beschäftigt. Aber für Fragen der nationalen Sicherheit schienen sich in unseren drei Wochen weder die Medien noch die Öffentlichkeit besonders zu interessieren — mehr als erstaunlich angesichts des Stellenwerts, den dieses Thema unter normalen Umständen in den USA hat. Aber es waren eben keine normalen Zeiten; politisch herrschte Ausnahmezustand: „Health Care“ machte mehr oder weniger jedes andere Thema platt.
Nun also war der Abend der Abstimmung gekommen. Die Demokraten hatten am Vortag die nötige Mehrheit zusammengetragen, weil eine Gruppe konservativer Demokraten um den Michiganer Abgeordneten Bart Stupak auf die „„Ja“ -Seite wechselte, nachdem der Präsident zugesagt hatte, sogleich nach Verabschiedung des Gesetztes eine Ergänzung zu unterzeichnen, die sicherstellt, dass kein Staatsgeld für Abtreibungen verwendet wird. Daher lief an diesem Sonntag seit Stunden die Debatte im Repräsentantenhaus, bei der die Republikaner erneut versuchten, die Entscheidung zu verhindern oder zumindest so lange wie möglich hinauszuzögern. Es war der Sonntag zwischen Washington-Woche und station week, ein Reisetag also. Ich durfte meine zweite Woche in Atlanta verbringen, und als ich dort ankam, lief die Debatte noch immer ohne dass ein Ende in Sicht war.
Und so stand ich am frühen Abend im Keller des „Hampton Inn“ auf dem Laufband und schaute die Liveübertragung auf CNN. Den Herrn neben mir, vermutlich ein U.S.-amerikanischer Geschäftsmann, hatte ich gefragt, ob es ihn störe, wenn ich die Debatte anschaltete. Seinen Kommentar zischte er durch zusammengekniffene Zähne: „That only makes me angry!“ Eine durchaus repräsentative Reaktion, denn wann immer man während der USA-Wochen mit Bürgern jenseits politischer oder Medieneliten sprach, stieß man auf eine breite Ablehnung der Reform. Die Hauptangst: Dann muss ich ja mehr zahlen, und zwar die Zeche anderer Leute! Der Gedanke, dass man selbst einmal in eine Situation kommen könnte, in der man auf die Solidarität anderer Menschen angewiesen ist, schien nichtexistent. Mit der Information, dass bei uns in Deutschland auch Arbeitslose über die Gemeinschaft mitversichert seien, habe ich einen Washington-Touristen aus Pennsylvania regelrecht geschockt — und vermutlich noch mehr gegen die U.S.-Gesundheitsreform aufgebracht.
Die Debatte im U.S.-Repräsentantenhaus wurde dann zu einem Paradebeispiel für politische Debattenkultur und Rhetorik in den Vereinigten Staaten. Der Höhepunkt: Die Abschlussreden von John Boehner, dem republikanischen Minderheitsführer im Repräsentantenhaus, und Nancy Pelosi, der Sprecherin der demokratischen Mehrheit. Beide bezogen sich lehrbuchartig auf die Gründungsideale und die Werte der „Founding Fathers“ der USA — um dann von diesem Ausgangspunkt aus jeweils das komplette Gegenteil herzuleiten.
Kurz vor 23 Uhr Ortszeit war das Gesetz dann endlich verabschiedet, aber das Thema blieb uns auch die zweite und dritte Woche erhalten. Mir zum Beispiel gleich am nächsten Morgen, meinem ersten Tag bei CNN, einer Nachrichtenmaschine, die noch viel größer ist, als ich es vermutet habe. „„Health Care“ beherrschte die Schlagzeilen, und es war schon ein besonderer Moment, als am Dienstag während des Mittagessens in der Kantine live die Unterzeichnung des Gesetztes durch Barack Obama übertragen wurde — mit allem Tamtam, der in Amerika zu einer solchen Zeremonie gehört, wie z.B. dem kleinen Jungen, der nun Dank der Gesundheitsreform endlich eine Behandlung für seine Krankheit erhält, und der symbolträchtig neben Obama stand, während dieser seine Signatur mit gleich zwanzig verschiedenen Stiften darunter setzte.
Nicht nur in diesem Moment wurde ganz viel von dem, was ich in Amerikanistik- und Politikstudium gelernt, in Zeitungen gelesen oder im Fernsehen gesehen habe, lebendig und erfahrbar. Auch in vielen anderen Gesprächen und Begegnungen in diesen drei Wochen — zum Beispiel beim Besuch der Hoboken High, dem Vortrag von Luis Lugo vom Pew Forum oder dem Gespräch mit dem deutschen Botschafter Klaus Scharioth — wurde mein Bild von den USA noch konkreter und aktueller. Eine unschätzbar wertvolle Erfahrung, für die ich mich herzlich bedanke!
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Martin Mausbach, Westdeutscher Rundfunk, Köln
Um es gleich am Anfang geschrieben zu haben: Diese drei Wochen waren spektakulär, aufregend, spannend, informativ, unterhaltsam, manchmal auch anstrengend, aber jedem, der es irgendwie ermöglichen kann, dringend zu empfehlen! Eine sehr nette Gruppe interessanter und neugieriger Kollegen, ein kundiger und stets hilfsbereiter „Reiseleiter“ vor Ort und ein sagenhaft abwechslungsreiches Programm, das die RIAS-Kommission für uns vorbereitet hat.
„USA in Zeiten von Obama“ — so der offizielle Titel unserer Mission, und wir bekamen sehr schnell eine Ahnung, dass das Ansehen des Friedensnobelpreisträgers im eigenen Land bereits ordentlich gelitten hat: „Ihr aus Europa findet Obama alle toll, aber er bedroht die Fundamente unserer Nation,“ ereifert sich Scott, ein Rentner aus der Nähe von Washington, D.C., den ich bei einer Demonstration gegen die Gesundheitsreform vor dem Kongressgebäude treffe. Dort suchen die Demokraten gerade eine Mehrheit für das Gesetz, das fast allen Amerikanern eine Krankenversicherung geben soll. Eine tolle Sache, sollte man eigentlich meinen. Die fast ausschließlich weißen Demonstranten sehen das etwas anders „„Kill the bill,“ „Obama spoke, now I’m broke,“ „Obama Socialist“ und manch unfreundlicher historischer Vergleich prangen auf Schildern und T-Shirts der knapp 3000 Reformgegner. Die Stimmung ist aufgeheizt, hin und wieder versuchen sie mit Sprechchören durch die dicken Mauern des klassizistischen Kongressgebäudes hindurch die Verhandlungen im Innern zu stören. Scott ist mit seinen 68 Jahren zum ersten Mal in seinem Leben bei einer Demonstration, ein durchaus bedächtig und gebildeter Mann, wie mir scheint. Aber hier am Capitol ist er wütend, er glaubt, eine Krankenversicherung sei Privatsache, der Staat habe sich da gefälligst rauszuhalten. Kurioserweise eine Ansicht die laut Umfragen auch von vielen Amerikanern ohne Krankenversicherung geteilt wird. Wenig überraschend die Haltung der Heritage Foundation: Die konservative Denkfabrik unweit des Kongressgebäudes ist voll auf Linie der Reformgegner, nur drücken sich Matt Streit, Mike Gonzales und Brian Darling ein wenig gewählter aber nicht minder wortgewaltig als die Demonstranten aus: „Amerika will diese Reform nicht, wir wollen sie nicht, und Kompromisse sind nicht möglich.“ Wir fühlen uns herausgefordert, versuchen, unsere Gesprächspartner zu überzeugen, vergebens. Diesen argumentativ und rhetorisch perfekt geschulten PR-Profis sind wir nicht ganz gewachsen. Muss aber auch nicht sein, viel wichtiger die Erkenntnis: auf die gleiche Art und Weise werden auch Kongressabgeordnete und deren Mitarbeiter „bearbeitet“, sowohl Republikaner als auch Demokraten.
„Education“ nennt das Darrell West. Er ist stellv. Direktor des Brooking Institutes, einem liberalen Think Tank, und macht das Gleiche wie seine konservativen Kollegen: Er sammelt Argumente und versucht, Politiker und Journalisten zu überzeugen, allerdings vom Nutzen der Gesundheitsreform. Bei uns ist er erfolgreich, mit Humor und Charme sorgt er für eine launige Gesprächsatmosphäre, in der wir vergessen, auch mal kritische Nachfragen zu stellen. Wieder etwas gelernt. Für kritische Töne sorgen ohnehin die regierungsfeindlichen TV-Stationen, ein Sender wie Fox bemüht sich erst gar nicht um Neutralität. Experten wie Moderatoren wettern gegen die Reform, der finanzielle wie ideelle Kollaps der USA stehe nahe bevor, glaubt man dem konservativen Sender. Propaganda gibt es auch von der Seite der Befürworter, nur scheint mir die publizistische Macht doch recht einseitig gegen die Reform verteilt zu sein.
Was die Gesundheitsreform in der Praxis bedeuten würde, erfahre ich bei meiner Station in Eugene/Oregon (außerdem war ich in Portland, in beiden Städten ein wundervoller Aufenthalt!): Im städtischen Krankenhaus, das auf meiner Besuchsliste steht, platzt die Notaufnahme aus allen Nähten. Neben den Notfällen lassen sich hier all die behandeln, die keine Krankenversicherung haben. Das sind gut 20 % der Patienten. Hier in der Notaufnahme müssen sie behandelt werden, zahlen muss das die Stadt. Diese Kosten kann sich Eugene künftig sparen, denn Obama gelingt es, auch die Gegner in seiner eigenen Partei zu überzeugen: Die Reform passiert den Kongress. Die Demonstrationen waren letztlich umsonst, nicht für mich, das war ein authentischer und naher Eindruck eines für mich bislang recht fremden Amerikas und wohl auch nicht für Scott, der mit 68 Jahren noch einmal auf die Straße ging, um für seine Überzeugung zu kämpfen. Nach unserem Gespräch übrigens war er wieder ganz friedlich — wir haben uns zum Abschied umarmt.
Noch ein paar persönliche Anmerkungen und Tipps:
Das RIAS-Team versorgt einen von Anfang an umfassend und fürsorglich mit allen Informationen, bucht die komplette Reise, man muss sich wirklich keine großen Gedanken über die Abläufe des Stipendiums machen, alles ist perfekt organisiert, und Rückfragen werden stets freundlich und prompt beantwortet, ein großes Dankeschön! In den USA übernimmt diese Rolle dann mindestens so gut Jon Ebinger, der einen vom ersten Morgen an freundlich und kenntnisreich begleitet.
Mich hat vor der Reise insbesondere die Frage umgetrieben, was ich an Kleidung mitnehme: Tagsüber bei offiziellen Gesprächsterminen ist Anzugpflicht („Dress sharp!“), jedoch interpretieren das viele Amerikaner recht großzügig für sich, Hauptsache die Form stimmt, der Schnitt und farbliche Komposition sind dann Geschmackssache. Zwei Anzüge, vier Hemden, zwei Krawatten haben mir locker gereicht, angesichts der erlaubten 23 Kilogramm Gepäck sollte man mit der üblichen Garderobe ebenfalls sparsam sein, in der zweiten Woche ist Zeit zum Waschen, außerdem will man ja ein paar Souvenirs mit nach Hause bringen.
Was sich für mich sehr bewährt hat, ist ein kleines Netbook, mit dem ich in allen Hotels per WLAN zu den anderen Fellows und per Skype mit der Heimat Kontakt hielt. Gibt aber auch in allen Hotels freizugängliche und kostenlose Rechner inkl. Internet. Nicht gebraucht habe ich ein amerikanisches Handy, das ich noch von einer früheren Reise hatte.
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Vivienne Radermacher, Westdeutscher Rundfunk, Köln
Von Flip Flops bis Fellboots
Wenn man in den USA im Flugzeug unterwegs ist, kann die Bandbreite der Schuhbekleidung schon enorm sein. Ein Synonym auch für die amerikanische Vielfalt der Charaktere.
Die Studentin der Musikwissenschaft Susan links neben mir kommt gerade aus Seatlle und ist ganz stolz auf ihre neuen Ugg-Boots .Gerry rechts von mir hat seine Businessschuhe gegen Flip Flops gewechselt und ist auf dem Weg nach Hause nach San Antonio.
Das ist auch mein Ziel nach einer Woche mit spannenden Leuten und tollen Gesprächen in Washington und dem Hauptthema dieser Woche: der Health Reform.
Orphelia und Ismail
Rund um das „texanische Heiligtum“ The Alamo — das heißumkämpfte Fort aus dem Jahre 1835 — hat sich die siebtgrößte Stadt der USA entwickelt mit 1.256 Millionen Einwohnern, geprägt vom mexikanischen Einfluss. Die Grenze ist nur 2,5 Stunden entfernt und Laredo , die Grenzstadt, dann auch mein erstes Ziel nach zwei Tagen Programmbeobachtung bei der lokalen Ausgabe von Fox News.
Ophelia und Ismail, die Schwiegereltern meiner „Host“ Yami, treffen mich am früheren Rathaus im Zentrum von Laredo. Sie sind vor 55 Jahren aus Mexiko gekommen, haben jeden Job gemacht und hart geschuftet, um ihren 3 Kindern eine bessere Zukunft zu bieten. Und alle drei haben einen Universitätsabschluss als Arzt, Lehrer und Ingenieur. Ihr kleines schmuckes Haus ist voll gestellt mit Fotos ihrer Kinder und Enkelkinder. Damals war Laredo ein Paradies, sagen sie. Heute sei der Ort nur noch geprägt von billigen Chinaläden, Schießereien seien an der Tagesordnung, vor allem zwischen den Leuten der Drogenmafia.
Ich stehe mit Orphelia an einem der hochgerüsteten Checkpoints. Die Grenze zieht sich direkt durch die Stadt und auf den drei großen Brücken über den Rio Grande sind Befestigungsanlagen gebaut mit Wachtürmen, Kameras und Spiegeln, die unter die einreisenden Autos geschoben werden.
Orphelia zeigt auf die Autoschlagen auf der mexikanischen Seite. Die müssen ca. 4 Stunden warten, bis sie ein Tagesbesuchsvisum bekommen, sagt sie. Die anderen kommen nachts, schwimmen über den Fluß, da helfen alle Kontrollen nichts. Auf meiner Rückfahrt nach San Antonio, eine halbe Stunde von Laredo entfernt, ist der Highway plötzlich gesperrt und ich werde an einen Kontrollpunkt geleitet. „You are on your own?“ fragt mich der Beamte und schaut auf meine leere Rückbank.
Jimmy und Carrie Sue
Zurück in San Antonio in einer der ältesten Bars der Stadt: Mi tierra, mi familia — Mein Land, meine Familie. Ihr Land haben sie verlassen für das gelobte Amerika, aber wenigstens ihre Familie, ihre Kinder sind durch die Geburt richtige Amerikaner.
In den vielen Kriegen der Amerikaner sind es zum großen Teil die Immigranten, die die Fahne der USA verteidigen. So auch Jimmy, Kind von Einwanderern aus Ecuador und Soldat seit seinem 18. Lebensjahr. Mehrere Jahre war er im Irak. Ob er oft in gefährlichen Situationen war, frage ich ihn.
Es war interessant antwortet er ausweichend und seine Frau Carrie Sue erklärt mir, dass er erst seit zwei Wochen über seine Jahre im Irak erzählt — seit er den Dienst quittiert hat, um nicht nach Afghanistan zu müssen, arbeitet er wie seine Frau in einer Nachtbar .
Beide haben keine Krankenversicherung und etwas entschuldigend bekennen sie sich Republikaner zu sein. Würden sie in Europa leben oder in Deutschland wären sie wohl grün, meinen sie.
Chuck und Cathy
Was wäre ein Besuch in Texas, ohne eine richtige Ranch gesehen zu haben? Zweieinhalb Stunden liegt die Kings Ranch von San Antonio entfernt, weltweit eine der größten.
Die Geschichte der Kings Ranch war die Vorlage für den Film-Giganten mit Elizabeth Taylor, James Dean und Cary Grant. Acht Dollar kostet die Bustour, die meist Rentner über die 3340 km2 kutschiert, vorbei an den Rindern, den Quaterhorses. Aussteigen verboten und die ganze Veranstaltung entbehrt nicht einer gewissen Komik: Nur einmal dürfen wir raus, bekommen den 80-jährigen Cowboy Alberto Trevino in einem Blockhaus vorgeführt. Er spult brav sein Programm runter und erklärt uns die verschiedenen Brandzeichen, Fragen unerwünscht.
Die meisten der Pensionäre aus Illinois oder Ohio sind begeistert, nur Chuck und Cathy schütteln wie ich den Kopf. Die beiden sind mit ihrem RV von Oregon bis nach Texas hinunter gefahren. RV steht für Recreation Vehicle.
Zehntausende von Kilometern haben sie in den letzten 8 Jahren auf dem Tacho, seit sie ihr Haus verkauften. Die Steuern und die Abzahlungen hätten ihnen die Haare vom Kopf gefressen, erklären sie mir. Ohne die Meldepflicht in den USA sind sie steuerlich jetzt nicht mehr zu erfassen. Ihre Post lassen sie mal zur Tochter mal zum Sohn schicken. „Unsere Heimat haben wir immer bei uns, da fehlt uns nichts.“ Doch dann beginnen sie doch etwas wehmütig von Oregon zu erzählen, von ihren Nachbarn, von ihrem früheren Garten. Die Freiheit hat eben immer ihren Preis.
Nach einer Woche „Station“ hab ich mich dann doch sehr gefreut aufs Wiedersehen mit den anderen Fellows in New York und ihren Erfahrungsberichten von Seattle, Spartanburg oder Fort Myers. Und wieder war die Woche voll von interessanten Gesprächen und Begegnungen. Danke dafür!
