3-wöchige USA-Journalistenprogramme 2005
Frühjahr und Herbst
RIAS USA-Frühjahrsprogramm
26. Februar — 26. März 2005
Elf deutsche Journalisten in den USA: Programm in Washington und New York; Besuch von Journalistenschulen (University of Southern California, Los Angeles; University of Texas, Austin; University of Columbia, South Carolina; University of Colorado at Boulder); individuelles Rundfunkpraktikum.
TEILNEHMERBERICHTE
Saska Bujic, Zweites Deutsches Fernsehen
Eine überzeugte Europäerin unterwegs in den USA. Ich reise mit jeder Menge Fragen im Gepäck an. Was wird mich erwarten? Werden sich meine Vorurteile bestätigen? Werde ich neue dazugewinnen? Oder werde ich mich gar von meinen Vorurteilen — oder wenigstens von einigen — am Ende der Reise verabschieden?
Washington D.C.
Fahrt vom Dulles International Airport zum Hotel. Erster Bodenkontakt mit den Vereinigten Staaten. Ich sehe Polizisten, die einen Afro-Amerikaner am Straßenrand filzen. Der Mann steht breitbeinig über seinen Kofferraum gestützt — wie im Film. Das erste Klischee bestätigt, nach gerade mal einer halben Stunde. Nicht vorschnell urteilen, sage ich mir.
Bei Starbucks fragt mich die Bedienung „How are you today?“ Ich bin total irritiert. Was interessiert sie das? Und will sie überhaupt eine Antwort? Ich antworte „I´m fine, thank you!“ — sicher ist sicher (dabei habe ich mir gerade zwei fette Blasen in meinen neuen Schuhen gelaufen). Sie strahlt mich an und wünscht mir einen schönen Tag. So viel unverbindliche Freundlichkeit ist in Deutschland nicht gerade alltäglich. Ein Taxifahrer aus Kenia erklärt uns begeistert, dass die USA ein großartiges Land seien, es gebe kein besseres zum Leben. Hhhm, mal sehen…
Bei unseren Terminen in Washington prasseln so viele Informationen auf mich ein, dass ich Wochen brauche, um alles im Kopf zu ordnen. Journalisten, Wissenschaftler, Lobbyisten, Diplomaten und Ex-Politiker. Sie alle erweitern mein Amerikabild. Zwar kann ich nicht immer alles nachvollziehen, zum Beispiel die unermessliche Bedeutung der Religion. Aber ich beginne zu verstehen, warum das mächtigste Land der Erde sich auf einer Art göttlichen Mission sieht. Kein Wunder, wenn Glauben und 9/11 aufeinander treffen.
Bend/Oregon
Praktikum bei Newschannel 21/KTVZ. Ein Flug quer über die USA. Ich komme an in einer Welt, die mich an die Serie „Unsere kleine Farm“ erinnert. Schneebedeckte Berge, Kiefernwälder, soweit das Auge reicht, und — Lamas!! Aber auch Golf-Plätze und auffallend viele Porsches. Lee Anderson, mein Host, erklärt mir, dass hier der Geldadel aus Portland seine Freizeit verbringt. Mit Fliegenfischen und Golfen.
In der News-Redaktion des Senders arbeiten lauter junge, aufstrebende Journalisten, die es aus allen Teilen der USA hierher verschlagen hat. Die Reporter arbeiten allein, ohne Kameramann oder Cutter. Sie drehen, schneiden und vertonen selbst. Und moderieren können sie auch noch. Doch bei all dem Multitasking bleibt die Recherche für meinen Geschmack nur all zu oft auf der Strecke.
WOW, denke ich mir, als ich mit Molli (aus Minnesota) zum Dreh rausfahre. In Bend brennen drei Häuser, und Molli jongliert mit ihrer Kamera zwischen all den Feuerwehrleuten, und das auf knallroten High Heels, farblich passend zum Feuerwehrauto. Sie und die anderen wechseln nach drei Jahren meist zu größeren Sendern. Vielleicht sehe ich sie wieder bei CNN. Spätestens dann müssen sie sich auch mit der „Welt da draußen“ beschäftigen, mit dem Ausland.
Lee, selbst aus Indiana, will in Bend bleiben. Er liebt seinen Job, das merkt man in jeder Minute. Und er liebt Deutschland. Täglich singt er mir das Mecki-Messer-Lied vor und fragt mich nach der Fußball-Bundesliga aus, von der ich nur rudimentäre Ahnung habe. Ein Amerikaner, der sich für Soccer interessiert und mal eine Hündin hatte, die Franz Beckenbauer hieß. Mit Lee wird einem nie langweilig. Also verabreden wir uns für nächstes Jahr zur WM in Deutschland.
Columbia/South Carolina
Die Uni-Woche. Zuvor aber ein Wochenende in Charleston. Wenn ich mich in Bend an „Unsere kleine Farm“ erinnert fühlte, so bin ich jetzt in „Vom Winde verweht“. Wunderschöne Stadt. Anne, Herdin und ich genießen den sonnigen Tag und machen einen Ausflug ans Meer. Sogar Delphine bekommen wir zu sehen. Ein wahrlich perfekter Auftakt in den Südstaaten. Zum Glück, denn von Columbia bin ich erst mal geschockt. Nach all den schönen Orten, die ich bisher gesehen hatte, zur Abwechslung mal eine hässliche Stadt. Und die Uni sieht aus wie Kim Jong Ils Palast in Pjöngjang. Aber das sind nur Äußerlichkeiten.
Wir verbringen einen Tag mit den Senior-Broadcasting-Students, die jeden Tag eine halbstündige Nachrichten-Sendung produzieren. Jeder ist mal Schlussredakteur, Reporter, Kameramann, Cutter, Regisseur, Bildmischer, Bildredakteur, Moderator, Sport- oder Wettermensch. Jetzt weiß ich, warum die Reporter in Bend solche Allrounder sind.
New York City
Nachdem wir am Flughafen von Columbia mal wieder komplett durchgecheckt worden sind — sogar mein Kulturbeutel wurde auf Rückstände von Sprengstoff untersucht — erwartet uns diese aufregende Stadt. Wir fliegen an Manhattan vorbei, und ich muss unwillkürlich daran denken, dass dieser Anblick vermutlich der letzte war, den die Menschen in den Flugzeugen vom 11. September hatten. Dann sehe ich Ground Zero von oben. Und für diesen kurzen Moment habe ich etwas mehr Verständnis für die Paranoia, die die Amerikaner seither umtreibt.
Auch in New York kann ich die Fülle von Eindrücken und Informationen kaum fassen. Wir besuchen das Brooklyn Community Access Television (BCAT). Ich habe mir das wie den Offenen Kanal vorgestellt. Von wegen!! Für 90 Dollar (!) kann jeder Bürger Brooklyns eine Schulung am AVID erhalten und dann die technischen Möglichkeiten von BCAT nutzen, um eigene Sendungen zu produzieren. Und die Brooklyner machen davon so intensiv Gebrauch, dass BCAT vier 24-Stunden-Programme hat. Als wir uns die Studios anschauen, schneidet gerade jemand eine Podiums-Diskussion zum Thema Freiheit zusammen. Ich bin platt. Ein engagierter Amerikaner, der seine Freizeit damit verbringt, eine Sendung über die Freiheit und den Umgang mit Bürgerrechten in den USA auf die Beine zu stellen. Eines meiner Vorurteile bröckelt dahin, nicht das erste, seit ich hier bin.
Zurück in Deutschland denke ich an den Taxifahrer aus Kenia. Die USA — ein großartiges Land? Ja, mit Abstrichen auch für eingefleischte Alteuropäer.
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Matthias Horn, DeutschlandRadio online
Washington, D.C.
Viele Fragen und zwei Fingerabdrücke: So beginnt für mich die RIAS-Reise in den USA. Der Immigration Officer auf dem Flughafen Dulles International stellt nicht nur Fragen über Fragen zu meinem Aufenthalt. Er fordert mich auch auf, Abdrücke meines linken und rechten Zeigefingers abzugeben. Das sehen mittlerweile die Sicherheitsvorschriften vor — als Folge von 9/11. Auch bei unserer Tour durch Washington werden wir an die Anschläge vom 11. September erinnert: Wir fahren an der Absturzstelle eines der entführten Flugzeuge am Pentagon vorbei. Diese Stadtrundfahrt ist ein gelungener Auftakt des Programms. Wir bekommen einen guten Überblick über die U.S.-Hauptstadt mit den politischen Institutionen und den vielen Memorials (am beeindruckendsten ist die lange schwarze Wand mit den Namen der Vietnam-Opfer) und lernen uns kennen.
Für die Woche in Washington hat unser Host Jon Ebinger einen interessanten Mix an Hintergrundgesprächen zusammengestellt. Wir sind mit Kongressabgeordneten und mit der Pressesprecherin der Deutschen Botschaft verabredet. Wir sprechen mit Vertretern der Brookings Institution, des Pew Forum on Religion and Public Life und dem Joint Center for Political and Economic Studies. Wir lernen das Arab American Institute, die Agentur MEE und die American Association of Retired Persons kennen. Und wir haben spannende Termine mit Kollegen von New York Times, ARD, ABC und NPR. Es ist ein Programm, um das uns sicherlich auch viele amerikanischen Kollegen beneiden.
Besonders hervorheben möchte ich das Treffen mit Burke Olsen vom Pew Forum on Religion and Public Life, das sich vor allem mit der Rolle der Religion auseinander setzt. Natürlich wusste ich schon vor der Reise, dass Religion und Glauben in den USA wichtig sind, doch dieser sehr hohe Stellenwert wird mir tatsächlich erst bei diesem Termin bewusst. Sehr interessant finde ich auch die Gespräche mit den Journalisten Dick Stevenson von der New York Times und mit dem ARD-Korrespondenten Tom Buhrow. Beide geben einen hervorragenden Einblick in die Arbeit der Medien in der U.S.-Hauptstadt.
Und wenn trotz des vollen Programms Zeit für eine Mittagspause in der Stadt bleibt, machen sich sehr schnell wieder die Folgen von 9/11 bemerkbar. Wer beispielsweise einen Burger im Food Court des Old Post Office essen will, muss einen Metalldetektor passieren. Eine Kontrolle, die zeigt, wie traumatisiert das Land noch immer ist. Am Ende der Woche überrascht es uns deshalb auch nicht, dass beim Flughafen-Check-In auf unsere Tickets nach Denver gleich vier „S“ gedruckt werden. Für die Kolleginnen Marjan Parvand, Katja Schlesinger und für mich heißt das höchste Sicherheitsstufe (schließlich haben wir „nur“ Onewaytickets!). Und angeblich per Zufallsprinzip wird mein Gepäck zur gesonderten Kontrolle ausgewählt.
University of Colorado, Boulder
Nach der Woche im politischen Zentrum der USA sind wir während unseres Universitätsaufenthaltes in Boulder im Bundesstaat Colorado. 9/11 ist auch hier ein Thema — wenn auch nicht wegen verschärfter Sicherheitsvorschriften. Hochschullehrer Ward Churchill hatte in einem Essay die im World Trade Center getöteten Banker und Händler mit dem Nazi-Verbrecher Eichmann verglichen. Sie hätten, so Churchills Theorie, ein amoralisches System unterstützt — wie Eichmann. Deshalb kommt es während unseres Besuchs nicht nur zu heftigen Kontroversen, sondern auch zum Rücktritt der Hochschulpräsidentin! Dieses Thema spielt natürlich auch eine große Rolle in der „TV-Sendung“, die unsere Gastgeberin Vicky Sama in diesen Tagen mit ihren Studierenden produziert. Vicky war 15 Jahre bei CNN, bevor sie an der School of Journalism and Mass Communication als Dozentin begann.
Die Studierenden bekommen hier eine sehr praxisnahe journalistische Ausbildung, wie wir sie von deutschen Hochschulen nicht kennen. Immer wieder werden auch wir in die Seminare miteinbezogen und nach unseren Erfahrungen und Analysen befragt. Es geht dabei vor allem um die Medien in beiden Ländern. Besonders erstaunt zeigen sich die Studierenden über das öffentlich-rechtliche System mit den gebührenfinanzierten Sendern in Deutschland. Themen sind aber auch die Pressefreiheit und Fragen der Medienethik. Beachtlich finde ich, wie bedeutend das Medium Internet hier mittlerweile ist. Online-Zugänge in den Seminarräumen sind selbstverständlich. Auch jede von den Studierenden produzierte „TV-Sendung“ ist im Internet zu sehen.
Glücklicherweise treffen wir auch außerhalb der Seminare viele Studierende und Dozenten. Immer wieder diskutieren wir dabei auch über die politische Situation in den USA. Auffallend viele Amerikaner machen dabei ihre Anti-Bush-Haltung deutlich. Sätze wie „I didn’t vote for Bush“ oder „I hate Bush“ sind zu hören. Das liegt vielleicht auch daran, dass wir hier in Boulder nicht im typischen Amerika sind (wenn es denn so etwas überhaupt gibt). Hier gibt es zahlreiche Parks, mehrere Forschungszentren und mittendrin eine kleine Flaniermeile. Es ist eine überschaubare Stadt, die man am besten mit Fahrrädern erkunden kann (auch wir sind die ganze Woche mit Leihrädern unterwegs).
Gut ist auch, dass wir außerhalb des Programms an der Universität die Gegend um Boulder kennen lernen. Besonders lohnenswert ist der Ausflug nach Denver. Dort sind wir mit einem RIAS-fellow verabredet, der uns nicht nur seine Arbeit beim Sender CBS zeigt, sondern uns auch den hervorragenden Tipp für das älteste Restaurant der Stadt mit Original-Buffalo-Burgern gibt! Außergewöhnlich ist der Besuch des traditionellen „frozen dead guy“-Festivals in Vickys Heimatort Nederland. Am Ende fällt uns der Abschied hier schwer, denn vor allem dank unserer hosts hatten wir hier eine großartige Woche.
FOX2, Detroit
Nach meiner Anreise aus Boulder treffe ich wie verabredet meinen host Bill Gallagher auf dem Flughafen in Detroit. Noch während ich auf mein Gepäck warte, überrascht er mich mit dem Satz „I am no supporter of Bush“. Bill ist Reporter beim lokalen Sender FOX2, der zum FOX-Network gehört. Ich wundere mich auch deshalb, weil ich schon viel über den angeblich so Bush-freundlichen Sender gehört hatte. Doch vielleicht ist Bills Anti-Bush-Haltung bei dem Sender auch deshalb möglich, weil die Stadt politisch eher unbedeutend ist. Bekannt ist Detroit vor allem durch die „Big Three“ der Automobilindustrie — General Motors, Ford und DaimlerChrysler (klar, dass auch Bill einen Chrysler made in Detroit fährt). Schon am ersten Abend treffe ich beim „Welcome Dinner“ neben Bill auch einige seiner FOX2-Kollegen. Es ist ein hervorragender Einstieg in meine „internship“-Woche — mit vielen guten Gesprächen und interessanten Begegnungen. Lange diskutieren wir über die USA, Deutschland und die Medien.
Am nächsten Morgen auf der Redaktionskonferenz wird mir schnell klar, dass der Schwerpunkt der FOX2-Berichterstattung auf lokalen Themen liegt. Bill berichtet an diesem Tag über „Cheerleader in Highschools“. Die Story: Mädchen und Jungen dürfen künftig nicht mehr in gemeinsamen Teams auftreten (vermutlich würde in Deutschland niemals ein TV-Sender über ein ähnliches Thema berichten!). Für den Beitrag drehen wir in Romeo, das ist rund 40 Meilen von Detroit entfernt. Wie bei den meisten Drehs macht Bill auch hier einen Aufsager. Das ist für den Sender wichtig, weil die Nachrichten sehr stark personalisiert werden. Üblich ist hier, dass die Reporter täglich zwei Beiträge zu unterschiedlichen Themen produzieren. Bill berichtet an diesem Tag noch über „Cell Phone Towers“, die auf einem Friedhof aufgestellt werden sollen. Für den Beitrag bestellt er auch Luftaufnahmen vom FOX2-Hubschrauber, der der ganze Stolz des Senders ist. Zurück im Newsroom bin ich überrascht, wie Bill seine Beiträge produziert: Er textet und vertont seine Beiträge, bevor er die Bildauswahl ausschließlich dem Cutter überlässt.
Ein ganz besonders wichtiger Tag für Bill ist in dieser Woche der St. Patrick’s Day, denn er hat Vorfahren aus Irland — und einen irischen Pass. Wir feiern in einem Irish Pub zwölf (!) Stunden lang. Nach und nach kommen auch viele seiner FOX2-Kollegen. Meinen letzten Tag verbringe ich in der DaimlerChrysler-Zentrale im Vorort Auburn Hills. Dort treffe ich mehrere Manager des Automobilkonzerns, die mir über die transatlantische Zusammenarbeit des Konzerns berichten. Es sind Gespräche, die sicherlich nicht ohne Bills ausgezeichnete Kontakte zustande gekommen wären.
New York
Bei der letzten Station gibt es ein Wiedersehen mit den anderen Teilnehmern in New York. Auch hier hat Jon ein Programm mit einer interessanten Mischung aus Politik, Medien, Kultur und Organisationen zusammengestellt. Nach einer „Walking Tour“ durch das Finanzdistrikt besuchen wir auch Ground Zero. Dort lesen wir auf einer Wand die Namen von 9/11-Opfer. Auch die Wiederaufbaupläne für das World Trade Center werden dargestellt. Nirgendwo ist die Erinnerung an den 11. September so nah.
Die anschließenden Gespräche geben uns einen Einblick in die Arbeit von Organisationen, Lobbygruppen, politischen Institutionen und TV-Sendern in der „Welthauptstadt“. Wir besuchen die UNO (mit Sicherheitsrat und Generalversammlung), treffen einen Berater der Demokraten, haben Termine beim American Jewish Commitee und bei der Statue of Liberty-Ellis Island Foundation. Wir machen eine Tour durch Harlem und sind mit einem Vertreter des Online-Projekts DonorsChoose.org verabredet. Sehr gut ausgewählt sind die Medientermine mit CNN, NBC und dem Brooklyn Community Television (ein Dankeschön auch an die Kollegin Susanne Rabsahl, die ein Treffen mit den New Yorker ARD-Korrespondenten doch noch möglich gemacht hat).
Auch der Besuch der Daily-Show (mit Sandra Bullock als Gast) ist lohnenswert. John Stewart überzeugt uns am Ende doch noch, auch wenn sich so mancher Kolleg beim Warm Up vor der Sendung sichtlich unwohl fühlte. Ganz hervorragend ist auch, dass trotz des vollen Terminplans noch Zeit bleibt, die Stadt (neu) zu entdecken etwas vom kulturellen Angebot New Yorks wahrzunehmen oder ein Basketballspiel der Knicks im Madison Square Garden zu besuchen.
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Eva Lodde, Freelancer
“Y’all wanna have sum more juice?“
“Und, woher kommst du?“ „Berlin.“ „Berlin…aha…aber… das ist doch in Russland, oder?“ Stille am Tisch, staunende Gesichter, dann ungläubiges Gekicher. „Ähm, ernsthaft?… Nein, Berlin ist die Hauptstadt Deutschlands.“ „Ach ja! … Da war doch letztens irgendetwas mit einer Mauer, nicht wahr?“ „Letztens? Das ist 15 Jahre her!“
Diese Unterhaltung mit einem Kameramann in West Palm Beach war einzigartig. Glücklicherweise glaubten auch alle Amerikaner am Tisch an einen schlechten Scherz. Vielleicht war es das Bier. Wahrscheinlich aber Unwissen. Während der vierwöchigen Reise durch die USA war er jedenfalls der einzige weltverschlossene Amerikaner. Stattdessen haben die vielen Diskussionen vor allem eines verdeutlicht: Die USA sind ein politisch gespaltenes Land: Auf der einen Seite Fox-Seher, Konservative, Über-Patrioten. Auf der anderen Liberale, Intellektuelle, Progressive. Aber was die amerikanische Gesellschaft vereint, ist, dass Religion und die damit verknüpften Werte einen viel höheren Stellenwert haben als in Deutschland oder Europa. Und das ist keine temporäre Erscheinung, die vom Präsidenten des Landes abhängig ist.
Nach den vielen Diskussionen mit der Bildungselite in Washington über diese und andere Themen wollte ich schließlich den Otto-Normal-Amerikaner (und die Heimat von George „Dubbleyou“ Bush) besser kennen lernen. Zugegeben, eine Universitätsstadt ist nicht der beste Ort dafür. Aber Austin sollte da doch anders sein, Texas eben. Doch, Austin ist nicht Texas. Denn die University of Texas ist eine der größten in den Staaten und deren liberale Gesinnung prägt die Stadt stark: Bei den letzten Wahlen war zwar der gesamte Staat republikanerrot gefärbt, doch in der Mitte leuchtete die Hauptstadt als kleiner Punkt demokratenblau. Die Bewohner sind stolz auf ihren Slogan: „Keep Austin weird“. Und sie tun alles dafür, damit Austin keine amerikanische Einheitsstadt wird: Unabhängige Läden haben eine besondere Sektion für lokale Bands und Autoren. Es gibt viele Secondhand-Shops und nachts ist immer mindestens eine der vielen Rock- und Jazzbars offen, aus der Musik dringt.
In Texas bestätigten sich zwei beliebte Vorurteile gegenüber Amerikanern. Nummer eins: Sie sind überaus gastfreundlich. Die Besitzerin der Pension fuhr jeden Morgen ein unglaubliches Frühstück auf und fragte in regelmäßigen Abständen und breitestem texanischen Slang: „Y’all wanna have sum more juice?“ Margaretha Geertsema organisierte unser Programm tagsüber und ihre Freundin Robin erklärte sich spontan dazu bereit, uns nachts durch die Klub- und Kneipenszene zu führen. Ein paar Leute von der Fakultät für lateinamerikanische Studien luden uns auf ein HipHop-Konzert ein. Ein Journalist vom Uni-Radio gab uns spontan eine Führung durchs Kapitol. Da verfestigte sich übrigens Vorurteil Nummer zwei: Texaner sind amerikanischer als ihre übrigen Landsleute, noch megalomaner. In Austin steht genau das gleiche Kapitol wie in Washington — nur wesentlich größer!
An der Universität nahmen Kollege Dirk und ich an mehreren Seminaren teil, diskutierten mit den Journalistikstudenten über Ethik bei der Wirtschaftsberichterstattung, Emanzipation in Deutschland und natürlich die transatlantische Beziehung in den Medien. An einem seminarfreien Vormittag besuchten wir das universitätseigene Museum, um zu sehen wie die Könige des amerikanischen Journalismus gearbeitet haben: Vor einigen Monaten hatte die Universität die Aufzeichnungen von Bob Woodward und Carl Bernstein gekauft, den beiden Journalisten der Washington Post, die den Watergate-Skandal aufgedeckt hatten. Die Ausstellung war bereits ein paar Tage vor unserer Ankunft geschlossen worden, aber wir bekamen eine private Führung hinter den Kulissen. Bei der Ansicht der vielen vollgekritzelten, gelben Zettel bestätigte sich Altbewährtes: Einen guten Journalisten machen Fleiß, minutiöse Recherche — und gute Ordnung aus! Bei dieser Tour rätselten wir noch über „Deep Throat“, den Informanten aus Regierungskreisen — der sich einige Wochen später enttarnte.
Vom sonnigen Texas ging es dann für mich weiter ins sommerliche Florida: nach West Palm Beach fürs Fernsehpraktikum bei News 12. Nachrichtenchef Steve Hunsicker und Moderatorin Terry Anzur kümmerten sich bestens um mich. „Whatever you wish“ schien das Motto zu sein: Ich half nicht nur in der Redaktion aus, sondern hatte auch genug Freizeit, um die Küste zu erkunden. Terry ist im Übrigen ein gutes Beispiel für das Nachrichtengeschäft in den USA: Ihr wurde bei ihrem vorherigen Sender in Los Angeles gekündigt, weil sie mit Mitte 40 nicht mehr jung genug war (obwohl sie ein strahlendes Energiebündel ist). Vor allem aber weil sie keine Latina war und damit nicht mehr einen Großteil der Zuschauer repräsentierte. Allerdings bekam sie gerade wegen ihres Alters den Job in West Palm Beach, eine der typischen Städte an der Küste Floridas für reiche Rentner. Das hielt sie aber nicht davon ab, sich liften zu lassen. Und es dem Klatschreporter der örtlichen Presse zu erzählen.
Relevante Themen für die Lokalnachrichten waren Tiere, Sex and Crime. Am besten eines davon als breaking news — aber es konnte auch der Rentner sein, der einen Supermarktparkplatz blockiert, weil er nicht mehr mit seinem Auto zurechtkommt. Meistens ging es so zu wie am ersten Tag: Ich begleitete Senior Reporter Al Pefely. Um zehn Uhr fuhren wir zu einem Altenheim, das laut Als Nachbarin wegen einer hoch ansteckenden Krankheit unter Quarantäne stand. Das stellte sich allerdings als falsch heraus — wie auch zwei andere Themen, während uns der Kameramann ziellos durch die Gegend fuhr.
Die Zeit drängte: Es war bereits ein Uhr, um fünf lief die Sendung. Also blätterte Al durch die West Palm Beach Post und entschied sich für einen Artikel, den die Lokalzeitung von der New York Times übernommen hatte: Laut diesem mutmaßte ein Regierungsbericht, dass Terroristen für neue Angriffe Privatflugzeuge nutzen könnten, da diese im Vergleich zum öffentlichen Flugverkehr kaum gesichert sind. Wir interviewten die braungebrannten Piloten der Privatjets, die erzählten, dass sie die Türen nur dann ständig im Auge hätten, wenn sie im Cockpit seien. Am Ende erschien mir der Bericht recht schwammig, ja geradezu absurd zu sein. Aber auch andere Lokalsender beschäftigten sich mit dem Thema. Doch es war schwer zu verstehen, dass Terroristen in einem Rentnerstädtchen vermutet werden. Wohin sollten sie mit den kleinen Maschinen fliegen, was angreifen? Die einzige Antwort, die ich bekam: „Zwei der Attentäter des 11. Septembers haben in Florida ihren Flugunterricht genommen.“ Diese beständige Furcht zeigte sich auch in den zähen Kontrollen an öffentlichen Flughäfen: Jedes Mal wurde ich aus der Schlange gezogen und mein Handgepäck auf Sprengstoff untersucht.
In New York war das Programm so vielfältig wie die Stadt: vom Gespräch in der Moschee über die Vereinten Nationen zum weltbesten Cheesecake-Laden in Brooklyn. Größter Coup von John Ebinger, der das großartige USA-Programm zusammengestellt hat, waren die Karten für die täglichen Comedy-Nachrichten von John Stewart. Ein Renner in den USA, da er alles und jeden hochnimmt — am allerliebsten den Präsidenten. Sandra Bullock war Gast und die Texanerin empfahl das Saltlick als das beste Restaurant in Austin. Wie gut, dass Margaretha das zwei Wochen zuvor für unser Abschiedsessen in Austin ausgesucht hatte…
Neben Jon Ebinger und allen anderen möchte ich ganz besonders dem Kameramann danken, der gedacht hat, dass Berlin in Russland liegt. Das bleibt eine der unvergesslichen Geschichten der Reise. Thanks y’all!
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Marjan Parvand, N 24
„In the US you can find a group for anything!“ — ein Taxifahrer in Washington D.C.
Er fuhr mich von Dupont Circle nach Georgetown und staunte über die vielen verschiedenen Gruppen, die wir schon nach ein paar Tagen Aufenthalt in Washington getroffen hatten. Er war aus Pakistan und scherzte, dass er vielleicht mit anderen Pakistanis eine Gruppe gründen sollte — „PI: Pakistani Initiative“. Fangen wir aber bei einigen der real existierenden Gruppen, die wir getroffen haben, an: AARP, die Interessenvertretung der Rentner in den USA, Arab American Institute, American Jewish Committe, Abyssinian Development Corporation — eine Nachbarschaftsinitiative in Harlem mit Anlehnung an die Baptistengemeinde dort, Joint Center — eine Vertretung der Afro-Amerikaner, nicht zu vergessen die verschiedenen politischen Think Tanks — wir haben sie alle kennen gelernt und die Gelegenheit erhalten, mit ihnen zu diskutieren. Insgesamt haben wir in zehn Tagen Washington und New York City 34 verschiedene Treffen gehabt. Sie alle haben mein Bild der USA ergänzt, erweitert, bereichert.
Eine Frage, die ich mir aber im Laufe unserer Termine mit den verschiedenen Interessenvertretungen der sogenannten Minderheiten stellte, war, warum verbündet man sich nicht? Würden sich beispielweise die Arab-Americans, African Americans und Hispanics zusammentun, wären ihre Chancen, etwas gegen ethnisch motivierte Diskriminierungen zu erreichen, wohl größer. Gibt es in den USA nur Solidarität mit den eigenen Leuten? Die Interessenvertretungen führen mit ihrem Engagement ausschließlich für die eigene Agenda und mit den eigenen Leute das Prinzip des Raubtierkapitalismus weiter: Jeder ist sich selbst am nächsten, who cares about the rest! Das Phantastische an dieser RIAS-Reise war aber, dass solche einseitigen Analysen der amerikanischen Gesellschaft im Laufe der Reise nuancierter wurden. Das American Jewish Comittee beispielsweise ist eine der ältesten und erfahrensten Lobbyistengruppen in den USA. Sie hat ihren Hauptsitz in New York C. und gibt kostenlos neueren Gruppierungen ihr Wissen über Lobbyarbeit weiter. Oder ein anderes Beispiel: „donors-choose“ — ein Internetprojekt, das ein Lehrer gemeinsam mit seinen Schülern für dringend benötigte Lehrmittel an seiner Schule in der Bronx initiiert hat — dieses Projekt wird mittlerweile U.S.-weit unterstützt und ist auch auf Schulen in North Carolina ausgeweitet worden.
„Every fifth American does not have a passport.“ Vicky Sama — unsere Betreuerin in Boulder/ Colorado
Ich musste in Jacksonville/Florida an Vickys Satz denken. Wo genau liegt Deutschland? Eine Frage, die mir James, unser Kameramann, nicht stellte, aber lieber hätte stellen sollen. Denn als wir gemeinsam mit dem Fox/CBS-Reporter Paul Folger zu unserem Dreh fuhren, stellte sich nach und nach heraus, dass der Kameramann erstens Deutschland geographisch neben England platzieren wollte, zweitens die europäische Union und Großbritannien als ein und dieselbe Institution ansah, und drittens das alles nicht für wichtig erachtete. Paul verbesserte ihn, und fragte mich später, ob ich schockiert gewesen sei. War ich es? Nein! Die geographische Größe — das englische Wort „vastness“ trifft es besser — dieses Landes entfernt seine Bewohner vom Rest der Welt. Kritischer gesagt: die Größe führt bei manchen Amerikanern dazu, dem Rest der Welt eine gehörige Portion Ignoranz entgegenzubringen. Das trifft sowohl für James, unseren Kameramann, zu als auch für manche politische Aktion, die die U.S.-Regierung in letzter Zeit zu verantworten hat. Viele der amerikanischen Soldaten, die im Irak kämpfen, erhalten ihren ersten Reisepass für den Auslandseinsatz.
„I hate Bush!“ Deutsch-Studenten an der Universität von Colorado in Boulder und…
…90 Prozent der Menschen, die ich auf dieser Reise durch die USA kennen gelernt habe. Die Studenten fügten noch hinzu, dass Boulder natürlich „blau“ gewählt habe, aber all diese Rednecks vom Land aus Colorado einen „red state“ gemacht hätten. Eine der seltenen Gelegenheiten, eine bekennende Bush-Wählerin persönlich ein wenig kennenzulernen, hatte ich in Denver. An einem Abend in einer Bar an der „Colfax Avenue“ kam ich mit Feeby — Zahnärztin, Ende dreißig, weiß, unverheiratet — ins Gespräch. Im Laufe des Abends kritisierte ich die unilaterale U.S.-Außenpolitik, sie wurde stiller. Irgendwann entgegnete sie kurz und knapp, sie wüsste nicht viel über Politik, würde aber nur einen Präsidenten wählen, der ihr ein Gefühl von Sicherheit vermitteln könne, und das sei bei dieser Wahl George W. Bush gewesen. Damit war das Gespräch beendet. Eine Frau mit einem Universitätsabschluss, erfolgreich in ihrem Beruf, unabhängig und ohne jegliche soziale Sorgen hatte Bush gewählt. Soviel zu den Rednecks, von denen die Studenten sprachen.