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Dr. Sandra Theiß, Zweites Deutsches Fernsehen, Mainz
Journey to the Gentle Giant
Alice, Trixie, Taruko und Yushan — so heißen die vier Walhaie, die vor meinen Augen durch das Wasser gleiten. Neben ihnen Hammerhaie, Mantarochen und all die anderen imposanten Wesen, die man so selten im offenen Meer zu Gesicht bekommt. Die meisten sehen freundlich aus, bis auf die Sandtigerhaie. Mit ihrem leicht geöffneten Maul und den kreuz und quer stehenden Zähnen wirken sie eher bedrohlich, geborene Jäger. Ein bisschen mulmig wird mir schon zumute, wenn ich sie betrachte. Eine mehrere Zentimeter dicke Scheibe trennt mich von ihnen — noch. Eine Stunde später ist es soweit: Ich sitze im Tauchanzug am Beckenrand. Wir sind eine Gruppe von sieben Leuten, mit dabei: drei Security-Taucher. Sie haben gut einen Meter lange Plastikstöcke dabei, um im Notfall eingreifen zu können. Mein mulmiges Gefühl sieht sich bestätigt und ich frage mich, ob sich so ein drei Meter langer Sandtigerhai tatsächlich von einem, wenn auch großen, aber eben einem Plastikstock beeindrucken lässt. Ich verdränge den Gedanken und wage den Sprung ins kühle Nass. Ist man erst einmal mittendrin, ist alles ganz anders, als es von außen aussieht: Die scheinbar so gefährlichen Sandtigerhaie sind harmlos, sie schwimmen trotz des bedrohlichen Erscheinungsbildes friedlich durch das Becken, aggressive Bewegungen kann ich an ihnen nicht feststellen. Nach wenigen Momenten im Wasser ist das mulmige Gefühl verflogen. Ganz anders ist es mit den Riesenzackenbarschen: Dick, rund und so langsam, wie sie sich bewegen, wirken sie völlig harmlos, Zähne sind nicht einmal zu sehen. Irgendwann kommt einer von ihnen auf mich zu. Er ist nur knapp zwei Meter von mir entfernt und nähert sich langsam. Plötzlich ist es wieder da, das mulmige Gefühl. Instinktiv drehe ich mich langsam ab und bewege mich in eine andere Richtung. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass die Security-Diverin die Hand schon um den Stock geschlossen hat, bereit ihn aus der Halterung zu ziehen. In dem Augenblick dreht auch der Fisch ab und schwimmt davon. Als ich nach dem Tauchgang wieder vor der Scheibe stehe, betrachte ich die Sandtigerhaie mit anderen Augen — und auch die Riesenzackenbarsche.
Was das mit RIAS zu tun hat? Es war das Highlight am „fellows activity day“ während meiner einwöchigen Praktikumswoche in Atlanta, Georgia. Dort steht eines der größten Meeresaquarien der Welt. „Journey with Gentle Giants“ heißt das Tauchprogramm und irgendwie trifft der Titel — zumindest so ähnlich — auch auf die ganze Reise zu. Die Vereinigten Staaten von Amerika sind ein Gigant, von der Größe her und politisch sowieso, aber auch kulturell. Drei Wochen RIAS, das heißt eintauchen in eine „Neue Welt“. Eine Welt, die teilweise so ganz anders tickt, als das „Alte Europa“. Es gilt dasselbe, wie für das Aquarium: Ist man erst einmal mittendrin, stellt sich manches ganz anders dar, als man dachte. Immer wieder wurde unsere Gruppe von Fakten überrascht, die unser Bild von Amerika verändert haben. Ein Beispiel: Wieviel Prozent der amerikanischen Bevölkerung sind Juden? 1,7! Nein, das ist kein Tippfehler, hier ist nicht etwa ein Komma verrutscht. Es sind 1,7 Prozent. Das erfuhren wir beim PEW-Forum in Washington, einem Institut, das sich mit der Rolle der Religion in der Gesellschaft beschäftigt und uns mit dieser Zahl verblüfft hat. Die meisten von uns hatten eine weit höhere erwartet.
Das PEW-Forum hat noch eine weitere Überraschung für uns parat. Es geht um das Amt des Präsidenten. Das Institut hat in einer Umfrage herausgefunden, welcher Religion das Staatsoberhaupt aus Sicht der Amerikaner auf keinen Fall angehören sollte. Welche Religion — im weitesten Sinne — kann das wohl sein? Wir werden aufgefordert zu raten. Einige von uns tippen auf den Islam und denken dabei an 9/11. Wieder liegen wir falsch. Im höchsten Amt des Staates wollen die Amerikaner vor allem eines nicht: einen Atheisten.
Zugegeben, es kommt nicht oft vor, dass unser Bild von den USA deutlich an der Realität vorbeigeht. Wir alle sind Journalisten, beschäftigen uns beruflich immer wieder mit amerikanischen Themen. Es ist nicht leicht, uns zu überraschen. Aber darum geht es auch nicht. Es geht vielmehr darum, das Bild, das man hat, zu begreifen. Zu verstehen, warum der andere so denkt, wie er denkt.
Am deutlichsten wurde das beim Thema Gesundheit. Ein Thema, das uns vor allem in der ersten Woche in Washington begleitete. Unsere Gruppe hatte das Glück, einen sehr guten Zeitpunkt für die Reise zu erwischen. Wir waren genau in der letzten Woche vor der Abstimmung über die heftig umstrittene Gesundheitsreform in Washington und so spielte „health care“ bei fast jedem Gespräch eine Rolle. Die Debatte in den USA — ein Streit, den man als Deutscher auf den ersten Blick gar nicht begreifen kann. Für unsereinen ist es ganz selbstverständlich, dass jeder eine Krankenversicherung hat, egal, wo man arbeitet, wie viel man arbeitet oder ob man überhaupt arbeitet. Die amerikanischen Verhältnisse erscheinen absurd: die Tatsache etwa, dass man mit dem Job die Krankenversicherung verliert; oder gar keine haben will, weil man jung ist, gesund und glaubt, dass das auch so bleibt. Undenkbar für uns auch, dass jährlich Menschen sterben, weil sie nicht krankenversichert sind. Wie kann man da gegen eine Reform sein, die diese Zustände ändert? Das fragen wir uns und unsere Gesprächspartner. Und wie so oft sind es gerade die konfrontativen Diskussionen, die deutlich machen, wie der andere denkt. Sicher gibt es immer verschiedene Gründe und nicht jeder hat den gleichen Grund für seine Überzeugung, aber mit jedem Gespräch setzt sich das Puzzle Stück für Stück zusammen und dabei wird ein Punkt immer deutlicher: Die Amerikaner sind sehr skeptisch, wenn es um den Einfluss des Staates auf ihr Leben geht. Sie befürchten, dass der Staat zu viel beim Thema Gesundheit mitreden will, zu viele Vorschriften macht, ihre Unabhängigkeit, ihre Freiheit einschränkt. Genau das widerspricht aber der amerikanischen Vorstellung vom „selfmade-man“, die ein Teil des amerikanischen Traumes ist. Und so beginnt man, ganz langsam, zumindest annähernd zu verstehen, was man aus dem eigenen Lebensumfeld heraus, gar nicht verstehen kann. Das bedeutet nicht, dass man seine eigene Meinung ändert, aber man kommt mit einem veränderten Bild zurück, mit einem tieferen Verständnis für ein Land, das unglaublich vielseitig ist.
Nun könnte man entgegenhalten, dass das bei jeder Reise so ist, dass man in einem fremden Land immer Erfahrungen sammelt, die das bestehende Bild jenes Landes verändern und sei es nur, dass sie es erweitern. Doch das ist mit dem RIAS-Programm nicht vergleichbar. Die Begegnungen, die man hier hat, sind etwas Besonderes. Die Menschen, mit denen man konfrontiert wird, die würde man im alltäglichen Leben nicht einfach so treffen. Den Feuerwehrmann zum Beispiel, der seinen Sohn bei 9/11 verloren hat, selbst verschüttet wurde und uns seine Geschichte erzählt. Oder die Schüler einer Highschool in Hoboken, NJ, die uns ihr Filmprojekt für Geschichte zeigen und uns erzählen, wo sie herkommen und wovon sie träumen — von all den hochkarätigen Terminen einmal ganz abgesehen, wie beim „American Jewish Committee, den Think Tanks „Heritage Foundation“und „Brookings, dem deutschen Botschafter Klaus Scharioth und all den Sendeanstalten (CNN, BBC, NBC, National Public Radio und Al Jazeera English). Die Gespräche, die hier stattfanden, viele von ihnen „off the record,“ also nicht zum Zitieren gedacht, haben Einblicke geboten, die man als Reisender sonst niemals bekommt.
Es war nicht mein „erstes Mal“ in den USA. Aber so viel „Input“ wie auf dieser Reise habe ich noch nie erlebt. Jetzt, wenige Tage nach dem Rückflug, der Jetlag noch spürbar, setzt sich mein Amerika-Puzzle wieder neu zusammen. Es geht mir ein bisschen wie nach dem Tauchgang, als ich wieder durch die Scheibe blicke, auf das, was ich so nah selbst erlebt habe. Das Bild hat sich verändert.
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Ellen Trapp, Zweites Deutsches Fernsehen, Berlin
Ein bisschen unruhig war ich kurz vor der Abreise. Eine dreiwöchige Klassenfahrt in meinem Alter, ob ich das verkrafte? Gruppendynamik oder -koller, Gezanke und Launen ertragen — es könnte eine interessante Erfahrung werden. Wir haben uns für den ersten Abend, nach Ankunft in Washington, schon mal auf ein Kennenlern-Bier verabredet: ein erstes Beschnuppern in lockerer Atmosphäre. Doch Fehlanzeige: wegen Unwetters, Tornados (die ich eigentlich in Springfield sehen sollte) verzögerte sich nicht nur mein Abflug in Berlin um satte drei Stunden. Am Ende musste ich in der Nacht gar mit dem Zug von New York nach Washington fahren, um morgens pünktlich beim Frühstück von und mit „„Klassenlehrer“ Jon zu sein…das heißt konkret: neun Stunden später als geplant erreiche ich die Haupstadt. Puh, das geht ja gut los.
Health care — who cares?
Beim Frühstück fehlt Alex — warum? Er muss zum Zahnarzt, ein Inlay ist ihm rausgefallen. Ist das „a big thing?“ Es war lästig, sagt er, und machte am ersten Morgen des Stipendiums natürlich unnötig Sorgen, doch die Krankenkasse wird die Rechnung zahlen, wenn er wieder in „„old Europe“ ist. Willkommen im sozialistischen Europa, wie manch ein Amerikaner glaubt — gerade weil wir alle versichert sind. Ein Moment, in dem mir bewusst wird, wie wunderbar (verglichen mit den USA) unser Gesundheitssystem ist: Arztbesuche, kein Problem, ganz gleich, ob in der Heimat oder mehrere tausend Kilometer von zu Hause entfernt.
Hier allerdings ist der Aufstand groß, Obama wird auf Plakaten mit Hitler-Bart gezeigt, die Köpfe rauchen all über all und das Thema „Health care“ bestimmt unsere Tagesordnung. Bei jedem unserer Termine mit Journalisten, Lobbyisten oder den Chefs der Think Tanks beschäftigen wir uns mit der Debatte, denn die Abstimmung naht. Simple Frage: Warum wehren sie sich eigentlich dagegen?
Es gibt natürlich viele Gründe, lernte ich in den drei Wochen, warum ein Teil der Amerikaner die Krankenversicherung ablehnen — von „ich kann selbst für mich sorgen,“ über „„die Reichen haben Angst, dass ihre Versicherung noch teurer wird,“ bis hin zu „„die sind einfach alle bescheuert“ oder aber „die Obama Administration hat sie schlecht kommuniziert,“ war alles dabei!
Als ich mit dem Mitstipendiaten Christian Feld am historischen Sonntag Abend in Springfield, Missouri ankam, haben wir die Abstimmung live mit unseren Gastgebern verfolgt. Während des vorzüglichen Abendessens beim Gastgeber Ed Fillmer lief der Fernseher im Nachbarraum. Und, … am Ende eines langen Tages konnten wir mit vollem Bauch, mit ruhigem Gewissen und beglückt, dass alles doch gut ging, schlafen gehen, denn — the bill passed — ein historischer Tag!
Springfield, Missouri — who knows?
Seattle, Florida, New Orleans, Oregon — oha, tolle Ziele für die Station Week. Aber wo bitte schön liegt Springfield, Missouri? Die Antwort ist ganz einfach: in the middle of everywhere, mit diesem Slogan wirbt jedenfalls Missouri. Auf geht`s! Genau das Richtige für mich, denn ich wollte doch sehen, wie die USA wirklich tickt, was die Amerikaner wirklich denken und wie sie wirklich leben — weit weg von White House, 5th Avenue und dem Broadway! Ed Fillmer und Missy Shelton Belote haben uns das Land mit allen Ecken, Kanten und zahlreichen Republikanern näher gebracht. Konservativ ist man hier, schwarz nicht so gerne und eigentlich soll alles so bleiben wie es immer schon war — wild, wild west!
Die Woche beginnt mit den Commissionern von Greene County — ein Demokrat an der Spitze der sich während unseres Gesprächs die Schuhe putzt und an seiner Seite zwei Republikaner — na, geht doch! Die drei arbeiten wohl prima zusammen, versuchen die Krise und die Finanznot zu umschiffen und wollen am Ende, (meist) fern ab von der Parteipolitik, dass es der Region gut geht. — Warum nicht immer so?
Beim Besuch der Fernsehstation KY3 geht es gleich richtig zur Sache — was ich sonst nur aus der Ferne beobachte, lerne ich live kennen. Wir begleiten einen der Reporter zur Schalte in einer eher schlechteren Wohngegend Springfields — keine 24 Stunden zuvor wurde an der Haustür ein 17jähriger Jugendlicher erschossen — Gangprobleme?
Einmal auf der Route 66 fahren — ein Traum vieler, ich kann mir das mit dem Motorrad auch gut vorstellen, doch vielleicht nicht auf dem historischen Teil, der eher wie ein Feldweg in der Eifel aussieht. Doch genau hier finde ich Schätze am Wegesrand, die ich nicht für möglich gehalten habe. Ältere Herren, die versuchen in Teile des Route 66 das Leben der 1930er oder 50er, auch später in Form von Tankstellen, Cafés oder Gefängnis-zellen, umgeben von Cadillacs wieder aufleben zu lassen. Auf der Veranda eines alten Hauses in Red Oak2 stehen zwei Bänke: eine große, auf deren Rückenlehne „„Republicans“ steht und eine gaaaaanz kleine, für die wenigen „Democrats“ — tja, das ist Springfield, damals wie heute. Wird sich das jemals ändern?
Nein! Das Bild Sarah Palins ist in Deutschland nun eher negativ, eine eher einfach gestrickte Frau, über deren Ansichten und Auftritte viele den Kopf schütteln, schlimm-stenfalls Lachen, anders in Missouri!!! Am „HARD WORK U“ College in Branson verehren die Studentinnen Sarah Palin. Ihr Auftritt, die Rede im College haben die meisten beeindruckt, sie sei kompetent, ja, sie hätten sie gewählt, weil sie eine von ihnen sei… Träum` ich?
09/11 — who remembers?
Der Tag, der die Welt veränderte — 9/11 — ist noch keine zehn Jahre her. Seit dem führen wir Debatten über Terrorismusbekämpfung und haben Sicherheitskontrollen, die manchmal keiner versteht. Die Situation am Ground Zero hingegen, die Ausstellung und Führung, die Betroffene dort zusammenstellen, versteht jeder sofort. Ein Passagier hinterlässt auf dem Anrufbeantworter zu Hause die letzte Nachricht für seine Frau vor seinem Tod, Firefighter liefen in die beiden Türme, als alle nur noch raus wollten, viele Menschen werden noch immer vermisst!
Der Übergang fällt schwer — zurück zum Leben in Manhattan mit zig Tausenden von Touristen, die Straßen verstopfen oder sich seit Freitag Mittag auf die 5th Avenue legen, um am Samstag früh ab 9 Uhr einen Ipad zu ergattern. Diesen Event will ich mir nicht entgehen lassen und treffe bekannte Gesichter. Mein Kollege Richard aus München ist weltweit der erste Ipad Besitzer, hat geschlagene ca. 20 Stunden auf der Straße kampiert — Wahnsinn!
BYE BYE!
Wahnsinn auch die drei Wochen, zwar ohne Ipad, dafür mit vielen neuen Eindrücken, viel Wissen, kehre ich zurück nach Deutschland. Eine schöne Klassenfahrt, ohne Gezank, (meist) ohne Gruppenkoller, … gelandet bin ich übrigens 15 Minuten früher als geplant. Nicht nur Ende gut, sondern gleich alles gut!
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Bernd Wode, ARD aktuell, Hamburg
Die USA in der Rezession: ein Krisenbericht
Spartanburg, South Carolina: Beginn eines langen Arbeitstages
Um kurz nach sieben in der Früh klingelt das Handy. Ein Unfall auf der Interstate 85. Ein Auto ist unter einen LKW geraten, der Fahrer gestorben. Eigentlich hätte Thomas Colones heute Spätdienst. Aber Colones ist Kameramann, und er hat Bereitschaft. Also macht er sich auf den Weg zur Unfallstelle. Colones ist 56 Jahre alt, mehr als die Hälfte dieser Zeit arbeitet er nun schon für Channel 7 von WSPA TV, den regionalen Nachrichtensender von CBS in Spartanburg, einer 40.000-Seelen-Gemeinde in South Carolina.