„Security was one of the main issues in the last election.“ Howard Wolfson — Glover Park Project
Wir wechseln den Ort und sitzen jetzt im Konferenzraum des „Club Quarter“ Hotels in Manhattan / New York. Howard Wolfson ist Demokrat und unser Gesprächspartner. Er arbeitet für das Glover Park Project — eine Art Think Tank, aber auch die Agentur, die die Kampagne für die Wiederwahl von Hillary Rodham Clinton als Senatorin von New York City führen wird. Sicherheit war das wahlentscheidende Thema, sagt Wolfson. Der Demokrat Kerry habe dieses Sicherheitsbedürfnis der Amerikaner in seinem Wahlkampf nicht genügend aufgegriffen. Ich denke an Feeby aus Denver. Zwei Tage später wurde in der „New York Times“ Hillary Rodham Clinton als mögliche Kandidatin für die nächste Präsidentschaftswahl lanciert. Nach vier intensiven und sehr lehrreichen Wochen in den Vereinigten Staaten von Amerika wage ich jetzt eine politische Prognose: Über die Hälfte der Amerikaner haben George W. Bush bei der letzten Wahl ihre Stimme gegeben. Ein weißer Mann, der es mit viel Chuzpe versteht, seinen Nordstaaten-Hintergrund zu kaschieren und sich Südstaaten-Stallgeruch aufzulegen; hochreligiös, aber auch mit klaren Visionen — diese fehlten den Demokraten momentan, sagte uns der Politstratege Wolfson. Bush versteht es, ein außenpolitischer Draufgänger und innenpolitischer Daddy zu sein. Die Amerikaner, die ihn gewählt haben, werden niemals eine Nordstaaten-Frau aus gutem Hause wählen — Feeby aus Denver, Colorado wird es nicht tun.
Damit verspiele ich zwar gerade meinen guten Ruf als Journalistin, und gebe eine extrem frühe Prognose für die nächste U.S.-Wahl ab, aber wie sagt der Amerikaner: no risk no fun!
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Susanne Rabsahl, Freelancer
Es dauerte eine ganze Weile, die vielen Erlebnisse sacken zu lassen. Vier intensive Wochen waren viel, Washington, Naples in Florida, Los Angeles und New York waren unterschiedlich, Programm im Gruppenverband, Besuch einer Universität und Hospitanz bei einem Fernsehsender — jede Station war auch irgendwie anders. Die sehr kompakten Wochen in Washington und New York boten einen perfekten Rahmen: ich habe sehr viel über Politik, Wirtschaft und Gesellschaft des Landes erfahren: Von Trends, in die Vororte zu ziehen, über demographische Veränderungen bis hin zu Bedeutung und Einfluss von Religion auf Politik und Gesellschaft. Die kleinen zwischenmenschlichen Begegnungen waren es, die das Ganze mit Inhalt füllten, mir lebendige und bleibende Eindrücke von Land und Leuten vermittelten und das Programm so wunderbar ergänzten.
Können Deutsche und Amerikaner einfach Freunde sein?
Die Frage prangt in dicken Lettern am schwarzen Brett der Annenberg School for Journalism in Los Angeles. Sie gilt den Studenten als Einladung, ihre Mittagspause mit drei deutschen Journalisten und einem Lunchpaket zu verbringen und über die aktuellen politischen Beziehungen und den Umgang der Deutschen mit Al-Kaida zu diskutieren. Die Sonne scheint, der Himmel ist blau, nach für Kalifornien untypischen Monaten anhaltenden Regens ist endlich Schönwetter angesagt. Sie kommen trotzdem, um mit Sandwich, Cookie und Cola auf dem Schoß zu fragen, was ihnen zu Deutschland und Europa einfällt: Spüren wir noch heute Ausläufer des Kalten Krieges? Ist unsere Marktwirtschaft stabil? Warum sind wir Europäer stärker an Amerika interessiert als Amerikaner an Europa ? Und wie können wir bei solch astronomischen Benzinpreisen eigentlich überleben? Benzinpreise bewegen derzeit die Gemüter.
Dass es eine Europäische Union gibt, ist kaum wahrgenommen worden. Von der nahezu einheitlichen Europäischen Währung haben viele etwas gehört. Dass sich England nicht am Euro beteiligt, ist den meisten fremd. „Wenn auf Europa geblickt wird, dann vor allem auf Großbritannien“, informiert uns ein Professor, denn die meisten Korrespondenten aus den USA seien in London ansässig. Die Fragerunde endet wie so viele Meetings in den letzten Tagen: Ein Student schießt in die Höhe, die anderen folgen, und binnen weniger Sekunden ist der Raum geleert. Bis auf drei deutsche Journalisten und einen Professor…. Der Terminplan der Studenten ist prall gefüllt, pro Tag ein bis zwei Seminare, die eine Dauer von bis zu vier Stunden haben.
Die vier großen „S“ durfte ich auf dem Weg nach Los Angeles kennen lernen. „Sie sind per Zufall ausgewählt worden“, erklärte mir die Dame am Schalter lächelnd. Seitdem überlege ich mir vor jeder Flugreise genau, welche Socken ich anziehe. Die vier „S“ auf der Boarding-Card stehen für höchste Security-Stufe, d.h. „Schuhe ausziehen, Hose aufknöpfen!“, kein Taschen- und Körperteil bleibt undurchleuchtet. Die Gefahr vor Anschlägen steckt eben überall, im Fall der vier „S“ auch in einer Hosentasche.
Im Flugzeug hatte ich einen Platz neben einem Herrn, neben dem kein Platz mehr war. Er hatte eine Konfektionsgröße jenseits meiner Vorstellungskraft. Ein wirklich sympathischer, netter Mensch, wenngleich eher bewegungsarm. Schnell aufzuspringen war ihm nicht möglich, alles brauchte seine Zeit. Um sich aus den Klauen der Armlehnen zu befreien, benötigte er rund drei Minuten. Um wieder vollständig auf den Sitz zu sacken — Stückchen für Stückchen durchs eigene Körpergewicht gedrückt — brauchte er das doppelte an Zeit. Er sei Plattenmanager, erzählte er mir. Und ich fragte mich, wie er wohl seinen Arbeitstag bestreitet. Übergewicht ist ganz offensichtlich ein gravierendes gesellschaftliches Problem in den Staaten, das immens hohe Kosten verursacht. Und das Problem wird angegangen: Kurz nach diesem meinem Erlebnis hörte ich, dass dem Krümelmonster der Sesamstraße das Keksessen untersagt wurde. In seiner Vorbildfunktion darf es nur noch rohes Gemüse knabbern.
Glücklich, schlau oder ehrgeizig — von irgendwoher muss das Geld kommen
Die Annenberg School gehört zu den renommierten Eliteschmieden, wird mir immer wieder versichert. Alles wirkt sauber, hell und freundlich. Viele kleine Wiesen und Wege säumen die Gebäude, in denen es außer Klimaanlagen auch Räume mit Fenstern gibt (!) Im Stadion wird bis spät am Abend Football oder Baseball trainiert. Die Läden bieten alles, was Student zum Leben braucht. Niemand müsste die Insel der Glückseligen — umgeben von Autohändlern, mehrspurigen Straßen und Highways — verlassen. Vierzigtausend Dollar kostet das Studium im Jahr. Es gibt weitaus mehr Bewerber als Plätze. „Wenn du Glück hast, hast du reiche Eltern, wenn du schlau bist, ein Stipendium, wenn du ehrgeizig bist, einen Kredit, den du zurückzahlen musst!“, erklärt mir eine Studentin.
Ausstattung und technische Möglichkeiten sind grandios. Jedem Studenten stehen rund um die Uhr modernste Kameraausrüstungen, mit AVID ausgestattete Computer, Radio- und Fernsehstudios zur Verfügung. Die Arbeit bei CampU.S.-Radio- und -Fernsehmagazinen, die regelmäßig live ausgestrahlt werden, gehören zum Studium dazu. Die Seminare sind in der Regel mit vier bis sechs Teilnehmern besetzt.
Bei Judy Miller, langjährige ABC-Reporterin, müssen die Teilnehmer pro Woche einen frisch produzierten Beitrag vorlegen, entweder einen aktuellen Dreiminüter mit „Stand-up“ oder etwas längere, aufwendigere Stücke zu zeitloseren Themen. Bis ins kleinste Detail wurden die Filmbeiträge analysiert. Ich habe selten so effektive Seminare erlebt.Platter Pancake mit vierstöckiger Carrerabahn — so in etwa müßte LA aus der Vogelperspektive aussehen, und inmitten diese Carrerabahn haben wir uns begeben. Nichts, aber auch gar nichts geht hier ohne Auto. Wie tragisch. Gab es in Los Angeles doch einst eine der ersten Bahnstrecken überhaupt, die bis in die Berge oberhalb Malibus führte und der boomenden Autoindustrie zuliebe abgeschafft wurde. Daran erinnert sich heute kaum mehr jemand, wenn er Zeit seines Lebens auf vier Rädern verbringt, rasierend, schminkend, trinkend, um zum Arbeiten, Studieren, Einkaufen oder — wie wir — zu einem Treffen mit dem so netten Uniprofessor Murray Fromson zu fahren. Die Straßen sind elend lang, haben fünfstellige Hausnummern, und Santa Monica erlaubt sich darüber hinaus eine eigene Nummerierung. Das mussten wir lernen, als sich das vermeintliche indische Restaurant als Bauruine entpuppte. Als wir die richtige Nummer 2627 erreichten, stand Murray vor der inzwischen verschlossen Tür. Mit Doggy-Bag für drei deutsche Journalisten…
Stoiber, Spargel und Schinken statt Stars
Hollywoodstars haben wir übrigens keine gesehen, dafür wohnten wir einem Empfang von Edmund Stoiber im schnieken Beverly Hills bei. In seiner rund halbstündigen Rede wies er die Basket- und Baseballnation auf das Fußball-WM-Eröffnungsspiel im nächsten Jahr in München hin und erinnerte an die Verbundenheit mit Hollywood, seitdem Wolfgang Peterssen in den achtziger Jahren in Bayern „Das Boot“ produziert hatte. Seine Überraschungsgäste Sepp Maier und Gerd Müller waren leider — so wurde kommuniziert — in Las Vegas hängen geblieben. Den Gästen fällt es nicht weiter auf. Nach zehn Minuten widmen sie sich grünem Spargel, Schwarzwälder Schinken, Bier und sich selbst. „Hier ist man so lange Reden nicht gewöhnt, hier kommt man eher zum leichten Smalltalk“, erklärte ein amerikanischer Kollege die Situation. Dabei wolle man Herrn Stoiber, der seinen deutschen Monolog weiter halten darf und kein einziges englisches Wort verliert, sicherlich nicht stören. Karten werden getauscht, nette Gespräche geführt, deutsche und amerikanische Freundschaften für einen Abend gewonnen, und um halb zehn erklärt Thomas Gottschalk: „Hier in LA enden die Abende immer früh!“ Binnen drei Minuten ist der Raum geleert, bis auf drei deutsche Journalisten..
…und Charly knippste das Licht aus
Es folgte Fort Myers bei Naples, ein kleiner Ort an der Westküste Floridas (auf dem Flugticket standen die vier bekannten „S“). Vor einem Jahr feierte man hier stolz eine direkte Flugverbindung nach Frankfurt. Deutsche Langzeiturlauber sind eine gute Einnahmequelle. Fort Myers ist noch immer schwer durch den Besuch von „Charly“ gezeichnet: Palmen ohne Wedel, abgeknickte Bäume, stark zerstörte Häuser. Der Hurrikan war am 13. August 2004 über die Küste gefegt und läutete für etliche Bewohner eine Stunde null ein. Selbst große Hotelketten mussten monatelang schließen, kleinere haben sich bis heute nicht von dem Schreck erholt.
Beim Fernsehsender FOX 4 News mit einer täglich einstündigen Magazinsendung am Abend hat der Wettermann eine ähnliche Präsenz wie das Moderatorenteam. Täglich berichtet er über Hurrikans, die es zur Zeit nicht gibt. Das Trauma vom 13. August sitzt bei vielen Zuschauern tief.
„Für mich hat Charly mein gesamtes Leben auf den Kopf gestellt“, erzählt mir Patrick. Wir sitzen auf den Stufen zur Veranda seiner Tarpan Lodge, einer wunderschön weißen, im Kolonialstil erbauten Holzvilla auf einer Landzunge vor Fort Myers. Eine wahre Perle, direkt am Wasser, mit einer weiten Sicht unter anderem zu der Insel, auf der Patrick aufgewachsen ist. „Ich kenne diese Gegend in und auswendig, aber Charly änderte plötzlich seine Richtung. Er hat uns alle gefoppt.“ Patrick war nie abergläubisch, seit dem 13. August ist er sich nicht mehr sicher. Im Nachhinein sieht er diese Erfahrung sehr positiv: „ Alles war zerstört, das Dach existierte nicht mehr. Ich hatte kein Geld, und wenn ich nicht sofort gehandelt hätte, wäre das Haus komplett eingestürzt. Einige haben geholfen, bis ich jetzt wieder eröffnen konnte. Seitdem weiß ich endlich, wer meine wahren Freunde sind.!“
Können Amerikaner und Deutsche Freunde sein?
Auf rein persönlicher Ebene kann ich die Frage inzwischen mit „Ja“ beantworten. Während meiner USA-Zeit sind mir überraschend viel Interesse und Gastfreundschaft begegnet. Die häufig klischeehaften Vorstelllungen der Amerikaner von uns Deutschen erinnerten mich immer wieder daran, mit möglichst vorurteilsfreiem Blick zu erleben, was sich mir bietet. Sei es die Beteuerung, die Hälfte aller Wähler sei gegen Bush, Brust-OP’s als Geschenk zum Universitätsabschluss oder die Tatsache, dass es im Land der unbegrenzten Möglichkeiten keine anständigen Lichtschalter gibt.
Die Höhepunkte zu benennen ist fast unmöglich. Das Zusammentreffen mit Richard Stevenson, seit 1996 Korrespondent der New York Times in DC, fand ich sehr interessant. „Das größte Problem der Clinton-Administration war es: Sie haben ständig angerufen und dich mit Informationen zugeschüttet. Ganz anders unter Bush, da erfährst Du gar nichts. Und wenn sie was sagen, dann sagen sie nichts!“ berichtet er von seiner alltäglichen Arbeit.
Auch Ted Koppel, Anchorman von ABC, stand auf dem Programm — frisch gefönt, kurz vor seiner Pensionierung. Nachdem er uns ein paar deutsche Worte aufgesagt hatte, lernten wir, dass er seine monothematische Sendung mit Inhalten bestückt, die die Zuschauer am meisten interessieren. Wenn also ein Schneegestöber angesagt wird, Schulen daraufhin geschlossen, Busse umgeleitet und Flüge abgesagt werden, kann das wichtiger sein, als die Situation im Nahen Osten. Selbst wenn das Schneegestöber nicht stattfand und kein einziges Auto ins Rutschen kam. Gut, auch einmal solche Medienvertreter kennen zu lernen.