Unfälle, Schießereien, Betrug — es sind diese Themen, die vor allem das Programm des Senders prägen. Durch das Großraumbüro der Redaktion schallt der Polizeifunk — eine der wichtigsten Quellen und nicht unüblich bei amerikanischen Lokalsendern. Die Konkurrenz ist groß — vor allem jetzt, in Zeiten der Krise. Wie alle Sender in den USA muss auch bei WSPA TV gespart werden. Bis vor kurzem noch hatte der Sender eine eigene Grafikabteilung — die wurde zurückverlegt in die Zentrale — von dort stammen nun die Grafiken für sämtliche CBS-Töchter. So konnten Stellen eingespart werden. Und auch Thomas Colones, der Kamerammann, der schon seit mehr als 30 Jahren beim Sender ist, kann sich nicht sicher sein, seinen Job zu behalten.
Ein paar Einstellungen von der Unfallstelle an der I 85, dann geht es schnell zurück in die Redaktion. In der Frühausgabe der Nachrichten sollen die Bilder gesendet werden.
Washington DC: Gesundheitsreform und andere Baustellen
Der Mann schläft tief und fest in seinem Bagger, und auch der Lärm der vierspurigen 17. Straße, die an ihm vorbeiführt, scheint ihn nicht daran hindern zu können. Es ist kurz vor neun am Morgen. Drei andere Bauarbeiter lachen ihren schlafenden Kollegen aus. Sie scheinen keine Eile zu haben, das große Bürohaus in der Innenstadt Washingtons fertig zu stellen. Direkt gegenüber ist gerade ein anderer Büroturm aus Glas und Stahl entstanden. Acht Stockwerke hoch, nur in der untersten Etage ist bereits jemand eingezogen. Die Wirtschaftskrise zeigt Spuren, selbst in einer so wohlhabenden Stadt wie Washington. Nicht alle sind auf den ersten Blick zu erkennen. In der U-Bahn entdeckt man jetzt viel mehr gut gekleidete Menschen, die zur Arbeit fahren — sie scheuen die hohen Parkgebühren in der Innenstadt, berichtet einer, der seit Jahren in der Stadt wohnt. Teure Restaurants, die früher noch gut liefen, mussten jetzt aus Mangel an zahlungskräftiger Klientel schließen. Allein die Fitness-Studios der Stadt scheinen der Krise zu trotzen: sie sind jetzt bereits tagsüber gut gefüllt mit jenen, die ihre Arbeit verloren haben und sich fit halten wollen für künftige Aufgaben.
Knapp zehn Prozent Arbeitslosigkeit landesweit, ein Haushaltsdefizit in Rekordhöhe, es sind keine einfachen Voraussetzungen für weitreichende Reformen. Trotzdem: zusätzlich 30 Millionen Amerikaner sollen künftig eine Krankenversicherung bekommen. Die Gesundheitsreform, von Präsident Obama durchgesetzt, spaltet das Land. Zuviel Regulierung durch den Staat, zetern die einen und wittern gar sozialistische Verhältnisse. Eine notwendige Reform, um langfristig Kosten zu sparen und die gesundheitliche Versorgung zu verbessern, meinen die anderen. Eine leidenschaftliche, zum Teil mit derben verbalen Ausfällen geführte Diskussion entbrennt, die auch mit der Unterzeichnung des Gesetzes durch Präsident Obama nicht endet.
Spartanburg, South Carolina: Kürzungen bei den Kurzen
Lautes Kinderlachen dringt vom Spielplatz der East End Elementary School in Easery, einer Kleinstadt unweit von Spartanburg. Thomas Colones, der Kameramann von Channel 7, dreht ein paar Einstellungen des Schulgebäudes. Es ist kurz vor Mittag, der zweite Einsatz für ihn an diesem Tag. Im gesamten District County — wohl am ehesten vergleichbar mit einem deutschen Landkreis — sollen mehr als hundert Stellen an Schulen gestrichen werden. Folge der Haushaltseinsparungen des Staates. Und Anlass für den Bericht bei WSPA TV. Mehr als 700 Kinder besuchen hier in Easery die Grundschule — im Alter zwischen vier und elf Jahren. Thomas Colones dreht im „Media Center“ der Schule. Etwa zwanzig Kinder sitzen hier jeweils an einem Computer und lernen den Umgang mit dem PC. In der schuleigenen Bibliothek gibt es Hunderte Bücher. Tafeln oder Kreide sucht man allerdings vergeblich — der Lehrstoff wird hier als Powerpoint-Präsentation vermittelt. Wie sich die angekündigten Kürzungen auf diese Schule auswirken, weiß noch niemand so genau. Der zuständige Verwaltungsbeamte des District Countys gibt ein Interview in die Kamera von Thomas Colones. Seit 39 Jahren mache er diesen Job, sagt er. Aber so schwierig wie jetzt sei es noch nie gewesen.
New York: Die Musik spielt wieder
Die Sonne geht im zweiten Untergeschoss auf. „Sunrise over the atlantic ocean“ heißt das Kunstwerk, das die ultramoderne Arbeitsatmosphäre im Gebäude der Wirtschaftsnachrichtenagentur Bloomberg belegen soll. Bunte Neonleuchten über eine Länge von rund 30 Metern tauchen den Gang in kaltes Licht, das eher an das Ambiente einer gestylten Szenebar erinnert als an Redaktionsräume einer Agentur für Wirtschaftsnachrichten. Travis Altman arbeitet hier. Einer von insgesamt 2.600 Menschen bei Bloomberg. Im Großraumbüro sitzen die Mitarbeiter, jeder einzelne von ihnen gleich vor vier Flachbildschirmen. Um drei Uhr morgens beginnt der Arbeitstag von Travis Altman, und er endet nicht selten erst 12 Stunden später. Das allerdings scheint sich zu lohnen: erst kürzlich hat Altman ein Appartement in Manhattan gekauft.
Sowieso: die Geschäfte gehen wieder gut. Die Bankenpleite, die Finanzkrise und andere Katastrophen der Branche scheinen Bloomberg nicht wirklich etwas ausgemacht zu haben. Eine Entlassungswelle wie bei fast allen anderen großen Sendern im Land gab es hier nicht. Ganz im Gegenteil: es wurden sogar Kameraleute eingestellt, damit Moderationen nun auch direkt aus dem Großraumbüro gesendet werden können.
Ob das Platzen der Immobilienblase in den USA und die Bankenpleite vorhersehbar waren, wird der Bloomberg-Redakteur gefragt. Altman ist skeptisch. Nicht immer sei es rational, zu früh zu warnen oder zu reagieren. Man wisse nie, ob und wann eine Blase wirklich platze. Dann zieht er einen Vergleich zu einem Kinderspiel. Es sei wie bei der „Reise nach Jerusalem“: solange die Musik spielt, geht man weiter. Sich zu früh hinzusetzen, sei nicht erlaubt. Man müsse nur schnell genug reagieren, wenn die Musik verstummt.
An diesem Tag schließt der Dow Jones an der Wall Street knapp im Minus. Aber er peilt schon wieder die 11.000-Punkte-Marke an. Vor einem Jahr waren es noch rund 4.000 Punkte weniger. Die Musik spielt an der Börse — fast schon wieder so laut wie vor der Krise.
Spartanburg, South Carolina: Bayerisches und andere Traditionen
Die sechs Männer haben sichtlich Spaß. Sie versuchen ein bayerisches Weizenbier in das Halbliter-Glas zu füllen. Ihnen fehlt offenbar die Übung, und so bleibt eine ziemliche Sauerei auf dem Tisch zurück. Die Männer sitzen in dem Café, das zum großen BMW-Werk in Spartanburg gehört. Mit bayerischen Getränken und Brezeln stimmen sich die Mitarbeiter gerade auf den Feierabend ein. BMW ist einer der wichtigsten Arbeitgeber hier in der Region. In dem Werk werden die Modelle X5 und X6 gebaut — sogenannte SUV, für deutsche Verhältnisse also vergleichsweise große Fahrzeuge. Hier in South Carolina fallen sie nicht weiter auf. Seit 16 Jahren baut BMW Autos in diesem Werk — mittlerweile rollen rund 600 Wagen pro Tag vom Band. Nun will BMW in Spartanburg sogar noch wachsen. Der Bau einer weiteren Halle ist geplant. Investitionsvolumen: 750 Millionen Dollar.
Im vergangenen Jahr allerdings war die Krise auch hier zu spüren. Für mehrere Wochen musste die Produktion gestoppt werden. Aber die Kernbelegschaft von mehr als 4.000 Mitarbeitern konnte gehalten werden. Und das ohne die Intervention einer Gewerkschaft, die sich um die Beschäftigten gekümmert hätte. Arbeitnehmervertretungen hätten keine Tradition hier im Süden, erklärt die stellvertretende Pressesprecherin des BMW-Werks, Bunny Richardson. Die Mitarbeiter könnten sich doch direkt an die Vorgesetzten wenden, wenn es Probleme gibt. Und diese Einschätzung scheint auch die Belegschaft zu teilen. Es hat Versuche gegeben seitens der Gewerkschaft, Mitarbeiter bei BMW zu organisieren. Die seien allerdings gescheitert, sagt die Pressesprecherin, und sie lächelt dabei.
New York: Äpfel in Big Apple
Mister Singh hat an diesem Morgen gut zu tun. Er hat einen kleinen fahrbaren Stand an der 45. Straße in Manhattan und verkauft frisches Obst. Die Bananen für 50 Cent, auch die Äpfel sind sehr gefragt. Eine Kasse gibt es nicht: das Geld landet in einem offenen Pappkarton. Und der ist schon recht gut gefüllt an diesem Tag. Für Gespräche mit den Kunden bleibt kaum Zeit. Die haben es eilig, arbeiten in den benachbarten Bürotürmen in Midtown Manhattan. Seit zehn Jahren schon steht Mister Singh an dieser Stelle. Immer werktags, von sechs Uhr morgens an. In der Früh sei der Umsatz am besten, sagt er. Und von einer Krise merke er auch nichts. Allerdings musste er die Preise ein wenig erhöhen, weil der Einkauf im Großmarkt teurer geworden sei. Seine Kundschaft scheint das aber nicht zu interessieren. Mit dem Apfel in der Hand beginnt für sie der Arbeitstag.
Marty Markowitz mag solche Menschen wie Mister Singh. Markowitz ist der Borough-Präsident in Brooklyn — also so etwas wie der Bezirksbürgermeister des Stadtteils. Die Menschen müssten viel öfter versuchen, das Beste aus der Krise zu machen — mit eigenen Ideen, Kreativität und dem Mut, sich mit einem kleinen Geschäft selbständig zu machen, meint Markowitz. Denn auch Brooklyn hat Probleme: die Arbeitslosigkeit ist infolge der Wirtschaftskrise rasant gestiegen. Und davon betroffen ist jetzt mehr und mehr auch die Mittelschicht der Bevölkerung. Eine Entspannung ist nicht in Sicht. In den USA konzentriere sich alles nur auf den Dienstleistungssektor, sagt Markowitz. Es gebe kaum noch echte Produktivität. Und er verweist auf den Anstecker an seinem Anzug-Revers, auf dem der Schriftzug „Brooklyn“ zu lesen ist. Der, sagt Markowitz, ist made in China.
Zurück zu den Äpfeln. Aber nicht zu denen des Mister Singh. Eine gewaltige Menschentraube hat sich vor dem überdimensionalen Würfel mit dem Apfel-Logo versammelt. Hier an der 5th Avenue verkauft die Firma Apple ihre Computer, und an diesem Morgen kommt das I-Pad auf den Markt. Viele Kunden stehen Schlange und warten schon seit Stunden darauf, dass sie endlich das neue Gerät in den Händen halten dürfen. Mehrere Fernsehsender berichten über den Trubel, eine perfekte Marketingstrategie erlebt ihren Höhepunkt. Ein französischer Tourist erzählt, dass er bereits seit vier Uhr in der Nacht vor dem Apple-Store wartet: er war bei weitem nicht der erste und hat auch jetzt noch — um kurz nach neun — einen gehörigen Abstand bis zum Eingang. Dann brandet Applaus auf. Die Mitarbeiter des Apple-Geschäfts haben ein Spalier gebildet und feiern die ersten I-Pad-Besitzer wie die stolzen Gewinner eines Marathon-Laufes. Die Kunden recken das neue Gerät in die Höhe als sei es ein Pokal. Die Medien berichten über den allerersten Käufer eines I-Pad: bereits seit dem Nachmittag des Vortages habe der vor dem Geschäft gewartet. Er sei extra deswegen nach New York gereist. Der weltweit erste I-Pad-Kunde ist aus Deutschland. Sein Beruf: Moderator einer öffentlichen-rechtlichen Rundfunkanstalt.
Spartanburg, South Carolina: Ende eines langen Arbeitstages
Thomas Colones, der Kameramann von WSPA TV, hat es mal wieder eilig. Er sitzt am Steuer seines Teamwagens, auf seinem Schoß eine Tüte mit Fastfood. Zum Essen war bisher keine Zeit gewesen. Schließlich musste Colones die Geschichte über die geplanten Kürzungen an der Grundschule auch noch schneiden, nachdem ihm die Reporterin den Beitragstext als Vorlage gegeben hatte. Durchaus das gängige Verfahren bei amerikanischen Fernsehanstalten. Und jetzt muss Colones wieder raus zum Drehen. Ein Kollege vom Sport braucht noch ein paar Bilder eines High-School-Baseball-Spiels.
Eine eigene Familie hat der Kameramann nicht — Kinder seien mit dem Job einfach nicht zu vereinbaren, sagt er, und es leuchtet ein. Im heruntergekommenen Baseballstadion von Spartanburg sind keine 200 Zuschauer, die das Spiel gegen die Auswahl der Nachbarstadt Hillcrest sehen wollen. Die untergehende Sonne sorgt für sanftes Licht. Aus den Lautsprechern des Stadions krächzt eine alte Southern-Jazz-Variante der amerikanischen Nationalhymne. Thomas Colones hat seine Baseballkappe abgenommen und hält sie sich vor die Brust, den Blick auf das Sternenbanner am Spielfeldrand gerichtet. Als die Hymne verklungen ist, dreht er die Bilder vom ersten Abschlag des Spiels. Nach mehr als zwölf Stunden naht für ihn das Ende eines ganz normalen Arbeitstages.
RIAS USA-Herbstprogramm
17. Oktober – 6. November 2010
Zwölf deutsche Journalisten nahmen am Herbstprogramm der RIAS BERLIN KOMMISSION in den USA teil und hatten die Gelegenheit, Zeugen der U.S.-Midterm-Wahlen zu werden: Während der ersten Woche organisiertes Programm in Washington D.C. mit Treffen mit führenden Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft und Medien, dann für alle Teilnehmer jeweils ein individuelles Praktikum in einer amerikanischen Rundfunk- oder Fernsehstation; die dritte Woche in New York bot die Gelegenheit die U.S. Midterm-Wahlen zu beobachten und die Ergebnisse und Konsequenzen für die kommenden zwei Jahre der Obama-Regierung mit Politikern und Journalisten zu diskutieren.
TEILNEHMERBERICHTE
Christian Bernstein, Editor, WDR, Düsseldorf
Eine Tüte Chips, ein weiches Käse-Brötchen, eine Packung Develey-Senf mittelscharf und ein KitKat-Riegel Modell ”Chunky”. Das alles liebevoll verpackt in eine durchsichtige Plastiktüte. Das „Abendessen” in der Continental-Maschine machte mir eindeutig klar: Ich war unwiederbringlich auf dem Weg nach Amerika.
Wenn man das Essen in den folgenden drei Wochen einmal außer Acht lässt, dann war der RIAS-Trip das Beste, was ich seit langem erlebt habe. Das Schlafen muss man sich während der drei Wochen allerdings abgewöhnen. Klappt übrigens verhältnismäßig gut, die Zeitverschiebung hilft, weniger zu schlafen.
Die Treffen, stets zwei bis drei pro Tag, waren durchweg hochkarätig. Wann kann man schon mal aus einem Sitzungssaal in der deutschen Botschaft in den Hügeln von Washington-Georgetown den Blick versonnen über den Potomac-River schweifen zu lassen und bekommt dabei noch vom Botschafter interessante Details über das deutsch-amerikanische Verhältnis zu hören?
Denn in Amerika ist alles, was für alle gut ist, Sozialismus. Das haben wir in den drei Wochen immer wieder erfahren. Krankenversicherung für alle, Umweltschutz, Energiesparen, globale Finanzkontrolle der Banken: alles Teufelszeug, alles Sozialismus! Jedenfalls aus Sicht einiger sehr konservativer Gesprächspartner, die wir treffen konnten.
Unvergessen unsere Diskussion mit zwei Vertretern der „Heritage Foundation”, eines konservativen „Think Tanks”. Dieser „Denkpanzer” versorgt konservative amerikanischer Politiker mit ideologischer Munition. Die beiden Herren von der „Heritage Foundation” waren zum Beispiel für einen komplett ungeregelten Finanzmarkt („weil nach dem Beinahe-Zusammenbruch des Welt-Finanzsystems nur freie Marktkräfte das System heilen können”). Sie waren für den weltweiten Abbau aller Handelsschranken und Zölle, weil das gut für amerikanische Konsumenten ist. Komplett ausgeblendet hatten die beiden „Denkpanzer”, dass der amerikanische Konsument auch Arbeiter ist und kein Geld verdient, das er ausgeben kann, wenn er seine Güter nicht mehr selbst herstellt, sondern ein chinesischer Kollege. Und natürlich waren unsere Gesprächspartner für ein selbstregulierendes, rein marktgesteuertes Gesundheitssystem — in dem sich dann nur Reiche eine Krankenversicherung leisten können.