Patrick Nolan, mein Host bei FOX 4 in Florida und Reporterin Amy Wegemann, die ich auf ihren Liveschalten begleitete, Stella Lopez, Sabine Meyer und Prof. Murray Fromson von der University of South California sind nur einige der Menschen, die mir weit über ihre Verpflichtungen hinaus eine sehr vielseitige, wunderbare, erfahrungsreiche Zeit ermöglicht haben. Einen ersten Besuch aus LA habe ich bereits in Berlin empfangen, und unabhängig davon, ob der freundschaftliche Umgang kurzfristig war oder lange währt: Erfahren habe ich ihn, und vielleicht ist das ja ein Anfang…
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Monika Schäfer, Norddeutscher Rundfunk
„What are you doing? Why are you here?“ Konzentriert blättert der Immigration Officer am Dulles International Airport durch meinen Reisepass. Als er die Stempel von früheren USA-Aufenthalten entdeckt, legt sich seine Stirn in Falten. Gelte ich jetzt als verdächtig? — Statt mit umständlichen Erklärungen anzusetzen, ziehe ich meinen Trumpf aus der Handtasche: Das Schreiben, mit dem wir vorsorglich für die Begegnung mit übereifrigen Beamten der Einwanderungsbehörde ausgestattet wurden: „The RIAS BERLIN COMMISSION wants to provide German journalists […] with the opportunity for a deeper understanding of the American society, its institutions and the American people“ heißt es darin. Während der Officer die Zeilen überfliegt, hellen sich seine Gesichtszüge auf. Beschwingt schreite ich zum Gepäckband. Welcome America.
Washington D. C. begrüßt mich mit warmer Frühlingssonne. Ein erster „Bagel with Cream Cheese“, eine erste „Lemonade“, ein erstes Mal zu „Barnes and Noble“, dann werden die Lider schwer. Am nächsten Morgen geht’s richtig los. Endlich. „Welcome everyone“, unser „Program-Manager“ Jon Ebinger stattet uns mit einem Haufen Hintergrundmaterial für die bevorstehenden Termine aus. Heute geht’s noch ohne Begleittexte, für die „Spies of Washington“-Stadtführung dürfen wir sogar „casual“ angezogen sein. Die von der ehemaligen Air Force-Angehörigen und Vietnam-Veteranin Carol Bessett geführte Tour erweist sich als Reise zu den amerikanischen Pilgerstätten: Washington Monument, Thomas Jefferson Memorial, Lincoln Memorial, Korean War Veterans Memorial, Vietnam Veterans Memorial, Women in Vietnam Memorial, das neu errichtete World War II Memorial. Und schon beginnen wir zu diskutieren.
Nach dieser patriotisch angehauchten Einstimmung sitzen wir bald, korrekt in Businesskleidung, Dick Stevenson gegenüber, dem „White House“-Korrespondenten der „New York Times“. Immer wieder betont er die tiefe politische Gespaltenheit des Landes unter der Regierung Bush: „Everything the president says or does creates a big controversy.“ Warum Bush wiedergewählt wurde? Stevenson hat 9/11 in Washington erlebt. Seine Erklärung: „Bush is seen as the better protector.“ Er beklagt, wie schwer es für ihn sei, an Informationen über das Weiße Haus zu kommen. Die Bush-Regierung mauert.
„Nun sag, wie hast du’s mit der Religion?“ — Der Großteil der Amerikaner würde die Gretchenfrage positiv beantworten. Beim „Pew Forum on Religion & Public Life“ erfahren wir, welch übergeordnete Rolle der Glaube im Leben vieler Amerikaner spielt. Wöchentliche Kirchgänge, Boom der kirchlichen Schulen, immer mehr kirchliche Fernsehsender. Religion ist in den Vereinigten Staaten fester Bestandteil des privaten und öffentlichen Lebens. Senior Research Fellow David Masci unterstreicht die politische Einflussnahme der evangelikalen Gemeinden: Die „Wiedergeborenen Christen“, zu deren Glaubensrichtung sich auch George W. Bush bekennt, sicherten durch Mobilisierungskampagnen seine Wiederwahl. Seit dem Termin beim „Pew Forum“ fällt uns auf, dass in amerikanischen Städten fast an jeder Ecke eine Kirche steht.
Ich zappe durchs TV-Programm. Informationssendungen? Fehlanzeige, zumindest tagsüber. Stattdessen lange Werbespots, Verkaufssendungen und ausführliche Wetterberichte. Im 55. Programm stoße ich endlich auf CNN, finde schließlich ebenfalls die großen Network-Gesellschaften ABC, CBS und NBC. Auch hier Werbung und Wetter sowie die Endlos-Berichterstattung über Martha Stewarts Entlassung aus dem Gefängnis. Wie viele Pfunde sie abgenommen hat — is that news? Beinahe überflüssig zu erwähnen, dass der konservative Kanal „Fox TV“ der Rupert Murdoch-Gruppe keine Alternative bietet. Als wir durch die Studios des „National Public Radios“ (NPR) geführt werden, sperren wir die Ohren jedoch weit auf: Nachrichten, Hintergrundberichte, Reportagen, selbst am Nachmittag. Und fast werbefrei. Das „National Public Radio“, ein Zusammenschluss kleinerer Sender, finanziert sich durch Mitgliedsbeiträge. Immer wieder wird im Programm zu Spenden aufgerufen.
ARD Studio und Deutsche Botschaft, Kapitol und Weißes Haus … ein Termin jagt den nächsten. Dann wieder zum Flughafen. Die strengen Sicherheitsvorkehrungen verursachen Schlangen. Schuhe ausziehen, Koffer durchsuchen lassen. Andere erwischt es härter: Ein Fellow muss seine Hose aufmachen. Bei ihm hat es gepiept. Es war die metallene Gürtelschnalle. Wir fliegen nach Westen, direkt über den Grand Canyon. Unser Ziel: Los Angeles.
In L. A. gibt es die größten Autobahnkreuze, die ich je gesehen habe. Direkt hinter dem Hotel eine Stadtautobahn mit zwölf Spuren. Die Stadtautobahn vor dem Hotel ist „nur“ achtspurig. Susanne, Matthias und ich müssen bloß diese acht Spuren überqueren, und schon sind wir auf dem wunderschönen Campus der privaten „University of Southern California“ (USC). Stella Lopez empfängt uns herzlich, ein Mitarbeiter führt uns durch die Räumlichkeiten der „Annenberg School for Communication“, die Professoren laden zum Lunch. Schnell wird uns klar: Wir sind an einem Elite-Institut gelandet. Die jungen Studenten lernen in Kleingruppen nicht nur Theorie und redaktionelles Handwerkszeug, sondern auch den Umgang mit Kamera, Mikrofon und Schnittprogrammen. Angeleitet werden sie von erfahrenen Journalisten, die falls gewünscht auch zu den Dreharbeiten mitkommen. Auch die technische Ausstattung ist vom feinsten. Aber das Studium an der USC hat seinen Preis. Ein Jahr kostet bis zu 45.000 Dollar. Bei der „Open Discussion“ geht es zur Sache: „Can’t we just be friends … again? American-European Relations after 9/11“. Auf dem Podium: wir drei RIAS-Fellows. Das Publikum: Studenten und Lehrende, angelockt durch Gratis-Lunchpakete. Alle mampfen, während wir sprechen. Doch schnell sind die Sandwichs aufgegessen, und die Diskussionsrunde wird lebendig. Als ein Student fragt, ob denn die deutsche Demokratie wirklich sicher sei, begreife ich, wie verzerrt das Deutschlandbild vieler Amerikaner zu sein scheint. In der Schule lernen sie über den Zweiten Weltkrieg. Dass die Bundesrepublik seit ihrem Entstehen vor mehr als fünfzig Jahren eine stabile parlamentarische Demokratie mit funktionierendem Grundgesetz ist, davon scheinen viele noch nichts gehört zu haben.
Doch L. A. ist so viel mehr als „nur“ USC, und Stella hat geradezu mütterlich dafür gesorgt, dass wir die Metropole wenigstens ansatzweise erleben können. Bald sehen wir vom Dach des „KNX Talk-Radio/KTLA Television“-Gebäudes zum ersten Mal die berühmten Hollywood-Lettern im Dunst. Wir kneifen die Augen zusammen, so hell ist es. Unten der Sunset Boulevard. Und KNX-Börsen-Experte Frank Mottek, der uns zuvor eine ausführliche Studioführung gegeben hat, freut sich, dass wir so begeistert sind. Frank ist es auch, der uns die Einladung zum Empfang „Bavaria: World-Class Film und Media Center“ im Fünf-Sterne-Hotel „Regent Beverly Wilshire“ am Rodeo Drive in Beverly Hills verschafft. Ausgerechnet Edmund Stoiber ist in Hollywood, an diesem Abend wirbt er für die bayerische Filmindustrie. Seine Rede ist lang und auf Deutsch, unterbrochen nur von der Übersetzerin. Kein Wort bringt der bayerische Ministerpräsident auf Englisch heraus. Die anwesenden Filmleute wirken gelangweilt: „Wir sind solche langen Reden nicht gewöhnt“, flüstert mir jemand zu. Egal. Man speist und trinkt in edler Atmosphäre, und wir lernen ganz nebenbei Thomas Gottschalk kennen.
Getty-Museum, Venice Beach, Santa Monica. Die Woche im sonnigen Kalifornien vergeht wie im Flug. Viel zu schnell muss ich wieder los. Diesmal in den Mittleren Westen: Eau Claire, Wisconsin, zwei Autostunden östlich von Minneapolis.
Eine Kleinstadt, mit Mini-Flughafen. Kaum bin ich aus der winzigen Propeller-Maschine gestiegen, stehe ich bereits meiner „Host“ Brooke Allyson gegenüber. Sie ist ganz in H&M gekleidet. „Aus Berlin“, sagt sie. Sie liebt die Stadt, hat dort schon studiert. Im Auto schiebt sie ihre neueste CD in den Player: „Wir sind Helden“. Und Brooke und ich sind gleich auf einer Wellenlänge. Aber ohne Auto geht hier nichts. Mein Hotel liegt an der Mall. Direkt vorm Haus „Aldi“, ein paar Meter weiter „Wal-Mart“. Eine Fußgängerzone gibt es nicht in Eau Claire.
„WQOW-TV“, so heißt der lokale Fernsehsender, bei dem ich eine Woche lang zu Gast bin. Ein Flachbau an der Landstraße, direkt neben einer Tankstelle. Die Redaktion besteht aus rund zwanzig Leuten. Bei den drei täglichen Sendungen hat jeder seinen Auftritt, entweder für die Moderation, so wie Brooke, oder für Live-Reportagen. Überhaupt haben die WQOW-Mitarbeiter einen Allround-Job. Es gibt weder Kameraleute noch Cutter. Dazu fehlt das Geld. Die jungen Reporter fahren alleine zum Dreh. Sie beherrschen den Umgang mit Kamera und Hartschnitt-Platz, aber für eine komponierte Bildsprache fehlt ihnen das Gespür. Und die Zeit. Da sie meist zwei Beiträge am Tag produzieren müssen, sparen die Reporter entsprechend bei der Recherche. Skandalös, finde ich. Aber Lisa, die Chefin, hat andere Sorgen. Sie muss sich noch um ihre Moderation kümmern. Und irgendwie ist es schon verständlich, dass die Reporter bei einem Stundenlohn von acht Dollar und zehn Urlaubstagen im Jahr nicht gerade hypermotiviert sind. „Bei McDonald’s würden wir mehr verdienen“, scherzen sie.
Doch eine halbe Stunde vor Sendebeginn werden Jenny, Karen & Co. zu Perfektionisten. Hochbetrieb auf der Damentoilette. Eben noch saßen sie lässig am Schreibtisch, jetzt ziehen sie gekonnt den Lidstrich nach, legen Rouge auf und malen die Lippen an. Ein paar schnelle Bewegungen, und schon sind die Haare zu einer „First Lady“-Frisur aufgetürmt. Der große Auftritt naht. Eine Minute und dreißig als Reporter im Studio.
Auch ich habe meinen Auftritt. „A German Journalist Comes to Eau Claire“, lautet das Thema. Wie passend, dass ich aus Hessen stamme, das seit 25 Jahren mit Wisconsin verschwistert ist. Wirklich aufwendig ist es, mithilfe des Grafikers eine Deutschland-Karte zu erstellen. Die meisten WQOW-Kollegen haben eine sehr krude Vorstellung von Germany. Viele besitzen keinen Reisepass, sind noch niemals ins Ausland gereist. Karen etwa, die erfahrenste Reporterin, war noch nicht einmal in den Metropolen der Vereinigten Staaten. Für sie ist Eau Claire eine Großstadt — 56.000 Einwohner, eine Mall und viele Parkplätze.
In New York City gibt es keine Parkplätze, aber Unmengen verrückter Taxifahrer. Der Ägypter, der mich zum Hotel in Midtown Manhattan bringt, will mich überreden, hier mein „Business“ aufzubauen, so wie er. „You can make good money“, sagt er. Ich freue mich, nach Jahren wieder in NYC zu sein. À propos, jetzt ist wieder „business attire“ angesagt, Blazer und Bügelfalten.
UNO, CNN und „American Jewish Committee“. Gefolgt von bester Unterhaltung: Wir sind zu Gast bei Jon Stewart’s „Daily Show“. Den Comedian könnte man fast als amerikanischen Harald Schmidt bezeichnen. Trotzdem. Ich bin froh, dass die „Hochglanz“-Termine nur einen Teil des Programms ausmachen.
Dann fahren wir raus aus Manhattan, mit der Subway unter dem East River durch, nach Brooklyn. Das „Brooklyn Community Television“ ist weit mehr als ein „Offener Kanal“, so wie es ihn in Hamburg gibt. Vier Programme, 24 Stunden am Tag, exzellente Ausstattung. Jeder, der möchte, kann mitarbeiten oder Programm zuliefern. Für 90 Dollar erhält man die notwendige Technik-Ausbildung. Und die sei besser als in entsprechenden Uni-Kursen, schwärmt Executive Producer Greg Sutton. Er hat früher selbst Journalismus an der „New York University“ unterrichtet. Sein Sender versteht sich als „alternativ local voice“ für die 2,7 Millionen Einwohner Brooklyns: Nachrichten, Service und „human interest stories“. Nicht nur englisch, sondern auch spanisch, russisch und viele andere Sprachen. Aber das „Community Television“ ist auch die Stimme von Hasspredigern und Rassisten. Er dürfe jedoch bei keinem zugelieferten Band die Ausstrahlung verweigern, so Greg Sutton. Nur Wiederholungen könne er verhindern. Meinungsfreiheit geht vor.
Per „Express Train“ geht es nach Harlem. Unser Ziel: Die einflussreiche „Abyssinian Baptist Church“ in der 138sten Straße. Besonders dem Pastor dieser Gemeinde, Calvin O. Butts III., ist es zu verdanken, dass sich Harlem vom Schwarzen-Ghetto zu einem begehrten Wohnviertel mit vielen Geschäften gewandelt hat. Mitarbeiterin Susan Miles führt uns zu einigen Projekten der „Abyssinian Development Corporation“ nur wenige Blocks von der neugotischen Kirche entfernt: Wir sehen Übergangs-Wohnungen für sozial Schwache, besuchen eine Schule und stehen vor dem Pfannkuchen-Restaurant für Familien, für die Harlem nun wieder attraktiv ist.
Leider ist das offizielle RIAS-Programm schon zu Ende, als Anne, Susanne, eine Freundin und ich den Gospel-Gottesdienst am Ostersonntag erleben. Pastor Butts predigt amüsant und mit donnernder Stimme, und Susan Miles singt ganz vorne im Chor. Es ist brechend voll. Nur mit dem Codesatz „We know Susan“ sind wir überhaupt in die Kirche gekommen.
Am John F. Kennedy-Flughafen geht alles ungewohnt schnell. Noch nicht mal der Koffer wird durchsucht.
Jetzt zehre ich von den vielen Eindrücken und den wertvollen Begegnungen. Höhepunkte der Reise? Schwierige Frage. Das Programm war einfach zu interessant, zu intensiv und zu facettenreich. Dank RIAS habe ich innerhalb von vier Wochen unbeschreiblich viel über Land und Leute erfahren.