Wir zwölf RIAS-Fellows haben die beiden Bollwerke des Konservatismus in eineinhalb Stunden mit kritischen Fragen sturmreif geschossen. Ich glaube, mit soviel Gegenwind hatten sie nicht gerechnet. In konservativen amerikanischen Politikkreisen wird jetzt eine Weile die Ansicht vorherrschen, deutsche Journalisten seien allesamt linksliberale, kommunistische Spinner, die gegen Marktwirtschaft sind. Sei es drum, das war es wert!
Es wäre übrigens ungerecht, unsere vielen „normalen” amerikanischen Gesprächspartner unerwähnt zu lassen, die mit Sinn und Verstand mit uns sprachen. Die große Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft der vielen, vielen Menschen, die wir in den drei Wochen getroffen haben, war überwältigend. Viele trafen sich nach den offiziellen Terminen abends noch mit uns in Bars oder Restaurants, um die Völkerfreundschaft bei Wein und Bier zu vertiefen… Eine außergewöhnliche Herzenswärme verströmte Roxanne, eine ehemalige RIAS-Stipendiatin aus Washington. Sie gab uns zu Ehren in ihrem Haus eine Willkommensparty und versorgte uns mit leckerem Essen.
Insgesamt hatten wir großartige Einblicke in eine uns sonst verschlossene Welt: Wann kommt man schon mal auf eine Pressekonferenz im amerikanischen Außenministerium in Washington? Oder bei der UNO in New York? Oder in die Media Gallery des House of Representatives im Capitol in Washington?
Vielen Dank auch an die Kollegen des ARD-Studios Washington, die sich an einem Freitagabend Zeit nahmen, uns in die Kneipenszene der Hauptstadt einzuführen. Der darauf folgende Samstagmorgen war für mich persönlich der härteste Morgen des ganzen Programms…
Ein Highlight in Washington: Der Wachwechsel am Grab des unbekannten Soldaten auf dem Arlington-Friedhof. Großes amerikanisches Patriotenkino. Kranzniederlegung, Hand aufs Herz, Trompetensolo. Patriotismus pur, der den Amerikaner am Herzen rührt. Bewegend und gleichzeitig bizarr anzuschauen für Ausländer wie uns mit einem — sagen wir mal — rationaleren Verhältnis zu Krieg und Gefallenen. Aber eines ist sicher: Bei dieser Wachablösung, bei der es totenstill ist auf dem Arlington-Friedhof, man konnte das Herz der amerikanischen Nation schlagen hören, wenn man ganz genau hinhörte.
Nach unseren vielen offiziellen Terminen am Tag dann immer wieder großartiges „Spontansightseeing” mit unvergesslichen Eindrücken: Sonnenuntergang auf dem Rockefeller-Center, Halloween-Parade mit Millionen Menschen in New York oder Wahlparty der Demokraten am Tag der Midterm-Elections.
Unerwähnt soll auch Toledo in Ohio nicht bleiben. Wir, zwei deutsche Journalisten, eine Woche in einem Nachrichtensender mit dem großartigen Namen WTVG TV. Da haben wir viel gelernt — wie man Dinge besser machen kann, aber auch, wie man Dinge besser nicht macht…
Was soll man sagen nach drei Wochen und vollgestopft mit Eindrücken? Wahrscheinlich nur: Vielen, vielen Dank RIAS! Ich hatte eine großartige Zeit! Und vielen Dank auch meinen RIAS-Fellows! Ich werde Euch nie vergessen! PS: Auf dem Rückflug bin ich übrigens mit Lufthansa geflogen, das Essen war um Klassen besser…
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Maren Beuscher, Editor/Author, ZDF / 3SAT, Berlin
Ankunft am Flughafen Washington und erstmal heißt es warten: Eine riesige Schlange steht an der Passkontrolle und bis ich meine zehn Fingerabdrücke abgeben darf, vergehen fast zwei Stunden (kleiner Tipp also: möglichst schnell aus dem Flieger raus). Draußen ist es schon dunkel, als ich mit dem Taxi in die Hauptstadt hineinfahre…
Am nächsten Tag sind es etwa zwanzig Grad und eine Stadtrundfahrt vermittelt erste Eindrücke. Doch in der einen Woche in Washington sind es nicht nur die hervorragend organisierten und interessanten Termine, die der RIAS für uns anbietet, es sind auch die Dinge jenseits der Termine, die das Bild dieser Stadt vervollständigen: der Besuch des Memorials für die Veteranen des Zweiten Weltkriegs zum Beispiel. Dort trifft man auf Amerikaner — oftmals im Rollstuhl — die noch gegen deutsche Soldaten gekämpft haben. Und auf Amerikaner, die gerne mit jungen Deutschen sprechen, über das was sie erlebt haben, aber auch über das, was sie heute über die Deutschen und ihr eigenes Land denken.
Lohnend auch ein Spaziergang über den Friedhof von Arlington, wo vor den Augen vieler andächtig schweigender Zuschauer Zeremonien stattfinden. Geschichte und Stolz begegnen einem auch im „Space Museum”, wo zum Beispiel die Original-Raumkapsel zu sehen ist, mit der die ersten Männer vom Mond zur Erde zurückkehrten. Interessant wäre es sicherlich auch, sich mal in einen Bus zu setzten und in die Vororte von Washington zu fahren. Washingtoner erzählten uns, dass dort der Lebensstandard um einiges niedriger sei als im feinen politischen Zentrum. Ein Gefälle, das man sich nahe des Weißen Hauses kaum vorstellen kann. Doch die Zeit rennt und die Woche bei einem Fernsehkanal irgendwo in den USA steht an.
Zu zweit verschlägt es uns nach Indiana, wo wir zuerst an der Universität von Bloomington zwei Tage Journalistik-Studierenden Rede und Antwort stehen und einige interessante Professoren kennen lernen dürfen. Sogar der Dekan trifft sich mit uns zum Frühstück. Eine großartige Gelegenheit, das Hochschulleben kennen zu lernen, aber zum Beispiel auch, was bei einer Tornado-Warnung passiert, die meinen Vortag über journalistische Ethik unterbricht: Alle finden sich gemeinsam in einem Flur im Erdgeschoss wieder. Und während es draußen stürmt und regnet, ohne dass wirklich Schlimmes passiert, plaudert man angeregt.
Einen Sturm der Begeisterung rief dann die Wahl-Veranstaltung des Republikaners Rand Paul auf dem Campus hervor. Ganz Bloomington und viele Studierende waren gekommen, um von ihm unter anderem den Aufruf zur Legalisierung von Marihuana oder die Mahnung zu hören „nicht Wikileaks als Überbringer von Nachrichten dürfen kriminalisiert werden, sondern die, die kriminell handeln!” Worte von einem Republikaner, die ungewohnt klingen und doch zeigen, dass in USA offenbar tatsächlich vieles möglich ist.
Dann geht es mit dem Mietwagen weiter nach Indianapolis, wo wir bis zum Weiterflug nach New York beim Sender „Fox 59” dabei sind. Er gehört Murdoch, doch „Fox 59” ist (wie die meisten) ein lokaler Sender, der Schwerpunkt der Berichterstattung liegt gerade auf „Halloween”: In einem Kostümverleih probieren drei Reporter ohne jegliche Proben live in der Sendung verschiedene Kostüme an. Der einzige Kameramann ist genervt. Er macht das Ganze komplett alleine, Übertragungstechnik, Licht, und später auch den Schnitt, eben die übliche Arbeitsweise beim U.S.-Fernsehen. Der Sender selbst ist jedoch technisch bestens ausgerüstet, ein typischer Neubau am Rande von Indianapolis, wo auch wieder klar wird, wer am Ende alles bezahlt, nämlich die Werbekunden: Kaffeetassen von Dunking Donuts stehen auf dem Tisch der Nachrichtenmoderatoren, sie sind auf Sendung immer wieder im Bild zu sehen. Ein anderes „System” eben in diesem Land, das genauso sichtbar wird, wenn man in der „Provinz” einfach mal einen Waffenladen besucht, wo die „schönsten” Waffen als tolles Weihnachtsgeschenk angepriesen werden.
Besuche bei zahlreichen Sendern dann auch, als alle wieder vereint sind in New York. Ein großartiges Programm hat der RIAS auch hier zusammengestellt, und auch hier sind die Entdeckungen, die man jenseits dieser Termine macht das, was einem die USA noch näher bringen kann: Natürlich der Halloween-Umzug und ein Besuch der „Met”, aber lohnend ist auch ein Besuch der Baustelle an Ground Zero mit einem kurzen Fußweg zum Ort des so umstrittenen geplanten islamischen Zentrums, das zwei Straßen weiter gebaut werden soll. Dort steht heute eine Moschee, von Polizisten bewacht, aber geöffnet für Jeden und es ist kein Problem, dort einfach mal dem englisch predigenden Imam zuzuhören. Interessant ist es auch, sich mal mit dem Offizier im „Recruiting-Center” mitten auf dem Times Square zu unterhalten: wer bei ihm denn so reinkommt und aus welchen Gründen die Menschen zum Militär wollen.
Vielleicht ergibt sich auch die Gelegenheit, die Vereinigung der „Overseas Journalists” zu besuchen, die im vom RIAS gebuchten Hotel ihr Büro haben und viele Veranstaltungen anbieten. Es ist eben doch immer wieder das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, tausend Dinge lassen sich entdecken und ich werde wiederkommen. Danke RIAS, es war großartig!
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Priya Esselborn, Team Leader, Deutsche Welle Radio, Bonn
Amerika- von vielem zu viel und doch ist vieles zu wenig
Irgendwie ist in den USA alles extrem. Die Eichhörnchen vor dem Weißen Haus sind extrem groß. Washington hat extrem viele Memorials. Die Kekse beim Welcome-Dinner bei Roxanne Russell schmecken so extrem gut, dass wir alle nach dem Rezept fragen. New Mexico — olé — hat extrem viel weites Land und Kakteen zu bieten. Und was New Mexico zu viel hat, ist in New York Mangelware. Denn hier leben extrem viele Menschen auf extrem wenig Platz. Das wird schon am ersten Abend in New York auf dem Times Square deutlich, wo ich mir staunend im Gewusel zwischen den Massen von Leuten, grell blinkenden Lichtreklamen, Souvenirverkäufern, Touristen, die überall noch schnell ein Foto schießen wollen und dem Verkehr versuche, meinen Weg zu bahnen. Amerika — the land of the free and the home of the brave — oft scheint es hier von allem zu viel zu geben und doch ist vieles zu wenig.
Obama — der erste „nicht-europäische Präsident”
Die Midterm Elections — Halbzeitwahlen — sind DAS beherrschende Thema auf unserer Reise. Die Frage aller Fragen bei all unseren Gesprächen ist nicht, ob die Demokraten um Präsident Barack Obama diese Kongresswahlen verlieren, sondern wie hoch. Und wie die Tea Party, diese für mich wie auf dem Nichts aufkeimende dritte Kraft, am 2. November 2010 abschneidet. Obama ist der erste „nicht-europäische Präsident“, erklärt uns der deutsche Botschafter in den USA, Dr. Klaus Scharioth. Vieles sei anders unter ihm. Denn Obama habe einen kenianischen Vater und habe lange in Indonesien gelebt. Daher gilt sein Augenmerk nicht automatisch Europa, wie allen anderen amerikanischen Präsidenten vor ihm. Viele in den USA glaubten zudem, dass er Moslem ist, erklärt uns Scharioth und diese Menschen stehen Obama skeptisch gegenüber. Von „hope” und „change“, Hoffnung und Wandel, die Obama, der große Versöhner dem Bush-müden Amerika bringen wollte, ist wenig übriggeblieben, stelle ich fest. „Yes we can!,” auf diese extreme Freude nach dem Wahlsieg folgt angesichts der hohen Arbeitslosigkeit bei vielen wohl die Ernüchterung. Sowieso geht es immer um die Arbeitslosigkeit, die Wirtschaftskrise, diese ganzen ökonomischen Probleme, die vielen den „American Dream” verleiden. Wie stressig so ein Wahlkampf für die Journalisten ist, sehen wir am nächsten Tag bei CNN. Mark Preston, politischer Korrespondent, hat eigentlich keine Zeit, verquatscht sich aber irgendwie bei uns, macht dann extrem cool seine 5-minütige Live-Schalte mitten im Newsroom und posiert danach mit uns ganz locker für Erinnerungsfotos. Wahlkampf bedeutet immer Adrenalin, erzählt er. Und irgendwie ist ja immer Wahlkampf in den USA, denn kaum sind die Midterm Elections vorbei, gehen die Vorbereitungen für die Präsidentschaftswahlen 2012 los. Crazy.
USA- Das Einwanderungsland Nr. 1
Es gibt noch ein weiteres Thema, dass immer wieder bei unseren Gesprächen aufkommt: Einwanderung. Ob wir bei National Public Radio mit dem Redaktionsteam der täglichen Talkshow „Tell me more with Michel Martin” zusammensitzen und über das Scheitern der Multi-Kulti-Gesellschaft in Deutschland reden oder bei Alan Cooperman vom Pew Forum die religiöse Zusammensetzung der amerikanischen Gesellschaft besprechen. Und auch unsere Gesprächspartner selbst berichten stolz über ihre ausländischen Wurzeln: Jack Zahora von Al Jazeera hat tschechische Wurzeln, Denise Vance von AP hat deutsche Wurzeln. In Las Cruces in New Mexico, wo ich meine Praktikumswoche bei KRWG verbringe, sind mehr als 60% der 95 0000 Einwohner der Stadt Hispanics. Trotz aller Probleme sind die USA uns Deutschen in der Frage der Einwanderung weit voraus. Die Menschen verstehen, wie wichtig Einwanderung ist und dass die USA gerade wegen ihrer vielen Einwander dort sind, wo sie jetzt sind. Die Gesellschaft erscheint mir durchlässiger, offener zu sein. Und damit meine ich nicht, dass ich in Geschäften, Restaurants oder in der Kneipe immer zuckersüß und überschwänglich mit „Hey, how are you?” und „Where are you from?” angesprochen werde. Extrem beeindruckend, finde ich.
Hillary, oh Hillary
Es ist ein erhabener Moment für mich. Ein Moment, in dem ich kurz Gänsehaut bekomme. In dem ich mich wie im weltpolitischen Zentrum der Macht fühle. Zufällig ergibt sich für mich die Möglichkeit, einer Pressekonferenz der amerikanischen Außenministerin Hillary Clinton und dem pakistanischen Außenminister Shah Mehmood Qureshi beizuwohnen. Nicht nur, dass es — wie uns auch CBS-Korrespondent Charlie Wolfson schon erklärte — einen riesigen Unterschied macht, wenn man hautnah miterleben kann, in welchen Kontext Dinge gesagt werden. Wenn man die Stimmung spüren kann. Ich lerne, dass derartige Pressekonferenzen extrem durchchoreographiert sind. Auf der einen Seite im Saal sitzen die pakistanischen Journalisten, auf der anderen Seite die einheimischen. Jede Seite bekommt am heutigen Tag zwei Fragen zugestanden. Dabei wird notiert, wer die Fragen stellen wird. Später können Hillary Clinton und Shah Mehmood Qureshi bei der Beantwortung der Fragen den Fragesteller damit persönlich ansprechen. Einfaches Mittel, aber extrem effektiv. Ich verabschiede mich von der unschuldigen Vorstellung, dass man bei Pressekonferenzen selbst Fragen stellen kann. Hier geht alles nach Protokoll.
New Mexico- Land of Enchantment
Es ist eine Ecke der USA, die ich sicher so bald nicht von selbst besucht hätte. Wo 350 Tage im Jahr die Sonne scheint und es noch Ende Oktober um die 25 Grad hat. Wo Billy the Kid wütete und es wohl die besten Enchiladas der USA gibt, yummy. Meine Praktikumswoche verbringe ich in Las Cruces bei KRWG, einem kleinen Sender mit etwa 30 Mitarbeitern, mitten auf dem wunderschönen Campus der New Mexico State University gelegen. Lokaljournalismus, wie ich von Fred Martino, meinem Host und von Jared Andersen und Carlos Correa, den Reportern von KRWG lerne, ist viel näher dran an Stories und den Menschen. Und Carlos und Jared bedienen als Reporter gleich alle drei Medien — als VJ´s drehen sie ihre Story als One-Man-Show allein, mit Final Cut wird editiert, die Tonspur wird zum Hörfunkbeitrag und der Text mit Fotos geht noch online. Dafür brauchen die beiden keine Tage. Ihr Pensum sind fünf Stories pro Woche, jeden Tag eine. Und die dreimal aufbereitet. Wie patriotisch und stolz die USA auf die eigene militärische Vergangenheit sind, zeigt mir ein Besuch im Horrorkabinett des White Sands Missile Range Museum. In diesem Freilichtmuseum sind alle jemals in den USA erbauten und benutzten Raketen und Bomben ausgestellt. Eine Tafel beschreibt, wann und wo sie zum ersten Mal eingesetzt wurden. Plötzlich großer Auflauf. Denn hier liegt der Prototyp von „Fat Man“, der Atombombe, die über Nagasaki abgeworfen wurde und die tausenden Menschen auf schrecklichste Weise den Tod brachte oder sie für immer zeichnete. 3,66 Länge, 1,52 m Durchmesser. First Firing Date, August 9, 1945, steht hier lapidar, ohne jegliche Einordnung. Mir dreht sich der Magen um, ich muss weg.
New York — If I can make it there, I´ll make it anywhere
Zum Schluss New York, das letzte Highlight. In der Shiloh Baptist Church in Harlem werde ich extrem oft umarmt und mir kommen dabei sogar ein paar Mal die Tränen vor Rührung. Die „Addams Family” am Broadway zu sehen ist extrem lustig. In Hoboken, New Jersey an der Hoboken High School mit Schülern zu sprechen, ist extrem informativ. Der Käsekuchen im „Junior’s” in Brooklyn ist extrem lecker, auch wenn ein Stück wohl nicht unter 1000 Kalorien zu haben scheint. Die New York Times ist mit mehr als 100 Pulitzer-Preis-Gewinnern seit 1918 eine extrem renommierte Institution. Und um ins MOMA zu kommen, sind die Schlangen extrem lang.
Das Fazit — extrem kurz: Danke RIAS für die tolle Organisation und die Möglichkeit, all diese vielen neuen Eindrücke zu sammeln!
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Juliane Fliegenschmidt, Editor, WDR, Köln
Ich sitze auf einem Massagesessel im 22. Stock der örtlichen Verwaltung in Toledo, Ohio. Draußen tobt ein Sturm. Meine Fernsehstation WTVG warnt seit zwei Tagen vor einem Tornado. Die Bilder an den Wänden wackeln, wenn eine heftige Böe das Hochhaus trifft. Wie ich auf dem Massagestuhl gelandet bin? Ganz einfach: Der Bürgermeister der 300.000-Einwohner-Stadt Toledo hat mir gesagt, dass ich ihn unbedingt ausprobieren solle. Der Sessel steht in seinem Büro zur Beruhigung gestresster Mitarbeiter — und ich brauche ein bisschen Beruhigung. Schließlich zieht ja dieser Tornado heran. Und mir wurde erzählt, dass erst Mitte des Jahres fünf Menschen bei einem Tornado im Nachbarort gestorben sind. Aber Michael Bell, der Bürgermeister, ein afroamerikanischer Hüne von Mann, meint dazu nur: „I’m a firefighter. I don’t fear anything.” Und lässt mich auf dem Massagestuhl Platz nehmen…
Michael Bell ist ein charismatischer Mann: Nach einer langen Karriere als oberster Feuerwehrmann des Districts ist er als unabhängiger Kandidat ins Amt gekommen. Er sagt den Bürgern nicht das, was sie hören wollen, sondern das, was er denkt. Aber ob das allein Toledo schon helfen wird? 12 Prozent Arbeitslosigkeit hat die Stadt offiziell. Der Graubereich ist allerdings groß in Amerika: Man gilt schon mit einer Stunde Arbeit die Woche als nicht mehr arbeitslos. Geschätzt wird, dass in Toledo jeder fünfte tatsächlich ohne richtiges Auskommen ist. Und die alte Industriestadt hängt immer noch an der Autoindustrie und den ihr zuliefernden Glasfabriken. Anders als das Ruhrgebiet bei uns, haben sie mit dem Strukturwandel bisher noch gar nicht angefangen. Die extreme Abhängigkeit von einer Industrie wurde ihnen erst mit der derzeitigen Wirtschaftskrise, die Amerika härter getroffen hat als uns, bewusst. Auch das wird uns hier im Mittleren Westen deutlich vor Augen geführt. Michael Bells Rezept dagegen ist einfach umschrieben: Niedrige Steuern für Investoren, denen er klarmacht, wie günstig die Lage von Toledo an den großen Seen ist. Hier laufen die unterschiedlichen Transportwege zusammen: Interstate von Nord nach Süd, Eisenbahn von Ost nach West und dazu haben sie einen Hafen am Lake Erie, der kaum ausgelastet ist. Von Toledo in die Welt — so kann man das zusammenfassen. Er hatte auch schon eine chinesische Wirtschaftsgruppe vor Ort, denen er das alles erzählt hat. Auf unsere Frage, ob es denn bereits Zusagen gäbe, weicht er allerdings etwas aus. „Das wird sich noch zeigen,” meint er kryptisch.
Mehr als die günstige Lage bietet die Stadt allerdings auch nicht. Aber genau das ist ja das Spannende an unserer RIAS-Station: Den ganz normalen Alltag im Mittleren Westen kennenzulernen. Dort, wo man alleine nicht hinfahren würde. Toledo ist eine Stadt, in der man noch nicht mal halten würde, wenn man zufällig vorbeiführe. Es gibt zwar so eine Art Skyline — aber von den paar Hochhäusern sind bestimmt fünf völlig leer. Innenstadt, Ausgehviertel — Fehlanzeige.
Christian Bernstein und ich wohnen in einem ganz neu gebauten Hotel draußen vor der Stadt. Das Hotel gehört zu einer Anlage, die an eine europäische Innenstadt mit kleinen Läden und Restaurants erinnern soll. Aber eben nur von der Straßenseite aus gesehen. Hinter der einen schmalen Häuserreihe sind dann die riesigen Parkplätze. Diese Disney-Einkaufsstraße steht einfach außerhalb Toledos auf dem platten Land. Das ist für uns Deutsche schon eine interessante Erfahrung. Insbesondere wenn alle, mit denen wir sprechen, sagen: „Wow, ihr wohnt also da? Das ist doch toll, da kann man zum Restaurant LAUFEN!” Denn hier im Mittleren Westen nimmt man wirklich für alles den Wagen — kein Klischee.
Überhaupt, wir Deutschen mit unserem seltsamen Umweltbewusstsein. Wir kommen oft im Gespräch auf die Energieverschwendung zu sprechen, auf dicke Autos und ungedämmte Häuser. Und obwohl wir mit den langfristigen ökonomischen Einsparungen von Wärmedämmungen und Energiesparmaßnahmen argumentieren, stoßen wir am ehesten auf die Haltung: Das spielt hier keine Rolle. Einen Abend treffen wir uns mit einem Planer, der diese ganze Anlage, in der unser Hotel steht, mit entworfen hat. Es ist ein sehr netter Abend, aber beim Thema Umweltschutz und umweltschonende Baumaßnahmen sind wir sehr weit auseinander. Er meint, dass da in Amerika nur kurzfristig gedacht wird. Das bringe dem Hoteleigner finanziell und Komfort-mäßig eben nichts, deshalb brauche er das auch nicht. Und ob sich das in drei, vier Jahren amortisiert, ist dem jetzigen Eigentümer doch egal. Wer weiß, wem das Hotel dann gehört?
Politisch interessiert Umweltschutz sowieso nicht. Da gibt es nur ein Thema: Jobs, jobs, jobs. In jeder Wahlkampfveranstaltung kommt mindestens einmal der Satz „It’s all about economy,” vor. „Creation of jobs” ist das einzig wirklich wichtige Wahlkampfthema, egal ob bei den Bürgern in Toledo, in Washington oder New York. Die Wirtschaftskrise hat dieses Land voll im Griff, und Obama, so sagen es sogar seine Sympathisanten, hat nicht genug getan, um die Arbeitslosigkeit zu stoppen. Was er hätte tun sollen, da gehen die Meinungen weit auseinander. Je nach dem ob man nun mit Mitarbeitern der konservativen „Heritage Foundation” oder mit dem eher demokratischen Think Tank der „Brookings Institution” spricht.
Auch sonst merkt man die tiefe Spaltung des Landes überall. Die Frage, ob man das Gesundheitssystem solidarischer gestalten sollte oder ob jeder für sich selbst sorgen muss, wird hier wie ein Glaubenskrieg ausgefochten. Und wir Deutschen stehen dabei meist automatisch in der Schusslinie derjenigen, die Obamas „Health Care” ablehnen. Wir führen viele sehr angeregte Diskussionen. Besonders interessant ist die bei der „Heritage Foundation”. Hier werden wir schon fast als Kommunisten angesehen, weil wir in der Diskussion einwenden, dass es für den Zusammenhalt einer Gesellschaft doch gut sei, wenn sie Menschen nicht komplett vom Gesundheitssystem ausschließt. Aber dafür gibt es in den Augen unserer beiden Gesprächspartner doch „Charity”, die Kirchengemeinden, die Wohlfahrtsorganisationen. Das muss reichen.
Wie gespalten das Land nicht nur in dieser Frage ist, sieht man, sobald man den Fernseher anmacht. Das hat mich überrascht, obwohl ich darüber in Deutschland schon gelesen hatte. (Aber das ist ja das Gute beim RIAS-Stipendium, dass man die Dinge selbst erleben darf…) Im Studium hatte ich gelernt: Das anglo-amerikanische Mediensystem ist fakten-orientiert. Meinung wird raus gehalten. Das stimmt aber nur noch bedingt. Fernsehen ist dort inzwischen fast ausschließlich Meinungsmache: Glenn Beck, Jon Stewart sind nur zwei Extreme dieser Veränderung. Der Zuschauer will anscheinend weniger informiert als bestätigt werden. Denn Glenn Beck oder Jon Stewart schalten nur Menschen ein, die vorher schon wissen, dass sie mit der politischen Meinung des Moderators übereinstimmen.
Das politische Amerika ist mir also näher gekommen, wenn auch manchmal nur vom Verstand her. Denn in einigen Punkten ist mir auch klarer geworden, wo die großen Unterschiede in der Mentalität zwischen den USA und Deutschland liegen. Aber auch dieses Verständnis gehört zur Völkerverständigung ja dazu. Doch vor allem werden mir die Menschen in Erinnerung bleiben: Die Offenheit all unserer Gastgeber und Gesprächspartner in Toledo, Washington und New York.
Und wie ging mein Völkerverständigungserlebnis mit Michael Bell, dem Bürgermeister von Toledo, aus? Trotz Dauerwarnungen in den regionalen Fernsehsendern gab es dann doch keinen Tornado in Toledo. Der Sturm war weitergezogen, während ich mich im Massagesessel entspannt hatte.
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Caroline Hoffmann, Freelance Journalist, WDR, Köln
„Meine Damen und Herren, hier spricht der Kapitän. Ich muss Sie darauf aufmerksam machen, dass nach einer neuen U.S.-Luftfahrt-Regel, das Stehen in Gruppen im Flugzeug verboten ist.” Hätte der Pilot es nicht schon erwähnt, dann wäre es wohl leicht zu erraten gewesen: Ich bin auf dem Weg in die Vereinigten Staaten von Amerika. Das Stehen in Gruppen im Flugzeug — verboten. Welch anderes Land käme schon auf solch eine Idee! Ich jedenfalls muss herzhaft lachen und den Kopf schütteln. Beides werde ich in den nächsten drei Wochen mal zusammen, mal abwechselnd noch sehr häufig machen.
Drei Wochen USA mit dem RIAS-Programm erwarten mich: Washington D.C., Las Vegas und New York City. Drei tolle Wochen mit interessanten Gesprächspartnern, langen Diskussionen, tausenden neuen Informationen und einer super Gruppe. Es sind einfach zu viele Erlebnisse, um sie in ein paar Zeilen wiederzugeben, deshalb möchte ich in diesem kurzen Bericht nur von meinen Tagen in Las Vegas erzählen.
„Welcome to Fabulous Las Vegas”
Ich irre durch das Einkaufszentrum. Das hatte ich nicht erwartet: Es ist schwieriger die Hotel-Lobby als die Self-Parking-Area zu finden. Völlig erledigt von etlichen Stunden Flug und angesammelter Verspätung schleiche ich durch die Mall. Künstlicher Himmel, Shop neben Shop, Restaurants und Bars. Und das vibrierende Herz in Mitten dieses Komplexes: Das Casino. Vibrierend im wahrsten Sinne des Wortes, denn im Planet Hollywood Resort and Casino hat man sich ganz dem Motto „Jung und sexy” verschrieben, und dazu gehören neben knapp bekleideten jungen Damen, laute Musik und wummernde Beats. Sie werden mich in dieser Woche begleiten, denn egal wo ich hin möchte, verlassen kann ich mein Hotelzimmer nur, indem ich in den knallbunten Aufzug steige, durch das Casino laufe, an ein paar Shops vorbeieile und hinaus trete in ein normales amerikanisches Großstadtleben — so normal wie es in Las Vegas eben sein kann. Immer dabei und aus jedem Lautsprecher zu hören: „California girl” von Kate Perry. Noch am ersten Abend treffe ich meinen Host Tom Hawley von News3. Die Casino-Welt betrachtet er mit besorgtem Blick. Läuft es hier, geht es allen gut in Las Vegas. Läuft es nicht, dann spüren es alle. „Das Experiment” so nennt er den Strip und seine Glitzerwelt. Es scheint mir ein sehr passender Begriff zu sein.
Am nächsten Tag beginnt mein Ausflug in die amerikanische Medienwelt. Redaktionskonferenz des Nachrichten-Teams der lokalen Fernsehstation News3 am Morgen. Das Thema der Woche ist die Midterm-Election. In Nevada kämpft Harry Reid gegen die Tea-Party-Kandidatin Sharron Angle um seinen Sitz im Senat. Noch eine Woche bis zur Wahl und alle im News Room sind leicht genervt oder gelangweilt. 30 Minuten hat eine Nachrichtensendung, aber aufgrund der vielen Wahlwerbung, die gefühlt alle vier Minuten eingespielt wird, bleibt kaum noch Platz für das eigentliche Geschäft. Immerhin: Die Werbung spült Geld in die Kasse der Fernsehstation, und das kann sie dringend gebrauchen. Die Hälfte der Leute wurde aufgrund der Wirtschaftskrise schon entlassen, erzählt man mir. Heute berichtet die USA today, dass die Mormonen mehrheitlich Sharron Angle unterstützten, obwohl doch Harry Reid selbst dieser Religionsgemeinschaft angehöre. Los geht´s, das ist unser Thema. Ich darf eine Reporterin und ihren Kameramann begleiten. Schnell zeigt sich, dass die Nachrichtenproduktion bei uns ein anderes Geschäft ist. Ein zwei kurze Anrufe, dann fahren wir zu einem republikanischen Berater. Ein kurzes Interview, dann geht es weiter zu einer Mormonenkirche, um den obligatorischen Aufsager zu schießen, der in keinem Stück fehlen darf, und schon zurück ins Studio. Die Reporterin schreibt den Text und spricht ihn ein. Dann klemmt sich der Kameramann in die kleine Edit-Suite und versieht den Audiofile mit einem Bilderteppich. Als ich erzähle, dass bei uns die Autoren mit im Schnitt sitzen und wir versuchen, möglichst viele neu gedrehte Bildern zu verwenden, ernte ich überraschte Blicke. Vor der Mormonenkirche darf ich auch mal selber ran. Mein erster Aufsager auf Englisch: Inhalt und „th”, ganz schön anstrengend. Glücklicherweise war das nur zum Spaß.
Und wie geht es dem „Experiment”? Ob es Erfolg hat oder nicht, das sei noch lange nicht entschieden, sagt mein Host. Auf dem Strip tummeln sich die Feierwütigen, ein Werbedisplay größer als der andere ringt um die Aufmerksamkeit der Erlebnistouristen. Aber in den Gucci-Läden und Billabong-Stores sind nur wenige Kunden zu sehen. Neue Projekte, wie eine weitere riesige Einkaufsmall wurden erstmal eingestampft. An den Ausfallstraßen stehen Bauruinen. Elf Stockwerke nur Beton und Stahl. Keine Bauarbeiter mehr. Auf dem Dach ist noch ein Kran montiert. Niemand hat sich die Mühe gemacht, ihn abzubauen. Wozu auch? Das kostet Geld, und das ist einfach ausgegangen. Nevada ist der Staat mit der höchsten Arbeitslosigkeit in den USA. Verlässt man den Strip oder fährt einfach nur lange genug von den Hotels nach Norden, dann sieht man die Probleme, die derzeit viele amerikanische Städte plagen. An einer Straßenkreuzung bietet man mir Autowäsche gegen Geld an. An der nächsten sitzt ein älterer Mann neben seinem Auto, verdreckte Klamotten, das Auto voll mit Plastiktüten — mehr hat er nicht mehr, immerhin einen Platz zum schlafen auf der Rückbank seines Wagens.
Im Newsroom unterhalte ich mich mit einem Reporter über die Journalistenausbildung. Plötzlich klingelt sein Telefon: In drei Minuten muss er auf Sendung. Schnell auf die Position mitten im Newsroom und three, two, one, legt er ein Live-Interview hin, wie es im Buche steht. Kein Stolperer, keine Information doppelt, immer ganze Sätze — ein spontaner perfekter Auftritt. Respekt, ich bin beeindruckt. Wer hätte das bei uns so hinbekommen?
Eigentlich sind die Nachrichtenleute bei News3 neutral. Ob Anhänger der Republikaner oder der Demokraten, dass spielt keine Rolle im Newsroom. Doch auf dem Sender merkt man das nicht immer, denn der ist nicht öffentlich-rechtlich, sondern gehört einem Privatmann. Ein ehemaliger Anwalt entschied vor einigen Jahren, die Fernsehstation zu kaufen und von da an mit Information und Meinungsbildung sein Geld zu machen. Neben seiner Leidenschaft für Autos, scheinen ihn auch Cowboys und Waffen zu faszinieren, die ganze Station hängt voller Westernkleidung inklusive Ausrüstung. Ins direkte Tagesgeschäft mischt er sich weniger ein, aber ganz ohne eigenen Fernsehauftritt, will er auch nicht. Er moderiert eine kleine Interviewsendung, in der er wichtige Menschen aus Las Vegas interviewt. Die Fragen wären allerdings vorher abgesprochen, erzählt man mir.
Ohne Auto hat man in Las Vegas keine Chance. Ich verfahre zwei ganze Tankfüllungen in sechs Tagen. Egal wohin ich möchte, zu Fuß brauche ich es nicht zu versuchen. Ich erkunde nicht nur die Stadt sondern auch die Natur. Die Wüste ist atemberaubend schön. Ich spaziere im Valley of Fire durch rote Steinformationen, klettere im Red Rock Canyon auf Sandstein oder besuche den Hoover Dam, der den Colorado River zum Lake Mead staut. Das Thema „Wasser” interessiert mich. Ich habe das große Glück mit Pat Mulroy, der Gerneral Managerin der Southern Nevada Water Authority zu sprechen. Eine Stunde reden wir über die Wasserversorgung des amerikanischen Westens.