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Katja Schlesinger, Mitteldeutscher Rundfunk
Our Soldiers Die But For Schiavo We Cry
Diese Überschrift ist die eines Kommentars aus der LA Times, wenige Tage bevor die Wachkoma-Patientin Terri Schiavo starb. Ich hatte den Schiavo-Fall, den Krieg zwischen ihren Eltern und ihrem Ehemann, das juristische Hin und Her und vor allem das politische und mediale Gezerre darum mit großem Interesse vor allem in Fernsehen und Radio verfolgt und war sehr froh, als ich besagten Kommentar gelesen hatte. Denn endlich äußerte sich ein Journalist mit Bedenken, die auch ich teilte. Der Tenor war ungefähr der: Wie das Schicksal einer Einzelnen emotional so aufgeladen und jeden weiteren Tag ihres Lebens so hochgepusht wird, dass andere wichtige Geschehnisse im In- und Ausland beinahe und teilweise tatsächlich in Vergessenheit geraten. Das Beispiel des Autors: Die täglichen Toten auf amerikanischer Seite im Irak. Statt derer wurde der Schiavo-Fall zu einem Politikum.
Warum schreibe ich das alles? Für mich war der Fall ein Lehrstück in Sachen Macht, Politik und vor allem auch ein Lehrstück in Sachen USA. Und bei aller Tragik darum, ich bin froh, in dem Land, in dem es passierte, von Anfang an dabei gewesen zu sein. Es war interessant zu erleben, wie sich zunächst der U.S.-Kongress einmischte und dabei gegen die Unabhängigkeit der Gerichte verstieß, was verbreitet auf Kritik stieß; wie einige republikanische Politiker keinen Hehl daraus machten, dass sich der Schiavo-Fall bei den christlichen Rechten auszahlen würde, denn die seien begeistert, dass sich die Konservativen dieser moralischen Frage angenommen hätten. Außerdem war es spannend zu sehen, wie sich sofort zwei Lager bildeten: das der evangelikalen Christen, Abtreibungsgegner, katholischer Kirchenführer und — wie schon erwähnt — republikanischer Politiker (ganz vorn mischte der Präsidentenbruder Jebb Busch mit) und das der Liberalen und der Befürworter von Sterbehilfe.
Der Fall Schiavo fügte sich in mein Bild von Amerika, das natürlich nach wie vor große Lücken aufweist, aber das durch die Rias-Reise zumindest genauere Konturen bekommen hat. Durch die vielen Gespräche mit Politikern, Journalisten und Lobbyisten, aber auch mit Studenten (in der zweiten Woche) und meiner Host und ihren Freunden und Bekannten (in der dritten Woche) fiel es mir leichter, die Hysterie rund um Schiavo einzuordnen. Einige Punkte der ersten und vierten Woche des Riasprogramms, die ich besonders interessant fand, möchte ich benennen: der Besuch beim Pew Forum on Religion and Public Life ist, meiner Meinung nach, absolut unverzichtbar, eben weil Kirche und Wertediskussionen in den Staaten einen völlig anderen Stellenwert haben als bei uns. Die Treffen mit ehemaligen Mitgliedern des Repräsentantenhauses halte ich für sehr sinnvoll, weil diese nicht mehr in der aktuellen Politik mitmischen und sich dadurch unseren Fragen gegenüber offener verhielten; zumindest im Falle von Toby Roth und Dennis Hertel war das so. Außerdem fand ich es gut, sowohl einen Vertreter des eher Bush-nahen American Enterprise Instituts zu treffen, als auch einen des eher Demokraten-nahen Brookings-Instituts.
Amerika ist oder besser war ein Einwandererland. Das fällt in Staaten wie Colorado und Montana, wo ich meine Uni- und Fernsehstation hatte, nicht wirklich auf, ist in Großstädten aber stets sichtbar. Deswegen sollten die Treffen mit Vertretern der arabischen, jüdischen, Latino- und schwarzen Communities auf jeden Fall beibehalten werden.
Was bei den meisten Gesprächen und Treffen in den vier Wochen mitschwang, ist die Geteiltheit dieses Landes in zwei große politische Lager. Das ging teilweise sogar so weit, dass Leute sich nur kurze Zeit nach der Begrüßung als Bush-Wähler oder als Bush-Gegner outeten. Dieses Zerwürfnis, in dem sich die USA befindet, kommt in der Berichterstattung in deutschen Medien manchmal zu kurz. Ich bin froh, in den vier Rias-Wochen dafür ein besseres Gefühl bekommen zu haben.
Ein großes Lob möchte ich noch an die Organisatoren der Uni in Boulder/Colorado aussprechen. Was uns dort geboten wurde, war genau die richtige Mischung zwischen Programm, Betreuung und Freizeit. Ebenfalls sehr viel Spaß hatte ich mit Kerry Kavanaugh, meiner Host in Bozeman/Montana. Es war interessant, sie bei ihrer Arbeit als Lokalreporterin zu begleiten. Zum einen war es beeindruckend, mit welch einfachen Mitteln sie tagtäglich arbeiten muss und welch geringen Stellenwert innerhalb des Büros sie im Vergleich zu den Leuten hat, die Werbekunden eintreiben, zum anderen welche Themen sie abdecken musste. Es waren eben die lokalen Nachrichten einer Montana-news-show, die nach deutschen Maßstäben nicht wirklich professionell ist.
Im Nachhinein bin ich mit der Wahl der beiden Stationen sehr zufrieden. Ich wollte gerne in das American heartland, weil ich bis dahin nur die Ostküste kannte, und ich kam auf meine Kosten — Überraschungen eingeschlossen. So hatte ich nicht damit gerechnet, in Boulder in das „Öko-, Umwelt und Outdoorparadies“ der USA zu kommen. Und ausgerechnet in Monatana, wo ich beim Lesen der Zeitung manchmal nicht glauben mochte, was konservative Abgeordnete von sich gaben, und wo ich auch Gelegenheit hatte, mich mit Cowboys zu unterhalten, ausgerechnet dort, in Bozeman, traf ich die am weitesten linksgerichteten Demokraten, die ich je erlebt habe.
Abschließend noch zwei Bemerkungen zur Fernsehberichterstattung. Neben dem Terry Schiavo-Fall sind mir zwei weitere Nachrichtenthemen in bleibender Erinnerung geblieben: Das eine wegen der auffälligen geringen medialen Beachtung: die Schießerei in einer Schule in einem indianischen Reservat. Neun Menschen und der Amokläufer kamen dabei ums Leben. Ich bin davon überzeugt, dass dieser traurige Vorfall viel mehr Beachtung gefunden hätte, wenn sich die Schießerei nicht in einem indianischen Reservat zugetragen hätte. Statt das Thema auch analysierend aufzugreifen, wurde es zumindest von den großen Fernsehsendern ziemlich schnell fallen gelassen. Nur in einigen Zeitungen war in diesem Zusammenhang von sozialen Problemen, der Gewaltbereitschaft und hohen Selbstmordrate unter Jugendlichen in den Rerservaten zu lesen.
Das andere Thema steht in krassem Gegensatz, weil es sich geradezu grotesk lange in den Nachrichten, Talkshows und Sondersendungen hielt. Es geht um den „Engel“ von Atlanta, eine junge Frau, die von einem gesuchten mehrfachen Mörder als Geisel genommen wird, mit ihm über Gott und Wunder redet, dadurch sein Vertrauen gewinnt, ihm schließlich sogar pancakes bäckt, am Ende die Polizei rufen kann und mit dem Leben davonkommt. Keine Frage, dies ist auf jeden Fall eine große Nachrichtengeschichte. Aber sie hielt sich über Tage. Irgendwann wurde nur noch über den Glauben an Gott geredet, und weil „der Engel“ keine Interviews geben wollte, wurde eben ihr Pfarrer in Talkshows geladen. Aber, so werden Nachrichten nun einmal gemacht. Erst recht in den USA.
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Anne Sieger, Westdeutscher Rundfunk
„No problem“, sagt der indische Taxifahrer und räumt die Essiggurken vom Beifahrersitz auf seinen Schoß. Es sind mindestens fünf große Gläser, aber der Mann bleibt ganz entspannt und wir quetschen uns zu sechst (mit dem Fahrer sind wir also Sieben!) in seinen Wagen und kurven durch Washington D.C. In Köln gibt es wohl keinen Taxifahrer, der bereit wäre, auch nur fünf Leute mitzunehmen.
Zwei Wochen später in der amerikanischen Provinz, auf dem Flughafen in Moline, Illinois. Wieder einmal habe ich die berühmten „SSSS“ auf meiner Boardingkarte. Angeblich nach dem Zufallsprinzip werden so Passagiere ausgesucht, die sich einer besonderen Sicherheitskontrolle unterziehen müssen. Fast alle aus unserer Gruppe bekommen bei ihren Flügen „SSSS“, nach Zufall sieht das nicht aus. Und so schaue ich über eine halbe Stunde dabei zu, wie ein Beamter meine beiden Koffer komplett aU.S.- und wieder einpackt. Mit einer Seelenruhe tastet der Mann fast jedes T-Shirt und jede Socke mit einem seltsamen Gerät ab. „What are you looking for?“, frage ich. „Chemicals“. „On my socks ???“ Eine Antwort darauf bekomme ich nicht.
Zwei Erlebnisse meiner USA-Reise, die stellvertretend stehen für die beiden Seiten meiner persönlichen Amerika-Medaille: Auf der einen Seite die easy-going Mentalität, die ich kannte, und auf der anderen Seite der neue amerikanische Sicherheitswahn. Es ist das erste Mal seit dem 11. September 2001, dass ich wieder in den USA bin. Dass 9/11 das Land verändert hat, hatte ich schon vor der Reise x-mal gelesen und gehört, aber wie sehr diese Aussage stimmt, begreife ich erst jetzt. Die Anschläge sind immer noch ein bestimmendes Thema — fast in jedem Gespräch, das wir führen. Und es scheint, dass auch noch nach vier Jahren der „Kampf gegen den Terror“ als politisches Totschlagargument hervorragend funktioniert.
Die vier Wochen in den USA waren so voll gepackt mit Erlebnissen und Eindrücken, dass es mir vorkommt, als sei ich viel länger dort gewesen.
Die beiden Wochen in meiner Fernsehstation in Illinois und an der Uni in South Carolina waren im Vergleich zu der Zeit in Washington und New York regelrecht beschaulich. Bei WQAD TV in Moline, Illinois bekam ich eine Idee davon, was uns erwartet, falls die U.S.-amerikanische Arbeitsweise nach Deutschland herüberschwappt: Die Kameraleute waren gleichzeitig Cutter und kloppten innerhalb kürzester Zeit ihre Berichte zusammen. Dass bei uns Tontechniker mit zum Dreh kommen, rief bei WQAD nur Staunen hervor. Die Reporter waren verhältnismäßig schlecht bezahlt und hetzten von einem Live-Aufsager zum nächsten. Für Recherche blieb kaum Zeit.
Ganz ehrlich — das amerikanische Fernsehen, mit Ausnahme der Comedy Serien, ist fürchterlich. Und ich meine damit nicht nur „Jerry Springer“, sondern vor allem die Nachrichtensendungen. Es war fast unmöglich internationale Nachrichten im Programm zu finden, weil selbst das Flagschiff CNN über Tage praktisch ausschließlich über den Fall der Komapatientin Teri Shiavo berichtete. Unsere ganze Gruppe hat gelästert. Bei mir blieb außerdem das dumme Gefühl, dass unser Fernsehprogramm in ein paar Jahren genauso aussehen könnte.
South Carolina war völlig anders, als ich es erwartet hatte. Den erhofften „Vom Winde verweht“ — Charme gab es zwar in Charleston, die Architektur in der Hauptstadt Columbia hingegen mutet eher kommunistisch an. Beeindruckt war ich vom College für Massenmedien in Columbia, einem großen Gebäude, dass auch gut nach Pjöngjang gepasst hätte. Die Studenten, alle um die Anfang 20, stemmten jeden Tag eine halbstündige Sendung und hatten dafür eine hochwertige Ausrüstung und ein voll ausgerüstetes Studio zur Verfügung. Alle Kursteilnehmer konnten sich als Reporter, Moderatoren und Wetteransager versuchen. (Das WETTER! Lieblingsthema in den amerikanischen Medien. Gefühlte Wetter-Sendezeit: 30 Minuten pro Stunde. Unterbrochen von 20 Minuten Werbung). Was in Deutschland als „praxisnah“ diskutiert wird, ist hier in aller Konsequenz umgesetzt.
Die beiden Wochen in Washington und New York waren großartig. Ich weiß nicht, wann ich zum letzten Mal so viel Input bekommen habe wie in dieser Zeit. Die Gelegenheit z.B. mit einem Berater von Hillary Clinton zu sprechen, den White House Korrespondenten der „New York Times“ auszufragen oder beim Abendgebet in New Yorks größter Moschee dabei zu sein, hat man einfach nicht alle Tage. Auch wenn wir jeden Tag im Sturmschritt von einem Termin zum nächsten gehastet sind, gibt es kein Gespräch, auf das ich zugunsten einer längeren Kaffeepause hätte verzichten wollen.
Auch wenn sich noch nicht alle Eindrücke gesetzt haben, so würde ich im Moment zwei wesentliche Erkenntnisse nach diesen vier Wochen formulieren:
1. Die kulturellen Unterschiede zwischen Amerikanern und Deutschen sind gewachsen und/oder größer, als ich sie in Erinnerung hatte. Religion und Patriotismus haben einen viel höheren Stellenwert als bei uns und wahrscheinlich ist deshalb die Lebenseinstellung der Amerikaner grundsätzlich viel optimistischer als die der Deutschen. Ob der amerikanische Optimismus immer angebracht ist, ist eine andere Frage. Im Umgang fand ich diese positive Grundeinstellung jedoch ausgesprochen wohltuend!
2. Wenn ich mal nach New York ziehen sollte, dann nach Brooklyn.
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Matthias Störmer, Mitteldeutscher Rundfunk
Siebeneinhalb Jahre liegt mein letzter Flug über den Atlantik zurück. Also knappe vier Jahre vor dem Datum, das die Welt, vor allem natürlich die USA verändern würde. Neugierig und gespannt bin ich, welche Auswirkungen der 11. September 2001 wohl auf mich persönlich haben würde. Der Flug von Frankfurt nach Washington dauert 8 Stunden und 20 Minuten. Dann die Einreise. Sie verläuft schnell und ohne Komplikationen. Die Zollbeamtin bittet mich, die Schuhe auszuziehen. Das ist neu. Dann der Immigrationsbeamte. Mit einem Pfeifen auf den Lippen nimmt er zuerst meinen Pass und danach die Abdrücke meiner beiden Zeigefinger. Auch das ist neu. Er fragt, wie lange ich im Land bleibe und wünscht mir einen netten Aufenthalt.
Im Hotel „River Inn“ angekommen, staune ich zunächst über das geräumige Zimmer, eigentlich eher eine Suite, mit zusätzlichem Sofa und eingerichteter Küche. Trotz des Komforts, schlafe ich die erste Nacht schlecht. Als ich um sieben Uhr wach in meinem Riesen-Bett liege, beschließe ich, aufzustehen und die Gegend etwas zu erkunden. Ich gehe ziellos ein paar Straßen entlang und stehe auf einmal vor einem Hotel, das wirklich Geschichte geschrieben hat, dem Watergate Hotel. Ein Komplex, der sich über mehrere Gebäude hinzieht. Nur ein paar Schritte davon entfernt steht das Kennedy-Center. Hier gibt es allabendlich Lesungen, Konzerte und Diskussionsrunden. Mit einem Kaffee in der Hand laufe ich zurück zum „River Inn“, denn in 20 Minuten beginnt das offizielle RIAS-Programm. An der Rezeption werde ich angesprochen. „Hi Matthias, I´m Jon Ebinger“. Jon ist unser amerikanischer Betreuer in Washington D.C. und später in New York. Er hat in beiden Städten lange Jahre gelebt und wird in allen Fragen stets ein kompetenter und geduldiger Ansprechpartner sein.
Nach dem Orientierungsfrühstück, hier lernt die gesamte Gruppe sich kennen, beginnt eine mehrstündige Stadtrundfahrt. Wir sehen das Vietnam, das Korean und das World War II Memorial, den „Smithsonian“ Museums-Komplex, Capitol Hill und Weißes Haus. Unsere Stadtführerin heißt Carol Bessette. Sie und ihr Mann haben in den 60-er und 70-er Jahren in Deutschland, u.a. in Wiesbaden, gelebt und standen in den Diensten des Geheimdienstes CIA. Carols Mann erzählt am Rande eine spannende Anekdote aus dem Jahr 1961, nur Wochen bevor die Mauer gebaut wurde. Ein Vorgesetzter bekam den Auftrag, eine Unbekannte vom Westberliner Zentralflughafen Tempelhof nach Westdeutschland auszufliegen. Niemand dürfe fragen, wer diese Frau sei. Nachdem der Auftrag ausgeführt wurde, stellte sich heraus, dass es sich um eine Sekretärin von Ex-Stasi-Chef Erich Mielke handelte. Mit Begeisterung erzählen Carol und Mann von „Good bye Lenin“. Der deutsche Erfolgsfilm ist tatsächlich auch in U.S.-Kinos zu sehen gewesen.
Wir treffen Dick Stevenson, seit 1996 White House Korrespondent der „New York Times“. Er hat seine Erfahrungen sowohl mit der Bush- als auch mit der Clinton-Administration. Der Hauptunterschied, sagt Stevenson, sei der folgende: Traf man sich mit Leuten der Vorgänger-Regierung, hörten diese gar nicht auf zu reden. Als Korrespondent habe man quasi alle Informationen bekommen, die man brauchte. Das krasse Gegenteil sei jetzt an der Tagesordnung. Leute um George W. Bush würden so gut wie nichts preisgeben, was die Arbeit natürlich nicht leicht mache. Persönliche Kontakte seien freilich wichtiger denn je.
Hochinteressant für mich ist die Begegnung mit einem Mann, der in den USA den Bekanntheitsgrad genießt wie etwa Ulrich Wickert in Deutschland: Ted Koppel. Er ist Anchor, Reporter und zugleich Interviewer der werktäglichen Abendsendung „Nightline“, und zwar seit 1980. Jeden Tag hat Koppel einen anderen Gast im Studio und redet über ein bestimmtes Thema. Die Frage, wer sein denkwürdigster Interviewpartner in all den Jahren war, kann er zunächst nicht beantworten. Es seien eigentlich zwei Leute gewesen, sagt Koppel nach längerem Nachdenken. Zum einen ein Mann, der wusste, dass er nur noch Stunden zu leben hatte. An diesen letzten Stunden und seinen damit verbundenen Gedanken wollte er die Zuschauer teilhaben lassen. Der zweite Interviewpartner, den Koppel niemals vergessen würde, sei ebenfalls ein Mann gewesen, gezeugt im Vietnam-Krieg: Vater Afroamerikaner, Mutter Vietnamesin. Dieser Mischling hatte in Vietnam nun wirklich nichts zu lachen. Als Koppel ihn in seiner Show zu Gast hat, stellt er die Frage: „was haben Sie sich zuerst angesehen, als sie in Amerika waren?“ Und die Antwort:“ den Himmel. Ich konnte endlich aufrecht nach oben schauen“.
Ich habe bereits erwähnt, dass das Ausziehen der Schuhe bei der Einreise für mich neu war. Die Steigerung davon bekomme ich beim ersten Inlandsflug zu spüren. Nach einer Woche Washington folgt meine Universitätsstation, Los Angeles. Beim Aufgeben meiner beiden Koffer wirft die Schalterbeamtin einen Blick in meinen Pass und schaut auf mein Flugticket. „Ihre Koffer werden gesondert kontrolliert und geröntgt, Sir“. Auf meiner Bordkarte wird „SSSS“ vermerkt, was heißt: genaueste Kontrolle. Ich beobachte, wie ein Zöllner meine Koffer öffnet und jedes Utensil genauestens examiniert. Mit dem Handgepäck muss ich nun durch den Zoll. „Oh, you´re special“, heißt es, als ich Pass und Bordkarte zeige. Schuhe aus, Gürtel auf, Hose auf, Hose leicht runter. Ich werde abgetastet, gemustert, muss die Hände hoch nehmen und sämtliche Taschen leeren. Eine Prozedur, die gut zehn Minuten dauert. Als verdächtig, so erfahre ich später, gilt, wer ein One-Way-Ticket, ein Papierticket und kein E-Ticket hat und dieses nicht per Kreditkarte, sondern bar bezahlt hat. All das traf bei den Terroristen vom 11. September zu. Ja, denke ich. Amerika ist anders geworden…
Dann aber geht´s endlich los, rein in den Flieger und fünf Stunden Flug über das ganze Land, den Grand Canyon, die Rocky Mountains nach Kalifornien. Gemeinsam mit Monika Schäfer und Susanne Rabsahl werde ich eine Woche eintauchen in das Leben der zweitgrößten amerikanischen Stadt. Wir sind Gäste an der Annenberg School for Communication der University of Southern California. Eine Elite-Schule. Wir erleben keine überfüllten Hörsäle, keine Professoren, die ihre Studenten nicht kennen. Nein, wir erleben Kurse, z.B. Broadcast Documentary Production, bestehend aus einem Professor und vier Studenten. Eigens gedrehte Filme werden ausgewertet, sehr individuell. Ich empfinde eine kreative und sehr freundschaftliche Atmosphäre. Besonders erwähnen möchte ich Murray Fromson, seit 1982 Professor an der USC. Murray war zuvor lange Jahre CBS-Korrespondent, deckte u.a. den Korea- und Vietnam-Krieg ab. Anfang der 70-er Jahre arbeitete er in der Sowjetunion. Murray veranstaltet mit Susanne, Monika, mir und interessierten Studenten eine Podiumsdiskussion. Das Thema: „Can´t we just be friends again?“ — Thema sind die Beziehungen zwischen Amerika und Europa und der Kampf gegen Al Kaida. Das Motto: Studenten fragen — wir, die Gäste, antworten. Deutlich wird gerade hier, wie geteilt das Land ist: Auf der einen Seite Befürworter der Bush´schen Irak-Politik — auf der anderen Seite Studenten, die sich ungefragt für ihren Präsidenten entschuldigen. „I didn´t vote for him“. Einer der Anwesenden in der Diskussionsrunde stellt die Frage, ob die Demokratie in Deutschland in Gefahr sei. Ich halte den Fragesteller irrtümlicherweise für einen Studenten. Später finde ich heraus, dass dies nicht der Fall ist.
Eindrucksvoll ist auch ein Besuch bei KNX, einem der in Los Angeles wohl meistgehörten Talk Radio Sender. Wir sind morgens verabredet mit Wirtschaftsredakteur und Moderator Frank Mottek. Frank ist ein echter Typ. Er hat dadurch, dass er auch Fernsehen macht, einen Namen in der Stadt. Ein großes Thema in Amerika ist der Benzinpreis. Sprit kostet in den USA umgerechnet 50 Cent. Das ist viel für die Amerikaner. Ich gebe Frank ein Interview zum Thema Benzinpreise in Deutschland. Ob sich das Fahrverhalten der Deutschen geändert habe, will er wissen. „By the way“, sagt Frank dann auf einmal: „Edmund Stoiber is here this week. If you want to, you can meet him“. Natürlich wollen wir. In einem LuxU.S.-Hotel in Beverley Hills wirbt der CSU-Chef für ein weiteres Engagement der U.S.-Filmbranche. Ohne ein einziges Wort Englisch zu sprechen sagt Stoiber, der Freistaat biete hervorragende Produktionsbedingungen. „Kommen Sie nach Bayern“. Wenigstens „Good evening, it´s good to be here“ hätte Stoiber ja vielleicht sagen können. Hat er aber nicht. An dem Empfang nimmt übrigens auch Thomas Gottschalk teil. Auch er kennt Frank Mottek. „Dich höre ich jeden Morgen“, sagt Gottschalk zu Frank. Weitere Gäste sind der Dirigent Zubin Mehta, ProSieben-Sat.1-Besitzer Haim Saban und Schauspieler Hannes Jaenicke.
Von Los Angeles geht´s weiter zum Fernsehpraktikum nach Kansas City. Die Stadt liegt im Mittleren Westen und ist eine regional nicht unbedeutsame Einkaufsstadt. Hier ist eine der lebendigsten Jazzszenen der USA beheimatet. Charlie Parker, wohl die Lichtgestalt des Modern Jazz, stammt von hier. Doch vorher am Flughafen noch die gleiche Überprüfungs- und Sicherheitsprozedur. Diesmal stellt eine Uniformierte mir die Frage, ob ich Handfeuerwaffen mit mir führe… Abends angekommen in „KC“, wie man hier sagt, erwartet mich mein Host, Martin Augustine. Wir verstehen uns auf Anhieb. Martin ist Reporter bei „Channel 9“, einem lokalen Fernsehkanal, zugehörig zur ABC-Gruppe. Er arbeitet für die 22-Uhr-Nachrichten. Martins Schicht beginnt um 14 Uhr. Am nächsten Tag holt Martin mich um 13:45 Uhr vom Hotel ab und nimmt mich mit in „seinen“ Sender. Das Klima ist sehr freundlich und familiär. Auf der Redaktionskonferenz werde ich vorgestellt. Dann wird nach Themen für die 22-Uhr-Ausgabe gesucht. Schnell merke ich: interessant ist, was die Leute interessiert. Was interessiert die Leute? Alles Lokale mit einem sehr hohen Gesprächswert. Heute befasst sich Martin mit einem Betrüger, der Unterschriften und Geld für den Erhalt eines Frauenhauses sammelt. Martin, ein Kameramann und ich fahren also raus in jenes Frauenhaus. Wir interviewen den verzweifelten Betreiber der Einrichtung und eine Frau, die von dem Betrüger selbst angesprochen wurde. Martin vermittelt mir eine Studioführung beim öffentlich-rechtlichen Fernsehsender KCPT und beim Newstalk-Kanal KMBZ. Moderator Russ Johnson interviewt mich eine ganze Stunde lang. Er will wissen, ob man sich in Deutschland anschnallen muss, ob ich eine Waffe habe, ob ich nicht gerne hier arbeiten würde, ob ich die Autos hier in Amerika nicht sehr groß finde. Von Russ’ Stimme bin ich sehr beeindruckt. Sie klingt ähnlich wie Arnold Marquis, die deutsche Synchronstimme von John Wayne. In Kansas City erlebe ich auch den irischen Feiertag St. Patricks Day. Tausende Amerikaner sind auf der Straße, singen, lachen…und trinken Bier. Sie können es nicht fassen, dass dieser Tag in Deutschland keine Rolle spielt. „Ihr Deutschen trinkt ja sowieso dauernd Bier“, meint ein Amerikaner um die 40. Eins noch: man darf Kansas City nicht verlassen, ohne im weltberühmten Restaurant Gates eingekehrt zu sein. Das Roastbeef ist wirklich sehr zu empfehlen.
Zeit für New York City: Es ist etwa 20 Uhr. Rainer, Isabell, Saska, Matthias H. und ich sitzen im Rockefeller Plaza. 65. Stock. Rainbow Room. Ein Restaurant mit Wahnsinns-Panorama. Da hält kein Bildband mit. Man kann den Norden, Süden und Osten Manhattans sehen. Was für ein Lichtermeer ! Es gibt wohl kaum einen perfekteren Ort, ein romantisches Dinner zu zelebrieren oder eben einfach nur, so wie wir an diesem Abend, einen Drink zu genießen.
Jon Ebinger vermittelt uns eine Studiotour bei CNN und nicht nur das. Wir treffen Aaron Brown zum persönlichen Gespräch. Mich interessiert, inwieweit sein Anchor-Job schauspielerische Fähigkeiten erfordert. Aaron konstatiert, er sei ganz er selbst. Weitere Highlights: Vereinte Nationen, das American Jewish Committee, Brooklyn Community Television und die „Abyssinian Baptist Church“. Ich laufe zum Dakota-House. Dort lebte John Lennon bis 1980, als er erschossen wurde. Yoko Ono wohnt noch immer da. Sehr unterhaltend: wir sind zu Gast in der „Daily Show“ mit Jon Stewart. Ein Quotenbringer in den USA. Zu Gast ist übrigens Sandra Bullock. Im Madison Square Garden sehe ich Basketball. Hier treffen zwei Erzrivalen aufeinander: Die New York Knicks gegen Boston Celtics. Und schon sind vier Wochen vorbei. Krönender Abschluss: Mit einer Stretched Limousine werden wir vom Hotel zum Flughafen Newark eskortiert. Vielen Dank, RIAS, für vier wunderbare Wochen.
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Dirk Vilsmeier, Bayerischer Rundfunk
„Help save America“
Gespielt verzweifelt appelliert der Republikaner Toby Roth an uns deutsche Journalisten. „Wir haben Euch zweimal gerettet. Jetzt seid Ihr dran uns zu helfen! Der Krieg im Irak ist ein Fehler.“ Ohne Hilfe aus dem Schlamassel wieder rauszukommen scheint dem ehemaligen republikanischen Kongressabgeordneten nicht mehr möglich. Konkreter wird er aber nicht.Überraschende Eindrücke.
Mehrfach blättert ein Teil unserer Journalisten-Gruppe nach, ob hier wirklich ein konservativer Republikaner spricht, oder nicht doch ein liberaler Demokrat. Eine von vielen Überraschungen auf der vierwöchigen Reise quer durch die USA, von Washington D.C. über Austin/Texas und Akron/Ohio bis nach New York. 11 deutsche Radio- und Fernsehjournalisten nehmen an der Reise teil. Wir kommen von privaten wie öffentlich-rechtlichen Sendern, Massenwellen und Kulturprogrammen oder auch aus Fach- oder Nachrichtenredaktionen. Wir sind zwischen 24 und 40 Jahre alt und wurden von der RIAS Kommission ausgewählt, weil wir in unserer täglichen Arbeit immer wieder mit den USA in Kontakt kommen und Interesse an Amerika haben.
Gespaltene Nation
Dass rund 48 Prozent der U.S.-Amerikaner nicht für die amtierende Regierung gestimmt haben, ist in Deutschland eine mehr oder weniger abstrakte Größe. Mit dem RIAS unterwegs fängt diese Zahl zu leben an. Und das ziemlich respektlos angesichts der harschen Karikaturenlandschaft in den liberalen Zeitungen. Dazu kommen all die Leute, die sich ungefragt entschuldigen für die aggressive amerikanische Politik der jüngsten Zeit. Das Land ist klar und deutlich gespalten. Man ist gegen die Regierung oder steht hinter ihr. Ein „Dazwischen“ gibt es nur, wenn es um die Soldaten geht. Wer beispielsweise in ein Flugzeug steigt, sieht am Eingang Aufkleber „we support our troops“ — „wir unterstützen unsere Truppen“. Aidsschleifenähnliche Aufkleber auf Autos verfolgen den gleichen Zweck. Nicht jeder „Schleifenträger“ ist allerdings für den Krieg. Manche bekunden so nur Solidarität mit den Soldaten, waren aber gegen den Einmarsch im Irak. Das verstehe, wer wolle, denn auch diese Leute fordern jetzt keinen sofortigen Rückzug um das Leben der „Troops zu supporten.“
Starker Einfluss der Kirchen
Auffällig ist die Bedeutung der sogenannten „values“ — Werte — in den USA. Sie sind in den vergangen Jahren deutlich wichtiger für die Menschen geworden. Das belegen Studien, die unserer Gruppe von verschiedenen Think Tanks in Washington vorgestellt werden. Das zeigen aber auch die direkten Gespräche an der journalistischen Fakultät der Universität von Texas in Austin und in der Industriestadt Akron/Ohio im Nordosten. Werte, die meistens von der Kirche geprägt sind. Schließlich erwarten rund 80 Prozent der Amerikaner, dass ihr Präsident einer Glaubensgemeinschaft angehört. Das soll zeigen, dass er sich höheren Werten verschrieben hat als nur dem Eigennutz. Ein Muslim dürfte es als Kandidat allerdings nicht besonders leicht haben, heißt es bei den Vordenkern der Nation gleich dazu.
Die mehr oder weniger berüchtigten Washingtoner Think Tanks gehören in der ersten Woche genauso zum Stipendien-Programm wie selten gewordene Führungen durch das Weisse Haus oder den Kongress sowie Begegnungen mit renommierten Journalisten der Medienszene, von ABC Reporterstar Ted Koppel bis zum „White House Correspondent“ der New York Times. Einige sind im Gegenzug auch sehr interessiert an Deutschland.