Und die Midtermelections? In Las Vegas sieht man der Wahl recht gelassen entgegen. Ich frage mich, warum ein so renommierter Senator wie Harry Reid überhaupt durch eine Tea-Party-Kandidatin wie Sharron Angle in Bedrängnis geraten kann. Die Antwort, die ich erhalte, ist überraschend: Eine Innenarchitektin erzählt mir, Harry Reid sei einfach viel zu langweilig, zu fad, zu blass. Dieser Meinung begegne ich des Öfteren in den sechs Tagen in Las Vegas. „Frischen Wind”, dass wünschen sich viele in Nevada. Als ich diese Bemerkung einen Tag nach der Wahl gegenüber einer Professorin der Columbia-Universität in New York erwähne, ernte ich einen bösen Blick. Reid sei ein sehr erfahrener und fähiger Politiker, sagt sie mir. Die Leute in Las Vegas aber, sind eher weniger begeistert von ihrem Senator. Das kann ich auch selbst beobachten, als ich eine Wahlkampfveranstaltung in einer High School besuche. Wie findet man Zuschauer, die Lust haben, dem Demokraten zuzujubeln? In diesem hispanisch geprägten Stadtteil hat man eine einfache Lösung gefunden. Sie heißt Manny Pacquiao. Der Boxprofi hat zehn WM-Titel in acht Gewichtsklassen gewonnen. Er begleitet an diesem Abend den Wahlkampfauftritt des Senators. Auf den Werbezetteln ist sein Name wesentlich größer gedruckt. Eine ältere Frau gesteht mir offen, sie sei hier, um ihr Idol Pacquiao zu sehen. Die Liebe der Menge zu Manny zeigt sich auch beim Warm-Jubeln: Die „Manny”-Rufe sind zehnmal lauter als die für „Harry”. Ich habe eher das Gefühl auf einem Volksfest zu sein, als auf einer politischen Werbeveranstaltung.
Bei der täglichen Konferenz ist heute mal der Besitzer der Station dabei. Er wettert gegen die Tea Party, lobt Harry Reid und zieht sich dann zurück, um sein Editorial zu produzieren. Gesendet wird die Lobeshymne auf die Demokraten um 5 Uhr, zu Beginn der Nachrichten. Ich stehe mit einigen Reportern und Kameralauten im Pausenraum. Irgendetwas stimmt mit dem Bild doch nicht, denke ich mir. Dann weiß ich es: „Hey, da sind Bild und Ton um ein oder zwei Frames verschoben”, bemerke ich. „Das ist nicht synchron.” Die Reaktion: Achselzucken und ein kleines Lächeln bei manchen. Wenn man sich schon nicht wehren kann gegen die Meinung des Besitzers, dann sorgt manchmal wenigsten die Technik für ausgleichende Gerechtigkeit.
Und dann das Highlight meines Las Vegas Besuchs. Mein Host nimmt mich mit an seinen Arbeitsplatz. Als Verkehrreporter berichtet er täglich mehrfach live aus dem Helicopter. Eine Stunde fliegen wir am frühen Morgen über die Stadt.Unter uns glitzert und funkelt es. Las Vegas präsentiert sich von seiner besten Seite. Dann geht die Sonne auf über der Wüste und zeigt die Zerrissenheit dieser Stadt: Die Pyramide des Luxor Hotels kaum einen Kilometer entfernt von den Betonskeletten; frei hängende Jacuzzis im 13. Stock eines Hotels mit riesigem Playboy-Bunny auf der Fassade keine 400 Meter entfernt hinter dem Highway eine alte Industriestraße, dreckig, Flachbauten, Müll an der Straße; Einfamilienhäuser mit Swimmingpool in jedem Garten, auf der anderen Seite der Straße — Steine, trockene Erde, die Wüste.
Ebenso unvergesslich wie dieser Flug über die Stadt, war der ganze Besuch mit dem RIAS in den USA. Noch nie habe ich in so kurzer Zeit so viele neue Eindrücke und Informationen gesammelt, so viele Details und Facetten einer Kultur kennen gelernt, wie in diesen drei Wochen. Herzlichen Dank dafür!
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Christina Hofmeier, Editor, NDR, Hamburg
Pete Diamondstone will Senator werden
„This country is so rotten and corrupt, we have to change the system!” Wie bitte? Diesen Satz kann er nicht wirklich gesagt haben. Live. Im amerikanischen Fernsehen. Im Public Television von Vermont, um genau zu sein. An einem kalten Oktoberabend stehen im aufgeheizten Studio in Burlington sieben Kandidaten, die um das Senatorenamt kämpfen. Fünf Tage vor den Midterm Elections hauen sie sich ihre Argumente um die Ohren. Einer von ihnen ist Pete Diamondstone. Cool. Kämpferisch. Sozialistisch. Mit glasklaren Thesen: „The working class is loosing its war against the wealthy!” Und: „The only thing perfect in our country is corruption!” Oder ganz einfach: „Socialism is not an option. It is an imperative!”
Okay! Nicht unbedingt das, auf was ich zu hören gefasst war in dem Land, dessen politischer Diskurs derzeit vor allem um die neokonservative Tea-Party-Bewegung zu kreisen scheint. Und mit der deutschen Berichterstattung der vergangenen Wochen im Ohr, bei der man fast schon den Eindruck gewinnen konnte, als würde die amerikanische Politik nur noch aus Leuten wie Glenn Beck und Sarah Palin bestehen. Doch weit gefehlt! Bis zu Pete Diamondstone hoch oben am nördlichsten Zipfel der Ostküste hatten es eben einfach noch kein Mikrofon und keine Kamera geschafft. Schade eigentlich, denn der Mann ist wirklich amüsant. Gerade haut er wieder einen seiner Sätze raus: „We can’t just change the personnel, we have to change the system!”
Zugegebenermaßen ist die Zustimmung zu Mister Diamondstones Ideen eher gering, in der kleinen Runde, die da gerade über die Bildschirme in Vermonter Wohnzimmer flimmert. Pete ist mit seiner übergroßen Honecker-Brille und den radikal-anachronistischen Thesen vielleicht der Exotischste von allen, doch auch die Anderen haben Unterhaltungspotential. Sie alle wollen den einen (der insgesamt zwei) Senatorenposten, der 2010 zur Wahl steht. Unter ihnen Cris Ericson, eine sehr blond gefärbte Frau in ihren späten 50-ern, die für die „United Nations Marijuana”-Partei antritt. Sie ist die Agilste von allen: winkt in die Kamera, zitiert aus mitgebrachten Zeitungsartikeln und schafft es, 88 Minuten lang kein Wort über Marihuana zu verlieren. Stattdessen äußert sie den Verdacht, dass Obama ein Muslim sei, fordert strengere Kontrollen an der Grenze zu Mexiko, um illegale Einwanderer aus dem Land zu halten, und versucht, sich mit der politisch eher weniger brisanten Forderung nach Schwimmzonen in Vermonter Seen zu profilieren. Erst in Minute 89 fällt das „M-Wort”: „And it is time to end Marijuana prohibition! May God bless America!” Ebenfalls im Rennen ist Johenry Nunes, ein offenbar homosexueller Offizier mit portugiesischem Migrationshintergrund, der sich zur Überraschung aller Anwesenden gegen Ende der Sendung vor laufenden Kameras outet. Dies wiederum motiviert einen weiteren Kandidaten — ein gewisser Daniel Freiling — vom traurigen Scheitern seiner Ehe zu berichten. Für den Senat zu kandidieren, scheint in Vermont eine Art therapeutische Wirkung zu haben. Angesichts so viel intimer Information verblassen die beiden Kandidaten von „Democrats” und „Republicans” fast schon -– etablierte Politikroutiniers, die sie sind.
Im Land von Ben & Jerry
Die Kandidatenrunde zur Senatorenwahl ist eindeutig das Highlight meiner einwöchigen Station Week in Vermont. Politisch gesehen jedenfalls. Davon abgesehen hat der Staat an der Grenze zu Kanada natürlich noch viel mehr zu bieten: rotgelbe Wälder am Ende des Indian Summer, bunte Kolonialhäuschen in Burlington und der Hauptstadt Montpelier, Berge und Hügel von den Green Mountains bis zum Mount Snow — alles versehen mit einem Hauch von John Irving, nur ohne Bären. Und ganz wichtig: die Ben und Jerry Icecream Factory in Waterbury. Dort haben die Eishippies Ben Cohen und Jerry Greenfield ihre verrückten Eissorten erfunden, nachdem sie sich als pummelige Jungs in der Highschool angefreundet hatten, weil sie beide den Schulsport hassten. Stattdessen wurden sie Icecream-Millionäre.
All das erzählt mir mein Host Joe Merone vom Public Television. Auch, dass Vermont der erste Staat der USA war, der vor ein paar Jahren die Homoehe erlaubt hat. Und dass Obama hier 2008 die meisten Stimmen bekam — gleich nach Hawaii. Aber Vermont ist ja auch New England und New England praktisch Einzugsgebiet von New York City. Alles in allem eher Amerika-untypisch –- verglichen jedenfalls mit den Südstaaten oder dem Mittleren Westen.
Freedom of Speech
Ein sehr liberaler Staat also, offensichtlich auch was die Zulassung von Kandidaten zu Wahlen und damit einhergehende Meinungsäußerungen betrifft. Im Fernsehstudio des Public Television läuft der sozialistische Kandidat für den Senat nach circa einer Stunde jedenfalls zur Hochform auf. Seine kleinen Augen hinter der riesigen Hornbrille blitzen, die grauen Locken wippen vor Zorn, und dann kommt es, das ultimative politische Konzept von Mister Pete Diamondstone: „We have to make sure that every country in the world has nuclear weapons to protect itself against the United States!” Ah, jaa….interessanter Ansatz…Mein Kommentar in der Regie — „You DO take freedom of speech very seriously” — löst bei meinem Host Joe nur resigniertes Kopfnicken aus: „Yes, we doooo!“
Was war sonst noch: eine spannende Woche in Washington D.C., eine rasante Woche in New York City, ein rundherum inspirierendes Programm und mit Jon Ebinger ein harter, aber herzlicher Guide und Organisator. Danke, Rias!
Übrigens: Senator ist dann doch nicht Pete Diamondstone geworden. Sondern Patrick Leahy von den Demokraten, der das Amt bereits seit 35 Jahren innehat. Mister Diamondstone will bei der nächsten Wahl allerdings wieder antreten, es wäre dann seine 21. Kandidatur. Wenn es irgendwie geht, werde ich mir die Debatte im Public Television nicht entgehen lassen.
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Dominik Jozic, Editor, WDR Funkhaus Europa, Köln
Wo soll ich anfangen? Und wo aufhören? Drei Wochen USA lassen sich nicht einfach in einem Essay zusammenfassen. Dazu haben wir einfach viel zu viel erlebt. Deshalb gibt’s an dieser Stelle drei unabhängige Kapitel — für jede Stadt eines.
It’s Tea Party time
Washington D.C. kurz vor den Kongresswahlen. Neben der Tatsache, dass ein Großteil der Amerikaner Barack Hussein Obama auch zwei Jahre nach seiner Wahl zum Präsidenten immer noch für einen Moslem hält, beschäftigte uns in der Hauptstadt vor allem ein Thema: Die Tea Party. Für die meisten unserer Gesprächspartner war diese erstarkende rechtspopulistische Bewegung um Sarah Palin genauso faszinierend wie für uns. Trotz ihrer vergleichsweise kleinen Anhängerschar wurde ihr doch eine große Bedeutung beigemessen. Selbst wenn einige Tea Party-Kandidaten den Sprung in den Kongress nicht schaffen sollten — für ausreichend Unruhe im republikanischen Lager hätten sie bereits gesorgt, so die Experten. Und diese Einschätzung konnten wir nachvollziehen. Auch wenn der Vergleich etwas hinkt: Man muss sich nur einmal vorstellen, was passieren würde, wenn all die rechtskonservativen CDU-Mitglieder, die Angela Merkel in den letzten Jahren mit konsequenter Nichtbeachtung bestraft hat, eine Art Graswurzelbewegung bildeten. Ein Teil der Deutschen würde sicher mit ihnen sympathisieren.
Doch zurück in die USA. Ich hatte zwar schon einiges über Fox News gehört, aber dass ein TV-Kanal so offen mit einer politischen Bewegung sympathisieren kann, war für mich dann doch sehr ungewohnt — und gleichzeitig unheimlich spannend. Die Tea Party-Ikone Sarah Palin war praktisch rund um die Uhr zu sehen, aber oft tagelang mit den immergleichen Einspielern von zurückliegenden Wahlkampfauftritten. Palin gegen Obamas Gesundheitsreform. Palin für Steuersenkungen. Palin für weniger Staatsverschuldung. Wie sie die Steuerausfälle kompensieren würde, dazu gab es keinen Einspieler. Aber das schien auch gar nicht so wichtig zu sein. Schließlich war Sarah Palin nicht die einzige Politikerin, die im Wahlkampf fast ausschließlich mit den vermeintlichen politischen oder privaten Verfehlungen der Gegner auf Stimmenfang ging. Und da es alle so machten, fiel es vermutlich auch keinem mehr richtig auf.
Allein unter Deutschen oder „Wer kennt wen?”
„Oh, you’re German? My grandma’s from Germany, too!” Wer als Deutscher in den USA unbedingt den exotischen Paradiesvogel spielen will, der sollte sich auf keinen Fall nach Minnesota verirren. Vor allem in Minneapolis und der Zwillingsstadt St. Paul stolpert man andauernd über irgendwelche deutschen Wurzeln. Egal ob großmütterlicherseits oder großväterlicherseits: Rund jeder dritte Minnesotaner kann in seinem Stammbaum einen deutschen Auswanderer aufweisen, der vor langer Zeit per Schiff den Atlantik überquert hat. Und so war es dann auch nicht weiter überraschend, dass das Standard-Erklärungssätzchen zu meiner Herkunft regelmäßig zum Auslöser für ein aufgeregtes „Wow, that’s great! My grandpa…” wurde.
Dabei blieb es aber nicht. Nach einem „Herzlek wellkommen” wurde meine Anwesenheit sofort zur papierlosen Ahnenforschung genutzt. Ob ich denn Muellers in Deutschland kennen würde, wurde ich einmal gefragt. Und der künftige Gouverneur von Minnesota, Mark Dayton, verriet mir in einem kurzen Gespräch, dass er eigentlich Mark Brandt Dayton heiße, da seine Mutter deutsche Wurzeln habe. Aber auch ihm konnte ich leider nicht weiterhelfen, denn unter Brandt gibt’s allein im Kölner Telefonbuch 140 Treffer und eine Verwandtschaft mit dem ehemaligen Bundeskanzler Willy Brandt oder dem Zwiebackhersteller konnte Dayton selbst ausschließen.
Dass sich so viele Müllers und Brandts im „Upper Midwest” niedergelassen haben, hat seinen guten Grund. Die Böden in der Gegend galten als besonders fruchtbar und so kamen vor rund 150 Jahren neben Skandinaviern vor allem Deutsche, die in der so genannten Kornkammer Amerikas einen Neuanfang als Landwirt wagen wollten.
Übrigens: Wem die Zwillingsstädte St. Paul und Minneapolis immer noch viel zu amerikanisch sind, der sollte sich ins Auto setzen und die Autobahn in Richtung Süden nehmen. Nach anderthalb Stunden Fahrt erreicht man das kleine Städtchen New Ulm. Am Ortseingang begrüßt einen ein Männchen in Lederhosen vor schwarz-rot-goldenem Hintergrund, und im Ortskern steht eine Kopie des Hermanns-Denkmals aus dem Teutoburger Wald. Und jetzt raten Sie mal, was die Neu-Ulmer im Oktober feiern. Auch das ist Amerika!
It’s the stupid economy
Ehrlich gesagt waren wir schon ein wenig nervös. Denn als Allround-Journalist bekommt man nicht jeden Tag die Möglichkeit, einen echten New Yorker Hedge- Fonds Journalisten ausquetschen zu können. Viel wurde in den vergangenen Jahren berichtet über die Heuschrecken aus den USA. Und nun saßen wir Mr. H. — praktisch dem Gehirn einer Heuschrecke — gegenüber, und freuten uns auf eine spannende Stunde. Doch die erwartete knallharte Diskussion blieb leider aus. Erstens, weil wir feststellen mussten, dass unser Wirtschaftsenglisch einfach nicht dazu ausreicht. Und zweitens, weil Mr. H. uns mit seiner klar strukturierten, wirtschaftsliberalen Sicht der Dinge oft den Wind aus den Segeln nahm. Wir hatten einfach nicht damit gerechnet, dass man ein Geschäft, bei dem es im Extremfall um hunderte Arbeitsplätze geht, so wenig emotional beschreiben kann.
Nachdem wir irgendwie auf die amerikanische Autoindustrie zu sprechen kamen, wurde Mr. H. aber plötzlich doch noch emotional. Er selbst fährt nämlich einen Porsche. Und das, obwohl er seine ganze Kindheit davon geträumt hatte, einmal einen Cadillac zu besitzen. Nur leider hat die Traditionsfirma aus Michigan mittlerweile einen ziemlich schlechten Ruf, was den sonst so kühlen Manager wirklich traurig stimmte. Für uns war sein Privatwagen auf jeden Fall ein guter Anlass, um das Thema zu wechseln. Denn über deutsche Autos lässt es sich selbst auf Englisch leichter fachsimpeln als über Hedge-Fonds und Heuschrecken.
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Birgit Langhammer, Anchor/Author/Reporter, NDR Info, Hamburg
Drei Wochen USA …mit so vielen Eindrücken, Erlebnissen, Gesprächen — wo anfangen und wo aufhören? Ich verlasse mich darauf, dass die andern Stipendiaten ein bisschen mehr zu Washington und New York schreiben und beschränke mich auf einen …
… Tag in Cincinnati, Ohio — the real America
Es regnet in Strömen und der Wind pfeift um das historische Rathaus der Stadt. Doch im großen Sitzungssaal ist davon kaum etwas zu bemerken. Auf den angekündigten Tornado werden wir erst aufmerksam, als die Warnung auf den kleinen Fernsehbildschirmen aufleuchtet. Seit 1893 steht das imposante Gebäude mit Glockenturm bereits — seitdem hat es einige Stürme überstanden. Auch im Plenarsaal.