Sende-Lizenz zum Geld drucken
Dem Volk „auf’s Maul“ schauen funktioniert allerdings am besten weit von Washington entfernt, während der einwöchigen Ausflüge an Unis und Radio/TV Stationen. Dort erlebe ich zum Beispiel, warum der Freistaat Bayern das Texas von Deutschland ist, aber auch, dass das öffentlich-rechtliche Radio bei uns ein Paradies ist, wird spätestens hier klar. Allein der Marktführer Clear Channel besitzt 1300 Radiostationen. O-Ton Zuspielungen im Privatfunk sollen in der Regel fünf Sekunden nicht überschreiten, wenn es überhaupt Nachrichten gibt. Dafür kann ein Besitzer von drei Radiostationen in einer Stadt mit 200 000 Einwohnern wie Akron — die alle nur ein Kerngebiet von rund 25 Meilen Radius bedienen — geschätzte fünf Millionen Dollar im Jahr verdienen. Nach Abzug der Kosten! Und das ist ein kleiner Fisch in der Szene. Wert der drei Frequenzen: Gerüchten zu Folge bis zu 150 Millionen Dollar. 14 bis 18 Minuten Werbung pro Stunde machen es möglich.
Vielseitiges Programm
Der krönende Abschluß des RIAS Stipendiums ist sicher New York, auch wenn andere Teile des Programms auf ihre Art spannender waren, weil man den Menschen näher war. Im Zentrum des Geschehens — nähe Times Square — untergebracht, sind alle wichtigen Ziele in nächster Umgebung. Das Gespräch mit der deutschen UN-Delegation samt Mittagessen im 24. Stock genauso wie das Treffen mit dem American Jewish Committee, dem Islamic Cultural Center, dem deutschen „Vicepresident“ von NBC oder auch mit dem Wahlkampfstrategen von Hillary Clinton. Dazwischen bleibt aber auch genügend Zeit New York zu erkunden. Vom MoMa bis joggen im Central Park. Über „Shop till you drop“ bis zur Ostermesse in Brooklyn oder aber auch einfach nur treiben lassen und bei Starbucks die Menschen beobachten.
Fazit
Ein ziemlich anstrengendes Kurzstipendium mit mehr Informationen als man kurzfristig im Verlauf des Programms verarbeiten kann, das mittelfristig aber ein prima Gespür für die USA, gute Kontakte und auch einen ganz neuen Draht zum Land vermittelt. Dass die ganze Gruppe vom RIAS ziemlich „gepampert“ wurde, sei nur am Rande erwähnt. So rette ich Amerika gerne! „Help save America“.
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Dr. Herdin Wipper, Deutsche Welle-TV
„Snow doubles price“
Es ist kalt in Washington — kalt, windig und ungemütlich. Das tut der Stimmung auf der Stadtrundfahrt zu Beginn des Aufenthalts zwar keinen Abbruch. Aber nach dieser Erfahrung beschließen Kollege Dirk und ich, zum ersten offiziellen Termin am nächsten Tag ein Taxi zu nehmen; zumal für die Nacht auch noch Schnee angesagt ist. Die anderen Mitglieder der Gruppe sind etwas verwundert ob unseres dekadenten Vorhabens, da der Weg durchaus zu Fuß zu bewältigen wäre. Auch an der Hotelrezeption erhalten wir eine nett gemeinte Warnung: Bei Schneefall würde sich der Taxipreis verdoppeln, quasi als eine Art Gefahrenzulage. Erstaunlich! Da die Strecke normalerweise nur um die fünf Dollar kostet, können wir aber selbst einen Aufschlag unserem Budget zumuten.
Noch viel erstaunter sind alle über den Aufstand, den das amerikanische Fernsehen wegen der zu erwartenden zehn Zentimeter macht. Der kommende Schnee ist überall der Aufmacher, in epischer Breite werden Horrorszenarien entworfen, man bekommt den Eindruck, die Stadt stünde kurz vor dem Ausnahmezustand. Alle paar Minuten wird auf allen Sendern die Wettervorhersage aktualisiert, gewürzt mit Rückblicken auf vergangene Schneekatastrophen und Schalten zu den Reportern vor Ort. Motto: „Rick, you are standing there where the snow is expected in eight hours. How is it now?“ Die bange Frage nach den Streusalzvorräten erfährt eine beruhigende Antwort. Außerdem sind alle Hilfs- und Rettungsdienste bestens vorbereitet.
Unsere Neugierde ist geweckt, und so geht der erste Blick am nächsten Morgen aus dem Fenster. Und siehe da, die Straße ist tatsächlich leicht weiß — allerdings nur von den am Abend zuvor gepriesenen Salzvorräten. Auch ohne Schnee weichen Dirk und ich vom einmal gefaßten Plan nicht mehr ab und springen aufgeräumt ins Taxi. Sicher angekommen, verlangt der Fahrer zehn Dollar und ein paar Zerquetschte. Auf unsere leicht verwunderte Nachfrage bekommen wir als Antwort nur ein lakonisches „Snow doubles price“ zu hören. Auch der nachvollziehbare Einwand, daß nicht ein Flöckchen gefallen sei, bringt den Mann nicht aus der Ruhe. Allein die Ansage würde reichen, seinen Taxometer entsprechend zu frisieren. Derartig belehrt ergänzen wir spontan den mittlerweile liebgewonnenen Satz in „Even announced snow doubles price“. Damit ist der Running-Gag für die Woche geboren.
Der Rest der Gruppe glaubt zunächst an ein Ammenmärchen, läßt sich schließlich aber doch überzeugen. Später erfährt die Geschichte sogar noch so etwas wie eine Bestätigung. Innerhalb des von unserem Betreuer Jon Ebinger sehr ausgewogen und äußerst interessant zusammengestellten Programms findet sich auch ein Termin mit zwei ehemaligen Mitgliedern des Kongresses. Beide flehen uns als Europäer nahezu an, die Amerikaner vor dem Überschnappen zu bewahren. Sicherlich sei nach den tragischen Ereignissen vom 11. September 2001 erhöhte Wachsamkeit geboten, doch inzwischen würde sich in den USA eine Hysterie breitmachen, die ihrer Meinung nach sogar schon auf ganz alltägliche Dinge übergreife. Auf den Umgang mit zu erwartenden zehn Zentimetern Schnee angesprochen, entschlüpft ihnen nur ein mildes Lächeln.
„ Why we live here“
Dem Schneechaos glücklich entronnen, freue ich mich auf Miami. Ich mache dort Station bei einem der größten lokalen Fernsehsender, LOCAL 10. In Empfang nimmt mich Neki Mohan. Sie moderiert am Wochenende, von montags bis mittwochs ist sie als Reporterin unterwegs. Und sie ist ein absoluter Profi. Es macht riesigen Spaß, mit ihr Miami zu entdecken und die verschiedensten Geschichten zu bearbeiten. Recht schnell wird klar, wo die Unterschiede in den jeweiligen Arbeitsweisen liegen. Es findet ein reger Austausch statt.
Doch auch hier läßt mich das schnöde Wetter nicht los. Der Sunshine-State bietet fast immer um die 25 Grad Celsius und Sonnenschein. Allein das läßt gute Laune tanken. Am ersten Arbeitstag schaue ich mir natürlich die Nachrichtensendung an, für die Neki arbeitet. Dabei ist die Wettervorhersage um ein nicht unerhebliches Detail ergänzt worden. Irgendwann gegen Ende — nachdem erneut klar wird, wie schön und warm es sogar im Winter in Florida ist — erscheint eine Temperaturtafel. Hier erfährt der sonnenverwöhnte Beobachter, daß in New York nicht einmal der Gefrierpunkt erreicht wird und es in anderen Städten der USA auch nicht viel besser aussieht. Als Höhepunkt prangt über dieser garstigen Liste die magische Überschrift: „Why we live here“. Damit ist eigentlich alles gesagt.
Ich kann mich vor Lachen kaum halten und muß Neki meine plötzliche Heiterkeit erklären. Für sie ist das natürlich alles ganz normal, trotzdem entwickelt sich besagte Überschrift zum Schlachtruf für die nächsten Tage. Denn Neki versteht nicht nur zu arbeiten, sondern auch zu entspannen. Miami ist ihr das liebste Plätzchen auf Erden, und sie kennt hier Gott und die Welt. Und sie stellt mir netterweise ihre Freunde vor, die mich mit großem Hallo aufnehmen. So wird gemeinsam mit Feuereifer am Freizeitprogramm gestrickt. Jawan bringt uns in einen der angesagtesten Clubs, Brett hat ein Boot und lädt zum Ausflug, Rob besorgt Karten für ein NBA-Spiel der Miami Heat usw, usw. Why we live here!
„Fried green tomatoes“
Auch eine perfekte Woche geht einmal zu Ende. Jetzt ist Uni angesagt. Doch vorher geht es noch auf einen kleinen Abstecher nach Charleston in South Carolina. Ein putziges kleines Städtchen, typisch Süden und ein touristisches Highlight. Außerdem kommen wir schon hier in den Genuß der berühmten Südstaatenküche: viel Fritiertes — nicht gerade gesund, aber lecker. Als Filmfans müssen wir selbstverständlich die berühmten fritierten grünen Tomaten probieren. Das lukullische Mahl bringt aber keine endgültige Aufklärung, ob diese Tomaten unreif sind, oder ob es sich dabei schlicht um eine andere Sorte handelt — oder beides.
Die Uni liegt in der Hauptstadt Columbia. Sie ist mit modernstem Equipment gesegnet. Für die Studenten muß es eine Wohltat sein, sich hier umzutreiben. In den Gesprächen mit den angehenden Journalisten wird deutlich, daß die Ausbildung in Deutschland doch wesentlich spartanischer und vor allem theoretischer ist. Der Dekan Charles Bierbauer hat einen sehr lehr- und vor allem abwechselungsreichen Stundenplan für uns ausgetüftelt. Wir besuchen die verschiedensten Veranstaltungen an unterschiedlichen Fachbereichen, halten Vorträge und sind „Stargäste“ eines Symposiums. Das ist zwar alles etwas anstrengend, macht aber riesigen Spaß.
„ A city that never sleeps“
Zum Abschluß New York. Jon hat wieder ein richtig spannendes Programm zusammengestellt, in dem sich wie schon in Washington Treffen mit Interessenvertretern und Verbänden sowie journalistische und touristische Termine die Waage halten. Trotzdem bleibt auch noch Zeit, etwas auf eigene Faust zu unternehmen. Die Stadt selbst ist total faszinierend. Ich kann eigentlich nur schwärmen und jedem raten, es einmal selbst zu erleben. Deshalb möchte ich an dieser Stelle noch einmal die Gelegenheit nutzen, der RIAS BERLIN KOMMISSION aufrichtig dafür zu danken, daß ich an dieser außergewöhnlichen Reise teilnehmen durfte. Das Programm ist absolut fantastisch!
RIAS USA-Herbstprogramm
1.–29. Oktober 2005
Zwölf Journalisten in den USA: Programm in Washington und New York; Besuch von Journalistenschulen (Brigham Young University, Provo; University of Georgia, Athens; University ofHawaii, Manoa); individuelles Rundfunkpraktikum.
TEILNEHMERBERICHTE
Natalie Akbari-Haddad, Südwestrundfunk
Für mich war es der erste Aufenthalt in den Vereinigten Staaten und ich bin sehr dankbar, dass ich ihn mit dem RIAS-Programm absolvieren durfte, denn das hat Einblicke und Begegnungen ermöglicht, die sonst nicht möglich gewesen wären. Eben diese Begegnungen und Gespräche waren für mich auch die wertvollste Erfahrung bei dieser Reise, denn sie haben geholfen: beim ständigen Abgleich von Vorstellung und Realität wie beim Überprüfen von Stereotypen.
Über diese Fragen habe ich während meines Aufenthalts in den Staaten mit vielen, sehr unterschiedlichen Menschen diskutiert — die Debatte, die jetzt unter anderem im amerikanischen Kongress geführt wird, erscheint mir manchmal wie ein Echo unserer Gespräche. Denn die Argumentationslinien sind im Grunde dieselben: Wie kann ein Land, das sich als Hort von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Freiheit betrachtet, dass diese hohen Güter am liebsten in alle Welt exportieren möchte, wie kann dieses Land gleichzeitig diese Güter konterkarieren — durch Gefangenenlager wie in Guantánamo-Bay oder durch Folterkeller wie in Abu Ghraib und vielleicht anderswo?
Diese Fragen habe meistens nicht ich aufgeworfen, sie wurden von meinen Gesprächspartnern in den USA selbst gestellt. Mein Eindruck nach vier Wochen Amerika ist der eines zumindest in Teilen zutiefst verunsicherten Landes. Das Selbstwertgefühl, das sich speist aus dem unbedingten Anspruch, ‘God’s own country’ zu sein, ist angegriffen — viele Menschen, mit denen ich gesprochen habe, sagten, sie fühlten Scham angesichts dessen, was geschieht. Es ist auch nicht richtig, was in Deutschland oft gemutmaßt wird, dass Amerikaner sich nicht darum scheren, was andere über sie denken. Ganz im Gegenteil: meine Erfahrung war, egal, mit wem ich gesprochen habe: Studenten, Professoren, Journalisten oder ‘Leute auf der Straße’: alle waren besorgt um das Image ihrer Heimat, keinen hat es kalt gelassen, dass die USA an Reputation in der Welt verloren haben.
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass ich niemanden, und zwar buchstäblich niemanden, getroffen habe, der frei heraus gesagt hat, dass er die Politik der aktuellen U.S.-Regierung unterstützt. Ich habe mich gefragt: Woran liegt das? Selektive Wahrnehmung? Oder habe ich mit traumwandlerischer Sicherheit nur liberale Zentren in den USA aufgesucht? Beides muss ich verneinen: denn erstens war meine ganze Wahrnehmung darauf ausgerichtet, endlich mal einen ‚echten Bushisten’ zu treffen. Und zweitens lagen sowohl meine University- wie meine Station-week in sog. ‘Red States’: Indiana und Missouri, beides konservative Staaten im Mittleren Westen. Dort fuhren zwar deutlich größere Autos herum als in Washington und New York, mit deutlich mehr Aufklebern wie ‘Support our Troops’ und ‘Proud to be American’, aber Bush-Begeisterung? Fehlanzeige.
Ich habe lange überlegt, woran das liegen könnte. Eine Möglichkeit verbirgt sich vielleicht hinter dem besagten ‚Proud to be American’-Sticker. Denn stolz darauf, Amerikaner zu sein — was bedeutet das? Stolz auf das wirtschaftlich, politisch, militärisch potenteste Land der Welt? Ich glaube nicht. Ich glaube, dahinter verbirgt sich der oben schon erwähnte Anspruch, ein Mitglied von ‘God’s own country’ zu sein, ein Teil einer ganz besonderen, auf bestimmten Werten basierenden Gemeinschaft. Der Schlüsselbegriff scheint mir dabei Werte zu sein. Denn um Werte, um ‚values’ ging es sehr viel und immer wieder bei den Gesprächen, die ich geführt habe. Werte — so zumindest war mein Eindruck — scheinen eine ungeheure Rolle zu spielen im amerikanischen Selbstverständnis, sie sind gleichsam der Schlüssel zum kollektiven Bewusstsein. Und genau an diesem Punkt wird es spannend: was passiert, wenn man einer Nation, die ihr Selbstverständnis aus bestimmten Werten schöpft (wie Freiheit, Fairness, Aufrichtigkeit etc.), wenn man dieser Nation durch die Missachtung dieser Werte gleichsam den Boden unter den Füßen wegzieht? Wenn man Freiheit entzieht statt sie zu gewähren, wenn man lügt statt aufrichtig zu sein, wenn man erniedrigt statt Fairness walten zu lassen?