Wir (Ansgar Rau vom WDR und ich) verfolgen eine öffentliche Sitzung. Eingeladen hat uns einer unserer Hosts, Laure Quinlivan, selbst jahrelang als investigative Reporterin unterwegs, heute City Council Mitglied. Als es für lange und gut recherchierte Geschichten kein Budget mehr gab wechselte sie die Seiten.
Ein Jahr ist sie nun schon im Rathaus und — wie sie lachend erzählt –bekommt langsam einen Überblick über die Themen, die „Cincy”, wie der Einheimische den Stadtnamen liebevoll abkürzt, beschäftigen. Und das sind eine Woche vor den Wahlen nicht die Midterm Elections, sondern lokalpolitische Themen. Bei der heutigen Sitzung kann sich jeder Bürger melden und sein Anliegen vortragen. Meist geht es um Dollar — so wirbt z.B. ein Puppentheater um Fördergelder der Stadt.
Aber auch über Umweltschutz wird gesprochen, ein besonderes Anliegen von Laure. Ihr Thema: Die Mülltrennung, an der sich bislang kaum jemand beteiligt. In einem Land mit viel Platz für große Mülldeponien ist die Notwendigkeit von Recycling eben nur schwer vermittelbar. Deswegen hat Cincinnati als erste Stadt im Mittleren Westen eine große Kampagne gestartet. Alle Bürger bekommen neue Mülltonnen für Plastik, Papier und Glas — kostenlos. Jeder, der die Tonnen ordnungsgemäß füllt, kann sich über Gutscheine für McDonalds, Pizza Hut oder für Museen freuen. Das System ist einfach: Beim Abholen wird die Müllmenge verzeichnet, je nach Menge werden dem Haushalt Punkte gutgeschrieben. Im Internet können diese dann gegen Gutscheine eingetauscht werden. Nach Berechnungen der Stadt kann ein Vier-Personen-Haushalt so pro Jahr bis zu 200 Dollar erwirtschaften. Und dann ganz viele neue Pizzakartons recyceln…
Der Regen hat inzwischen etwas nachgelassen, es haben sich riesige Pfützen in den Schlaglöchern der Straßen gebildet, ein paar einsame Wahlplakate flattern im Wind. Drei Blocks vom Rathaus entfernt arbeitet unser zweiter Host, die Radiomoderatorin Ann Thompson, bei 91.7 WVXU. Sie interviewt gerade einen Uniprofessor und zwei Studenten. Es geht um die bevorstehenden Midterm-Elections, aber nicht um politische Inhalte, sondern um Barcodes, mit denen Wähler registriert werden. So kann genau festgestellt werden, welchen Einfluss die Wahlkampfteams haben, und noch am Tag der Elections können so gezielt Wähler in die Wahlkabine gerufen werden. Per Telefon oder per Mail. Ein System, das in Deutschland wegen des Datenschutzes unmöglich wäre. Hier wird es einfach gemacht — Straßenwahlkampf existiert kaum noch.
Eine wichtige Erkenntnis im Radiosender: das Internet ist in den USA ein elementarer Bestandteil der täglichen Redaktionsarbeit. Und zwar nicht nur für die Recherche — besondere Aufmerksamkeit wird den sozialen Netzwerken gewidmet. Auch Ann muss nun nicht nur einen Radiobeitrag produzieren, sondern das Soundfile ins Netz stellen, das Thema für Facebook aufbereiten und noch ein paar Schlagworte dazu twittern. Und manchmal schlägt Quantität so auch Qualität.
Zum Abschluss des Tages besuchen wir dann doch noch eine Wahlkampfveranstaltung und zwar der Republikaner. Hier treffen wir einen weiteren Host, den Multimediajournalisten Chris Knight, der als Kameramann für WLWT-TV im Einsatz ist. Und wie sich eine Woche später herausstellt haben wir an diesem Abend den neuen Governor of Ohio live erlebt. John Kasich löst den demokratischen Amtsinhaber ab.
Und damit wird Ohio wieder — wie so oft — interessant für das ganze Land und auch die ausländischen Medien. Denn Experten sind sich einig, dass der Bundesstaat bei Präsidentschaftswahlen eine ganz entscheidende Rolle spielt. In den USA hat man dafür bereits ein eigenes Sprichwort: „So goes Ohio, so goes the nation”
Fazit:
Cincinnati, the Queen City, hätten wir privat sicherlich nicht besucht. Aber entgegen aller Vorurteile war es wirklich eine interessante Woche. Wir haben viel gesehen, wirklich nette Hosts kennengelernt und können jetzt vielleicht auch in unserer täglichen Berichterstattung einiges besser einordnen. Denn wie wir so oft in den drei Wochen gehört haben: Amerika ist mehr als Washington und New York City.
Noch ein Tipp für alle Stipendiaten, die den Austausch noch vor sich haben. Wenn es geht, dann bleibt ein paar Tage länger im Land der unbegrenzten Möglichkeiten und lasst das Erlebte etwas sacken, bevor Ihr nach good old Germany zurückfliegt.
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Jutta Müller, Reporter/Editor, ZDF, Berlin
Willkommen in den USA
Die Parkanlagen voll mit Joggern, es ist ein warmer, sonniger Herbsttag. Die Stadt ist flach gebaut und sehr grün, einfach einladend. Washington D.C. zeigt sich bei meiner Ankunft von seiner besten Seite. Was kommt in den folgenden drei Wochen hier in den USA auf mich zu? Alles steht im Zeichen der Midterm Elections. Halbzeit für Barack Obama in seiner ersten Amtszeit als U.S.-Präsident. Wie reagieren Land und Leute nach zwei Jahren auf seine Politik des „Change”?
Bei vielen exklusiven Gesprächen, die wir mit Regierungsberatern und bei Fernsehsendern führen, spüren wir bald: Es herrscht Verunsicherung in dem Land, das seinen Optimismus doch eigentlich nie zu verlieren scheint. Auf die geplatzte Immobilienblase, die Auswirkungen der weltweiten Finanzkrise und die hohe Arbeitslosigkeit muss jetzt schnell ein Erfolg her: „Yes, we can!” Doch was will und muss Amerika nun eigentlich können können? Welches Problem zuerst anpacken? Die Tea Party, der konservative Flügel der Republikaner, wittert gerade jetzt ihre Chance und fordert: Weniger Staat, weniger Steuern. Setzt sich die zweite große Partei im Land schon bald wieder durch? — fragen sich einige. Welche Möglichkeiten hatte Obama in so kurzer Zeit eigentlich wirklich? — frage ich mich?
„Free Market” lautet auch die Zauberformel des konservativen Think Tank The Heritage Foundation. Solidargemeinschaft ist hier ein Fremdwort. Eine Gesundheitsreform in den USA? „Wieso sollten gesunde Menschen von ihrem Geld die Behandlung Kranker bezahlen?,” wollen die freundlichen Herren Brian Darling und Matt Streit von uns wissen. „Das ist Sozialismus und hat vielleicht in Deutschland Erfolg. Bei uns in den USA ist das unvorstellbar!” Eine hitzige Debatte zwischen deutschen Journalisten und amerikanischen Regierungsberatern bleibt nicht aus.
Unser RIAS-Guide Jon Ebinger führt uns eng getaktet, aber zuverlässig durch die U.S.-Hauptstadt und vermittelt uns interessante Gesprächstermine u. a. bei CNN und Al Jazeera. Auf dem Capitol Hill bekommen wir seltene Einblicke in die Arbeit der U.S.-Hauptstadtjournalisten. Wir fragen z.B. im State Department den langjährigen CBS-Reporter Charlie Wolfson nach seinen persönlichen Erfahrungen mit all den U.S.-Außenministern, die er auf deren Auslandsreisen nach Nahost, Afghanistan und in den Irak begleitet hat.
Mit vielen Eindrücken im Kopf geht es nach dieser aufregenden Woche in die „Station Week”. Ich fliege an die Westküste des Landes, zu KGW TV nach Portland, Oregon.
Rauer Nordwesten
Bei meiner Landung regnet es wie aus Eimern. Doch das Herbsttief an der Pazifikküste mit Stürmen und heftigen Niederschlägen definiere ich für mich als pures Glück. Denn Experten sagen, Oregon hat eine der weltweit gefährlichsten Küstenregionen. Genau dorthin schickt KGW TV seinen Wettermann Rod Hill, ich kann ihn gleich an meinem ersten Tag im Sender bei Dreh und Live-Schalte begleiten. An der Flussmündung des Columbia River peitschen die Wellen nur so an Land, Schiffe dürfen hier jetzt längst nicht mehr fahren. Aber Rod und sein Kameramann können eindrucksvolle Bilder und O-Töne liefern.
Wetterthemen gehen beim Privatsender KGW TV immer. Mit Reporterin Keely Chalmers fahre ich zum Dreh in die Berge. Auf dem Mt. Hood, einem von mehreren Vulkanen, die zusammen den „Ring of Fire” bilden, liegt so viel Schnee, dass die Skilifte dieses Jahr schon Ende Oktober öffnen. Das ist definitiv einen Beitrag wert. Vom Sender bekomme ich Skijacke, -hose und wasserdichte Stiefel gestellt. Diese Ausrüstung für den eher rauen Tageseinsatz gibt’s für alle Reporter, die eigentlich jeden Morgen schick gekleidet zur Sitzung erscheinen. Man weiß ja nie, was der Tag so bringt.
Wahlendspurt auch in Oregon. Mit Reporter Pat Doorie treffe ich die beiden Kandidaten für das Amt des Gouverneurs: Jim Kitzhaber, Demokrat, er hatte dieses Amt schon einmal inne. Und den 2,11m-Mann Chris Dudley, Republikaner, ehem. NBA-Star, ohne politische Erfahrung. Ein Typ, der mich an Arnold Schwarzenegger erinnert, nur zwei Köpfe größer. Heute also für beide ein letzter Kampf um Wählerstimmen, der eine am Telefon, der andere in einer Talkshow. Ein Kopf-an-Kopf-Rennen laut Prognosen, im eigentlich demokratischen Oregon. Ich nehme vorweg: Jim Kitzhaber gewinnt ganz knapp.
Die Stadt Portland überrascht mich positiv. Die Menschen sind umweltbewusst, auf dem Markt gibt’s ungespritztes Gemüse aus der Region. Viele fahren Fahrrad, sogar eine Straßenbahn gibt es hier. Ein bisschen wie in Europa, bin ich wirklich in den USA? Das Land hat viele Gesichter. Die Umgebung ist traumhaft schön und saftig grün. Klar, denn es regnet hier ja auch 150 Tage im Jahr. Nach einer abwechslungsreichen Woche bei KGW TV geht es für mich wieder zurück an die Ostküste der USA.
Der Schmelztiegel
Furchteinflößende Fratzen wohin ich nur blicke. Wer hat das blutrünstigste Gesicht, wer das verrückteste Kostüm? Halloween hat New York bei meiner Ankunft fest im Griff. Ein Auftakterlebnis der gruseligen Art in der Stadt, die in dieser Nacht wirklich nicht zu schlafen scheint.
Bei der UNO die Räume von Sicherheitsrat und Vollversammlung besichtigen und an einer Pressekonferenz vor Ort teilnehmen, auch das ist für mich ein beeindruckender Termin auf dieser Reise. Genauso wie die Besuche bei einem Hedge Fond Manager, bei der New York Times und dem American Jewish Committee. In New York fallen mir die vielen Religionsgemeinschaften auf: Juden, Muslime, Christen, Baptisten. Bei einem Gospelgottesdienst in Harlem sind wir vom ekstatischen Körpereinsatz der Gläubigen fasziniert. Die diensthabende Krankenschwester in der Kirche hat jedoch alle Hände voll zu tun.
Dann endlich: Midterm Elections. Wir sind am Abend auf der Wahlparty der Demokraten. Und sie ist exakt so, wie ich sie von der Fernsehberichterstattung aus Deutschland kenne: Jubelnde Menschen strecken Plakate mit dem Namen des Kandidaten in die Luft. ”Born in the USA” trällert vom Band. Die Stimmung euphorisch, denn gerade hat sich bestätigt: Der Gouverneur von New York ist und bleibt demokratisch.
Noch am selben Abend stellt sich für Barack Obama heraus: Die Mehrheit des Senats bleibt zwar in demokratischer Hand, das Repräsentantenhaus geht jedoch an die Republikaner. Mit der Gesundheitsreform habe Obama aufs falsche Thema gesetzt. Der Kampf um Arbeitsplätze sei jetzt noch wichtiger für die Menschen im Land, sagt man uns an der Columbia University am Tag danach. Der Kongress gespalten. Was muss Obama jetzt bis zur U.S.-Präsidentschaftswahl 2012 tun? Bekommt er dann noch eine zweite Chance?
In drei unvergesslichen Wochen erhielt ich einen Einblick in ein Land, das unglaublich vielseitig ist. Washington ist nicht Portland ist nicht New York! Und es gibt ja darüber hinaus noch so viel mehr. Noch etwas fiel mir auf: Die Amerikaner, die ich kennengelernt habe, sind äußerst freundlich, offen und hilfsbereit. Sie strahlen damit eine gewisse Leichtigkeit aus, die das Miteinander sehr angenehm macht. Ein herzliches Dankeschön an die RIAS-Kommission, die mir diese einmalige Reise ermöglicht hat!
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Simone Müller-Rudolph, Editor/Reporter, ZDF, Mainz
Yes, we can!!! hieß es vor zwei Jahren als Obama gewählt wurde. „…but it’s not going to happen overnight…,” heißt es im Oktober 2010 in der James Stewart Show. Der Präsident ist zu Gast, spricht diese Worte selbst.
Wir sind zu Gast in den USA, vor und während der Midterm-Elections. Eine spannende Zeit. Amerika hat sich verändert. Wir erleben keine Supermacht, sondern ein verwirrtes Land. Ängstlich. Demagogen schüren die Wut in Fernsehsendern wie Fox News. Und die neugegründete Tea Party versucht auf dieser Welle der Wut gegenüber der Hauptstadt zu reiten. Wir lesen eine Statistik: 47% der Amerikaner glauben nicht, dass der Amerikanische Traum noch realistisch ist.
Die erste Woche sind wir in Washington, sozusagen dem Zentrum der Macht. Trotz hoher Kriminalitätsstatistik wirkt die Stadt grün und ruhig. Wir diskutieren viel mit Mitarbeitern von Think Tanks und Fernsehstationen. Wir spüren: hier brodelt es. Experten warnen uns vor Demagogen, die Obama-bashing betreiben. Die behaupten er sei ein Muslim, der nur vorgibt ein Christ zu sein. Im Brooking-Institut, einem der ältesten den Demokraten zugetanen Think Tank der USA, erklärt uns Darrell West, Obama habe doch alles angeschoben was er wollte: Der Abzug aus dem Irak hat begonnen, die Bündnisse sind gestärkt, die Wirtschaftskrise mit einem 800 Milliarden Dollar Paket bekämpft. Die Bildungspolitik ist an der Leistung und an der Verbesserung der miserabel ausgestatteten Public Schools orientiert. Bill Clinton scheiterte an der Gesundheitsreform, Obama hat sie in einem nervenaufreibenden Verfahren durchgebracht. Darell West ist ratlos: Warum will das Land augenscheinlich in Kürze lieber einen politischen Patt akzeptieren, statt seinem Präsidenten etwas mehr Zeit zu geben?
Vielleicht muss man nach Michigan gehen, um Antworten zu finden. Hier spürt man: Die Supermacht findet keinen Weg aus der Krise. In der Hauptstadt Lansing arbeiteten früher zehntausende in der Autoindustrie, heute sind es gerade mal 1.100. Die Stadt wirkt stellenweise trostlos. Nicht so WLNS Channel 6, der Regionalsender, bei dem ich meine station week verbringe. Dave Akerly ist mein Host, er moderiert die Nachrichten um 17, 18 und 23 Uhr. Morgens fährt er sogar oft noch als Reporter raus. Auch an unserem ersten gemeinsamen Tag. Wir besuchen eine klassische Family Farm, die sich der Republikaner Rick Snyder für seinen Wahlkampfauftritt ausgesucht hat. Er hat keine politische Erfahrung, bis vor kurzem war er im Vorstand einer Computerfirma. Solche Leute hätten es in Deutschland schwer, nicht in den USA. Die Zeiten sind sowieso schlecht für Berufspolitiker, die Skepsis groß. Aber Michigan ist nicht Silicon Valley. Auf Computer kann Rick Snyder nicht setzen: Er will die Landwirtschaft stärken. Jetzt, wo die Autoindustrie zusammengebrochen ist. Back to the Roots. Den Leuten hier gefällt das, der Besitzer der Farm kämpft mit den Tränen. Wenn das sein Vater noch erlebt hätte.
Das Interview war gedacht für ein sechzig Minuten Spezial zur Wahl. Das moderiert Dave Akerly auch noch zwischendurch. In der Regie sitzen eine Redakteurin, ein Bildmischer und ein Toningenieur. That’s all. David und ich diskutieren noch bis zehn Minuten vor Sendungsbeginn. Dann rennt er los, verkabelt sich selbst mit seinem Mikrofon, ein einzelner Kameramann richtet die Kamera ein und los geht’s.
Ich verbringe eine interessante Woche bei WLNS TV6. Und erkenne, dass Fernseharbeit in Deutschland noch weitgehend anders funktioniert als in den USA. Dort besteht ein EB-Team nur noch aus Reporter und Kameramann, die Autoren schneiden ihr Stück selbst und erst wird der Text geschrieben, aufgenommen und danach die Bilder zugefügt. Am letzten gemeinsamen Tag fahren wir nach Detroit, wo Dave mir die Industrieruinen einer „verlorenen Stadt” zeigen möchte. Die ehemalige Train Station, das Tiger Stadion und die verlassene Packard-Autofabrik strahlen eine absurde Traurigkeit aus.
Zurück in New York, wo die letzte Woche des Programms wieder gemeinsam verbracht wird. Die Demokraten gewinnen hier am 2. November und wir sind bei einer fulminaten Siegesfeier im Sheraton mit dabei. Noch einmal spürt man den „alten Spirit”, die Zuversicht in das Land und den Stolz auf den ersten schwarzen Präsidenten. Doch der nächste Tag ist der erste Tag einer schwierigen Phase. Die Republikaner haben die Mehrheit im Repräsentantenhaus erlangt. Am Ende unseres Amerika-Programms ist Obama eine „lahme Ente”.
Wir Teilnehmer des Herbstprogramms 2010 hatten das Privileg eine politisch hochspannende Zeit zu erleben. Darüber hinaus werden mir viele Begegnungen sicher lange in Erinnerung bleiben. Es war nicht nur eine interessante und lehrreiche Zeit, es war auch eine schöne und sehr emotionale Zeit. Und manchmal ganz schön anstrengend…
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Ansgar Rau, Editor, WDR, Köln
Das war vielleicht ein Trip! So viele Eindrücke, so viel gelernt. Klar gibt es kulturelle Unterschiede — die sind sofort aufgefallen. Dass ich als 50-jähriger vor dem Betreten der Kneipe nach der ID gefragt werde? Geschenkt. Aber warum eine nagelneue Blue Jeans inklusive dem extra für das RIAS Programm angeschaffte Sakko mit 1a gebügeltem Hemd nicht als ordentliche Kleidung für Meetings gehen? Das ist eben anders in den USA. Genauer gesagt: jede noch so schlecht sitzende Stoffhose ist scheinbar besser. O.K., das habe ich dann auch gelernt. Dann noch diese Vorgaukelei günstiger Preise. Kaum hat man die Rechnung in der Hand, ist die ursprüngliche Summe nicht wiederzuerkennen. Steuer und 15% Trinkgeld lassen an schlimmste Inflationszeiten erinnern. Und dass man beim Tanken erstmal die Hose runterlassen muss, sprich seine Kreditkarte am Tankhäuschen abgeben muss, spricht nicht gerade für ein vertrauensvolles Verhältnis zum Kunden. Na und dann die Verkäuferin, die auf meine Frage, ob sie mir denn eine stinknormale Straßenkarte verkaufen könne, mit erstauntem Blick antwortet: „We don’t sell any maps in this country!”
Aber manche Dinge sind beruhigend ähnlich. So wie auf Jacks Party, zu der er uns freundlicherweise eingeladen hat. Tür und Fenster waren offen — klar dass der Nachbar die Polizei ruft und eine gewisse Hektik beim Gastgeber entstanden ist. Wäre bei einer guten Party bei uns auch nicht anders. Nur dass bei uns die Polizei meistens erst nach dem dritten Mal die Bühne erfolgreich verlässt. Bei Jack war nach dem Auftritt des Polizisten ganz schnell Schluss (wobei das Polizeiauto selbst beim Verlassen der Szene mit einem Heidenlärm davongebraust ist, so dass die gesamte Strasse spätestens zu diesem Zeitpunkt hellwach war!).
Und manche Dinge sind definitiv besser. Die Halloween Nacht in New York mit 2 Mio. Zuschauern: bei der völlig überfüllten Parade mit super Kostümen (Hulk Hogan war bes. angesagt) waren die Strassen im Unterschied zum rheinischen Karneval nicht mit zertrümmerten Bierflaschen und sonstigem Auswurf übersät. Das rigide Alkoholverbot im öffentlichen Raum funktioniert und verhindert abschreckende Kollektivbesäufnisse wie bei uns.
Aber dann war da ja noch das sogenannte „politische” Amerika. Die Midterm Elections waren dabei wie ein Geschenk. Wahlkampf vom Feinsten — z.B. der Auftritt des später tatsächlich siegreichen Gouverneurskandidaten der Republikaner Kasich in Cincinnati. Eine Stunde Ekstase als Motivation für die eigenen Leute. Birgit (meine nette Partnerin in Cincy) und ich hatten von unserem Host NATÜRLICH Top Plätze — heißt: in der ersten Reihe — bekommen. Das Blöde daran war nur, dass wir damit eigentlich Claqeuraufgaben hätten übernehmen müssen. Wir wurden zu Beginn mit Fähnchen und Handplakaten ausgestattet und immer wenn die Dramaturgie es verlangte, also alle 3 Minuten, sollten wir eigentlich aufspringen, jubeln, klatschen, Fähnchen schwenken. Wir waren in dieser Beziehung leider ein Totalausfall und ich vermute, dass wir es deshalb auch nicht in die News von Channel 5 gebracht haben. Beim Besuch des Konkurrenten Strickland in Columbus an der Uni motivierten sich die Anhänger mit einem donnernden „Yes, Yes, Yes!!”, immer dann, wenn der demokratische Parteisoldat es einforderte. Hätte er vielleicht doch auch Fähnchen verteilen sollen- denn um Inhalte ging es auf diesen Veranstaltungen sowieso nicht.
Ernsthafte Politik haben wir bei unseren vielen Gesprächen mit kundigen Menschen natürlich auch mitbekommen: die Enttäuschung über Obama, sein Versagen, die passende Krisenpolitik zu machen, die tiefen Gräben, die zur Zeit zwischen den politischen Parteien herrschen, die Politikverdrossenheit der enttäuschten Wähler (das sind sowieso nicht mehr viele) usw.
Tolle Zeit, tolle Gruppe, tolle Hosts, tolles Wetter — ich glaube, wer sich bei Facebook rumtreibt und einen von uns kennt, bekommt über die vielen unterschiedlichen Postings schon einen guten Eindruck, was abging.
Zum Schluss noch Ratschläge für die Nächsten:
- Ein kleines Netbook ist sehr hilfreich (Skype, soziale Netzwerke, Stadtinfo, Buchungen online)
- 80% der Meetings verbringt man in schickerem Outfit (also keine Jeans)
- Turnschuhe mitnehmen fürs Joggen oder abends Ausgehen
- Auch wenn von Geschenken abgeraten wird, trotzdem machen (bei privaten Einladungen, Hostabschied etc.)
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Matthias Veit, Editor, WDR, Köln
„Hi, my name is Stacey and I will be your waitress tonight!”
So oder ähnlich klang es jeden Abend, wenn wir in Washington, New York oder etwa Indianapolis auswärts essen waren. Also in Deutschland interessiert es eigentlich nicht, wie die Bedienung heißt, Hauptsache der Service stimmt. Aber die Staceys, Sheryls und Debbies haben es auf ein möglichst hohes Trinkgeld abgesehen, denn auf das sind sie angewiesen. Je mehr Gäste, desto besser für die Kellner. Da kann es auch passieren, dass die angeblich frisch gemachten Spaghetti bereits drei Minuten nach der Bestellung kommen, was natürlich Fragen bezüglich der Zubereitung aufwirft. Die Botschaft ist jedenfalls klar: die Gäste sollen den Tisch nicht den ganzen Abend okkupieren, andere wollen auch noch ihr Geld hier lassen. Aber natürlich sind die Staaten mehr als ein Land, in dem es ständig ums Geld geht.
Was ich sonst noch in den drei Wochen gelernt habe:
In den USA sind water closets üblich. Das sind Kloschüsseln mit ganz viel Wasser drin. So viel, dass man keine Klobürste braucht, um seine Geschäfte zu verschleiern. Ein faszinierend einfaches Konzept und außerdem sehr rückenschonend. Und das ist wichtig, denn:
U.S.-Amerikaner mögen es komfortabel. Die Rückbank in den gelben Taxis ist weich wie ein Daunenbett und mindestens vier Durchschnittseuropäer finden auf ihr nebeneinander Platz. Die Taxen selbst sind seit Jahrzehnten die gleichen und das verwundert nicht, denn:
Die USA sind konservativer als man denkt. Sie wollen das Gute bewahren, aber übersehen dabei gelegentlich, dass es der Fortschritt und der moderne Zeitgeist war, der dieses Land wirtschaftlich so nach vorne gebracht hat — „hatte” muss man sagen, denn:
Alles Gute nennen sie Kapitalismus, alles Schlechte Sozialismus
Die USA haben einen Schuldenberg in Billionenhöhe. Die Schuld dafür sehen sie aber nicht in dem übertriebenen Konsum, der das Schuldenmachen nach sich zieht, sondern bei den anderen: die Chinesen sollen ihr Geld aufwerten und die Deutschen sollen nicht so viele hochwertige Waren exportieren. Könnte der Grund für das fehlende Wachstum der U.S.-Wirtschaft vielleicht darin liegen, dass die USA nicht mehr die besten Produkte liefern und schon gar nicht zu den besten Preisen, so wie es ausgerechnet der Hedge Fond Manager in New York uns gegenüber formulierte? Aber das will man sich hier nicht eingestehen. Vielleicht wieder einmal, weil diese Kritik „unamerikanisch” wäre? Ungereimtheiten wie diese finden sich viele in den Staaten. Man sieht sich als Hüter des Kapitalismus, ein Eingriff des Staates: unerwünscht. Begründung: wenn ein Staat sich in die Wirtschaft einmischt, dann ist das Sozialismus! (außer er hilft der Wirtschaft, dann ist es Patriotismus). Interessanterweise haben die Amerikaner selbst während unseres Aufenthaltes angekündigt, 600 Milliarden Dollar in den Markt zu spülen durch den Ankauf von Staatsanleihen (womit sie ihr Geld entwerten und genau das tun, was sie den Chinesen vorwerfen). Eine Krankenversicherung für alle soll es auch nicht geben, die Sozialismus-Sirenen schrillen durchs ganze Land und warnen. Es gilt auch als ganz normal, dass man beim Jobwechsel die Krankenversicherung verliert oder sich Prämien erhöhen, wenn man krank wird, falls man danach überhaupt noch mal eine Kasse findet. Ist doch alles Privatsache, was muss sich der Staat darum kümmern? Das führt doch alles nur zu Steuererhöhungen und dann können wir nicht mehr so viel konsumieren und das sollen wir doch, oder? Gleiches Recht für alle, das wird hier anders verstanden als in Europa, außer vielleicht beim Thema Waffen, denn:
Freedom und was man daraus macht
Vielen Amerikanern ist es wichtig, das Recht auf eine eigene Waffe zu haben. Bei Dun’s Guns, einem Waffenhändler in Indianapolis, habe ich dann mal gefragt, warum man auf Leute schießen, aber kein Bier in der Öffentlichkeit trinken darf. Stimmt, dass sollte man auch erlauben, fand der bewaffnete Mann hinter der Ladentheke. Aber Schießen dürfen, das habe doch mit Freiheit zu tun. Und wer zu viel trinke, würde nichts treffen. Stimmt auch wieder. In den USA gibt es übrigens auch das Recht auf freie Rede, allerdings…scheinen das einige Fernsehmoderatoren, besonders beim reißerischen Erfolgssender FOX, sehr eigenwillig zu interpretieren. Nach dem Motto: egal, ob es stimmt oder nicht, es ist meine Meinung! Und die bringt Quote. Opinionated Journalism heißt das dann und zumindest im U.S.-Fernsehen scheint der Meinungsjournalismus fast die einzig übrig gebliebene Form von Journalismus zu sein.
Von Multikulti und…
Aber vieles hat mich auch positiv überrascht. Drei Tage lang durfte ich in Bloomington, Indiana an der größten, schönsten und bestausgestatteten Uni, die ich je gesehen habe, mit Studenten und Professoren diskutieren. Und es hat mich beeindruckt, wie selbstverständlich in diesem Land das Thema Einwanderung ist. Man muss sich nur die Stammbäume und persönlichen Geschichten der Studenten ansehen, um zu erkennen: hier sind alle Multikulti. Ja, es gibt auch hier Rassismus, aber: dieses Land ist ein Einwanderungsland, hat sich selbst immer als solches betrachtet und sah Einwanderung immer als Bereicherung! Kanzlerin Merkel hat uns RIAS-Teilnehmern daher mit ihrer Aussage „Multikulti is over” viel Arbeit gemacht — etliche Amerikaner wollten wissen, was damit eigentlich gemeint sei.
…Marihuana
Gänzlich erstaunt war ich, als der Republikaner-Kandidat Ron Paul im Auditorium der Uni Wahlkampf machte und vor 800 jungen begeisterten Leuten die Legalisierung von Marihuana, Toleranz gegenüber gleichgeschlechtlichen Beziehungen und das Ende imperialistischer Kriege forderte. Auch wenn Ron Paul als Außenseiter in der Partei gilt, ich hätte nie gedacht, dass ein Republikaner solche Aussagen treffen und dafür auch noch stehende Ovationen ernten würde.
Vorbild Amerika
In manchem haben die U.S.-Amerikaner für mich Vorbildfunktion. Die Freundlichkeit und Herzlichkeit ist einfach wunderbar. In Indianapolis wurden meine RIAS-Kollegin Maren und ich selbst nachts auf der Straße von wildfremden Menschen freundlich gegrüßt. Einmal haben wir durchs Fenster einer Feuerwache gelukt wegen der schönen altmodischen Feuerwehrautos. Prompt rief eine Stimme: Kommt doch rein, schaut euch alles in Ruhe an! Der Feuerwehrmann hat sich nett mit uns über seinen Job unterhalten (ja, sie seien auch für notärztliche Versorgung zuständig und er wisse, dass das in anderen Ländern nicht so sei). Kurze Zeit später hatte er dann einen Einsatz („Bitte kommen, Person atmet nur noch schwach!”). Schnell zog er seinen Helm auf, sagte good bye und winkte uns zum Abschied noch einmal zu. In solchen Situationen staune ich und bewundere dieses Land.
Wenn beide Seiten staunen
Die spannendsten Momente waren für mich die, in denen Amerikaner von uns wissen wollten, was in unserem Land passiert. Warum man zum Beispiel nicht automatisch deutsch sei, wenn man in Deutschland geboren wurde — die Frage wurde öfter gestellt. Dieser Austausch gibt einem Gelegenheit, auch mal über das eigene Land nachzudenken. Das gilt natürlich auch für die amerikanische Seite. Und so habe auch ich für staunende Blicke gesorgt. Zum Beispiel, wenn ich erzählt habe, dass Deutsche gerne mehrere Kilometer durch die Stadt spazieren statt das Auto zu nehmen (und zwar nicht, weil sie sich kein Auto leisten könnten, sondern weil es dem Körper gut tut und Spaß macht). Und dass die Menschen in Münster stolz auf ihre Fahrräder sind und die schöne fast autofreie Innenstadt. Dass wir in Deutschland einen öffentlich-rechtlichen Rundfunk haben, der von den Zuschauern und Hörern finanziert wird und nicht von Parteien, Unternehmern oder anderen edlen Spendern. Und dass eine Gallone Super bleifrei in Deutschland nicht 2 oder 3, sondern rund 8 Dollar kostet und große SUVs für kritische statt anerkennende Blicke sorgen — wegen der Umwelt. Am meisten Spaß hatte ich aber bei dem Versuch, den Kellnern das Bestellprinzip in kölschen Brauhäusern zu erklären. Bier bringen bis der Gast einem mitteilt, dass er/sie genug hatte. Zumindest ein Kellner im Washingtoner Ausgehviertel Georgetown griff das Konzept auf und wir mussten nicht mehr zur Theke rennen, um für Nachschub zu sorgen.
Fazit
Europa hat seit dem Ende des Kalten Krieges an Bedeutung verloren für die USA. Entsprechend dünn ist die Berichterstattung, von Kurzmeldungen in der New York Times vielleicht abgesehen. Und auch Europa hat seit George W. Bush einige Vorbehalte gegenüber den USA. Mit anderen Worten: das transatlantische Verhältnis hat schon bessere Tage gesehen. Umso spannender war daher der Austausch mit den vielen klugen, freundlichen und offenherzigen Journalisten, Fachleuten und Lobbyisten und natürlich dem ganz normalen Amerikaner von nebenan, dem Bus- oder Taxifahrer oder Stacey, der redegewandten Kellnerin. Dort konnte man dann immer wieder feststellen: das Interesse an Europa, Deutschland und der restlichen Welt ist eigentlich doch noch da, es schien nur, sagen wir, in den Leuten zu schlummern.
Das RIAS-Stipendium war die volle Dosis Amerika. Ein prall gefülltes, sehr gut organisiertes Programm, bei dem jeder Tag eine Bereicherung war, vor allem wenn man sich auf andere Menschen einlässt und nicht versucht, jeden Amerikaner zu einem Europäer zu machen. Es waren exklusive Treffen mit Menschen, an die man sonst nie oder nur schwer herangekommen wäre, vom deutschen Botschafter in den USA über den öffentlichkeitsscheuen Hedge Fond Manager bis hin zu Vertretern der erzkonservativen Heritage Foundation. Nicht zu vergessen die hoffentlich bleibenden Kontakte zu unseren Hosts, die uns in der zweiten Woche bei unseren individuellen Stationen in verschiedenen U.S.-Staaten und Sendern betreut haben. Die Bewerbung hat sich wirklich gelohnt. Danke an RIAS und das ganze Team für eine tolle Zeit.
P.S. Der Gedankenaustausch mit den 11 anderen Teilnehmern war natürlich auch klasse. Die Bewerbung hat sich wirklich gelohnt!