Ich denke, genau dies erlebt zur Zeit die Bush-Regierung. Sie hat unter der Fahne des Kampfs gegen den Terror eine Politik betreiben können, die im Widerspruch zu den oben angesprochenen Werten steht. Um dieses Vakuum zu füllen, hat sie andere, ebenfalls wertebezogene Themen in den Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion gerückt: zum Beispiel das Recht auf Leben (Abtreibungsdebatte) oder den Wert der Ehe (Homo-Ehe). Das hat sehr gut funktioniert — so gut, dass viele Amerikaner angegeben haben, sich bei den letzten Wahlen aus Werte-Fragen für Bush entschieden zu haben. Sogar sozial Schwache, die von einer republikanischen Regierung nichts als Einschnitte zu erwarten hatten, haben republikanisch gewählt — und zwar, so hat es uns Luis Lugo vom Pew Forum in Washington erklärt, der Werte wegen. Die Werte-Karte zu spielen, war also erst mal clever — auf lange Sicht hat die Regierung aber vielleicht zu hoch gepokert. Denn wem Werte und Moral wirklich wichtig sind, der kann auf Dauer die Augen nicht verschließen vor Folterskandal und CIA-Affäre, vor rechtlos gehaltenen Gefangenen und enttarnten Geheimdienstagenten.
In diesen Punkten scheitert die Bush-Administration an den hohen moralischen Ansprüchen, die sie selbst aufgestellt hat. Das beginnen die Menschen in den USA jetzt zu realisieren — und zu diskutieren.
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Marion Fuchs, Bayerischer Rundfunk
Für 1500 Dollar kann man schön in Urlaub fahren. Oder ein Baseballspiel anschauen. „There is no price on history,“ sagt ein Amerikaner, der gerade zwei Tickets ergattert hat. Schließlich haben sich die White Sox aus Chicago zum ersten Mal seit 1959 für die World Series qualifiziert. Was für uns die Fußball-WM ist, ist für Amerikaner die World Series, und ganz Chicago fiebert mit. Konditoreien backen Kekse in schwarz-weiß, den Farben der White Sox. Pärchen heiraten im Baseballstadion, und Grundschulen veranstalten White Sox Days, an denen alle Kinder Vereinsfarben tragen. Wir Deutschen sagen bei so was gern: „Die spinnen doch die Amis. Die sind halt so.“ Aber wie sind sie denn eigentlich „die Amis“? Vorurteile gibt es viele…
Superpatriotisch
Ja, die Flaggen sind überall. Ja, auf den Autos kleben Aufkleber mit „Proud to be American“. Ja, ich war entsetzt, als ich im Museumsshop in Washington ein Kindermalbuch für „Young Patriots“ fand, das die amerikanische Armee als die weltbeste anpreist. Doch das ist eben nur eine Seite, die andere habe ich genauso kennen gelernt: In guten Gesprächen mit weltoffenen Amerikanern, die durchaus über den U.S.-Tellerrand hinausblicken und erstaunlich viel über Deutschland wissen — von Groll gegen „Old Europe“ keine Spur. Heute verstehe ich besser, warum die Amerikaner ihr Land so sehr lieben. Dafür reicht ein Besuch im Einwanderermuseum auf Ellis Island: Für die Immigranten aus aller Welt war Amerika das goldene Land, die Hoffnung auf ein besseres Leben. Junge Frauen gaben Eheversprechen per Brief, nur um mittels Heirat mit einem Amerikaner endlich in die USA auswandern zu dürfen. Familien sparten jahrelang, um sich die Kräfte zehrende Schifffahrt nach New York leisten zu können. „Wenn ich mir ein Märchenland vorstellen würde, wäre das Amerika“ schreibt ein Einwanderer. Ein Märchenland — für viele Amerikaner ist es das noch heute. Das können wir Deutschen oft nicht verstehen, aber — wenn wir die Hintergründe besser kennen — vielleicht akzeptieren.
Oberflächlich
„I´m fine. Thank you.,“„Good. Thanks,”„Great. And you?” Ich komme mir langsam vor wie ein Floskelautomat, der die immer gleichen Phrasen ausspuckt auf die eine Frage, die uns Deutschen so fremd ist: „How are you?” Eigentlich nervt es mich aber viel weniger, als ich dachte. Ich muss sogar zugeben, dass es richtig angenehm sein kann, wenn Verkäufer und Kellner freundlich besorgt sind und nicht nur „Zwei fuffzig“ schnauzen. Auch dem Smalltalk kann ich mehr und mehr abgewinnen: Saß ich auf dem Hinflug noch neben einem deutschen Muffel, hat mich auf dem Heimweg Ingenieur Jim aus Florida mit Small Talk prächtig unterhalten — Oberflächlichkeit kann so schön sein. Manchmal existiert sie aber auch einfach nicht: Mit TV-Redakteurin Krystin aus Chicago habe ich Kamellen aus der Pubertät aufgewärmt, über ihre Probleme im Sender gesprochen und Tränen gelacht. Das war eine tolle Begegnung mit einem wunderbaren Menschen und keinesfalls oberflächlich.
Konservativ und religiös (Brigham Young Universität, Provo/Utah)
Im Mormonenland ist alles anders. Das Mormonenland heißt Utah, hier liegt das Städtchen Provo, hier verbringen wir unsere Uni-Woche. Kaffee und Cola werden in Provo nur entkoffeiniert serviert. Tabak geht gar nicht, Sex vor der Ehe ist streng verboten. Wer Wein kaufen will, fühlt sich wie ein Schwerverbrecher, der einen Drogendealer konsultiert. Die Mormonen sind eben eine konservative Glaubensgemeinschaft und halten sich an strikte Grundsätze. Bei uns in Deutschland werden Studenten erst nach dem zweiten Kaffee wach und feiern wilde Parties. An der Brigham Young Universität in Provo sind die einzigen „Drogen“ die überdimensionalen Schokoladentorten. Gefeiert wird mit Saft, geflirtet wird gar nicht, denn die meisten Studenten sind verheiratet oder wenigstens verlobt. Die Mehrheit ist für die Republikaner, unterstützt die Truppen im Irak und findet Bush gar nicht schlecht. Alles ist so modern, perfekt und blitzblank geputzt, dass wir fast darauf warten, dass die Filmkulisse umfällt und der Regisseur „Cut“ schreit. Trotzdem fühlen wir uns wohl, die Menschen sind absolut freundlich und offen — auch für kritische Fragen. Wir schauen den Studenten bei der Produktion ihrer professionellen Nachrichtensendung über die Schulter und lernen sogar einen „Mormonen-Promi“ kennen: Apostel Dieter, ein Deutscher und ehemaliger Lufthansa-Pilot. Ihn zu treffen, das ist für Mormonen wie für Katholiken eine Begegnung mit dem Papst. Wir fühlen uns geehrt. Nur eines freut uns, als wir aus Provo abreisen: Endlich wieder Kaffee mit Koffein und Wein ohne schlechtes Gewissen. Ein paar Tage lang fahren wir durch Utah, besuchen Nationalparks wie den Bryce Canyon und bestaunen roten Wüstensand und rote Gesteinsformationen, die wir nur aus Western-Filmen kennen. Im Mormonenland ist manches anders, aber vieles wunderschön.
Hektisch (CBS 2, Chicago)
In einer Minute ist sie auf Sendung. Gerade hat TV-Reporterin Krystin noch ein paar Zeilen auf ihren Block gekritzelt, jetzt klebt sie am Autorückspiegel: Bisschen Lippenstift, bisschen Haarspray, bisschen Puder. Raus aus dem Auto, Mikro in die Hand. Drei, zwei, eins — Lächeln. Was für ein Stress! Trotzdem geht die Live-Schaltung perfekt über die Bühne. Zu Hause merkt kein Zuschauer, wie hektisch vorher alles war oder dass Krystin heute aus Zeitdruck nur einen Schokomuffin gegessen hat. Auch in meiner Redaktion in München haben wir Stress, essen mal nichts oder schlafen wenig, aber gegen unsere amerikanischen Kollegen sind wir Rentner auf der Parkbank. Beeindruckt schaue ich dem hektischen Gewusel beim Fernsehsender CBS 2 in Chicago zu — hier verbringe ich meine „Solowoche“. Zum Schluss bin ich froh, dass ich zu Hause nicht alles in 1-Minute-10-Beiträge quetschen muss. Eine „Hektikmarotte“ hab ich allerdings übernommen: Essen unterwegs. „Grab something and go“ lautet die Devise in Amerika. Vielleicht sind deshalb Sandwiches hier so populär, die kann man beim Rennen essen, ohne sich vollzusauen.
Was übrig bleibt…
Natürlich ein Stapel Broschüren und Presseinfos aus unseren zahlreichen Meetings in Washington und New York. Zu meinen Highlights gehören der Besuch bei Al Jazeera, ABC Radio und der „Jon Stuart Daily Show“. Auch die Gespräche mit Vertretern der Hispanics, der Native Americans und der African Americans haben mir geholfen, die Amerikaner besser zu verstehen. Genauso wichtig aber sind die zufälligen Begegnungen. Da war der Filmproduzent, der uns erzählt hat, wie New York früher war, und dass die Mafia schon mal mit Zahlungsforderungen bei ihm auf der Matte stand. Oder Kameramann Damon mit den pinken Haaren, der Bush hasst, und nach einem 12-Stunden-Tag noch eine Radiosendung moderiert und mit seiner Band auftritt. Da war TV-Reporter Vince, der italienische Vorfahren hat und bei einem Dreh in einer Bar am Klavier „That´s l´amore“ für uns singt. Oder Radioreporterin Maria, die jegliche Info in 30-Sekunden-Beiträge packen muss und ein bisschen in den Polizeisprecher verknallt ist. So sind sie also, „die Amis.“ Aber eben nicht nur so. Manchmal stimmen die Vorurteile, oft sind sie falsch. Diese Menschen und ihr Land sind zu vielfältig, um sie in Kategorienschubladen zu quetschen.
Was bleibt also übrig? In jedem Fall viel mehr als nur ein Stapel Broschüren und Presseinfos. Ich habe viel gelernt über Amerika und mehr noch über seine Menschen. Schubladen sind dazu da, um sie aufzumachen und den verstaubten Inhalt hin und wieder auszumotten. „The purpose of life is to live it, to taste experience to the utmost, to reach out eagerly and without fear for newer and richer experience,“ hat First Lady Eleanor Roosevelt gesagt. Sie hat Recht!
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Heike Janßen, Norddeutscher Rundfunk
Washington
Die Hauptstadt der USA wirkt dort, wo wir uns aufhalten, fast kleinstädtisch. In Lauf-Entfernung die ganzen Denkmäler, die ich aus verschiedenen Politik- und Kitschfilmen schon kenne. Es ist ein erhebendes Gefühl, sie trabend inmitten zahlloser anderer Jogger zu erschließen. Ganz zu schweigen vom Weißen Haus, das nur einen Block entfernt liegt. Das führt mich zu zwei wesentlichen Eindrücken über Amerika:
1. Die Menschen sind sehr freundlich. Bei jedem Jog-Denkmal-Stop fragte mich jemand, ob er mich fotografieren solle, und jetzt besitze ich auf Fotos: Mich in Sportzeug vor dem Lincoln, Jefferson, World War II (Pazifik und Atlantik-Seite), Korean War und Vietnam-Memorial. Immer wieder in den USA kamen die Leute auf mich zu, in Restaurants, Geschäften oder im Bus und fragten mich, woher ich käme. Um darauf zu sagen: Oh, ich war schon mal in Heidelberg/Wuppertal/Castrop-Rauxel, ich habe Verwandte dort, meine Vorfahren kommen aus Deutschland. Journalisten fragten mich, wie ich ihre Sendung finde, Washingtoner, ob ich das amerikanische Essen mag (nur in besseren Restaurants. Sonst im Wesentlichen: zu süß, zu fettig) und im Bus die Sitznachbarn, ob ich Bush mag. Diese Freundlichkeit und Offenheit beschämt mich, denn wir sind, glaube ich, umgekehrt nicht so nett.
2. An den Denkmälern sieht man die Basis des Patriotismus, der uns auf dieser Seite des Atlantiks so befremdlich erscheint. Wenn man die Inschriften liest, in denen es um Freiheit, Gerechtigkeit, Befreiung (Europas, Koreas usw.) in Verbindung mit Heldentum geht, wenn man in der Halle des Kongresses die Statuen der bedeutenden Amerikaner sieht (von George Washington über Martin Luther King bis zu den ersten Frauenrechtlerinen), dann weiß man, woher es kommt, und es reißt einen auch ein klein bisschen mit. Auch wenn die USA sehr weit davon entfernt sind, eine gerechte Gesellschaft mit gleichen Chancen für alle zu sein, und als sehr umstrittener Weltpolizist agieren, ist es doch schön, wenn es einen ideellen Fluchtpunkt gibt.
In Washington interessante Einblicke von Journalisten hinter die Kulissen amerikanischer Politik, Background von gesellschaftlichen Gruppen: Ein Navajo erzählt vom Heimfahren zu seinem Stamm; wir hören Forderungen der African Americans an den Kongress und etwas über die Lage der illegalen Einwanderer. Wir erfahren etwas über die nicht vorhandene Stadtplanung in den USA und die Bedeutung der Religion (immens) und Museen, Museen, Museen.
North Carolina, Universität in Chapel Hill
Hier beeindrucken mich die technische Ausstattung und die Professionalität und der Ehrgeiz der Journalistik-Studenten. Der Campus, ein weitläufiges Gelände mit alten Häusern, dazwischen Rasenflächen; hier Student sein! Eine lange Diskussion mit zwei Professoren über die Zukunft der Medien, und wie man es erreichen könnte, junge Leute für politische Nachrichten zu interessieren (Fazit: Pessimismus). Ein Abstecher zur Duke-Universität, (40-tausend Dollar/Jahr) — ich komme mir vor wie in Disney-World, Dutzende Gebäude im Cambridge-Stil, aber natürlich nicht so alt; ich frage mich, ob ich so etwas Künstliches mag. Aber es sieht schön aus und in hundert Jahren ist es bestimmt immer noch präsentabel, während manche deutsche Betonklötze abrissreif sind. Ich habe viele Amerikaner getroffen, die diesen auf alt getrimmten Stil lieben.
Dallas, Fox News
Ein kleiner Sender. Diskussionen in der Morgenkonferenz: welche Geschichten sind harte News, wie erzählen wir sie, was gibt es Neues in der Medizin usw. Die Termine vor Ort werden schnell und professionell erledigt. Interview, Aufsager, live-Schalte, schneiden. Allerdings besteht die Morningshow, in der Dan, mein Host, als Anchor arbeitet, zum großen Teil aus Verkehrsnachrichten (notwendig in Dallas, das aus riesigen, tausendspurigen Highways besteht), Wetterbericht und Schalten zu Unfällen, Morden oder bunten Themen. Politik gibt es auch, aber in kleinen, leichtverdaulichen Häppchen. Dabei haben die Redakteure und Reporter politischen Verstand und lieben es zu diskutieren. Eine nette Truppe. Mit Dan fahre ich noch nach Fort Worth, wo es den größten Saloon der Welt gibt und wir reiten mit dem fast echten Cowboy David drei Stunden um einen schönen See. Dan und David reden über Cowboyromantik und dass die Abenteuerlust und das Heldentum der ersten Siedler vielen noch im Blut steckt — oder ein kleiner Mythos geworden ist, der mancherorts (vielleicht im texanisch besetzen Weißen Haus??) noch Einfluss hat.
Nicht vergessen: Die Texas Trade Fair, in der es neben dem größten Bullen der Welt (10-tausend Hamburger auf Hufen), dem kleinsten Pony der Welt und dem zweitgrößten Riesenrad auch Ausstellungen gibt: Die Texaner häkeln, stricken, nähen und kochen um die Wette, und wer regionale Shows gewinnt, darf auf der Trade Fair ausstellen. Daneben gibt es Rodeo, massenweise Karussells und Freßbuden. Ich habe zwei Stunden gesucht, um eine Kleinigkeit zu essen zu finden, die weniger als 5-tausend Kalorien hatte. Dann habe ich aufgegeben und einen Corny Dog (Wurst im Teigmantel am Stil) und ein „Fried Peanutbutter and Jelly Sandwich“ (ohne Kommentar) gegessen.
Als ich im Flugzeug nach New York sitze, vermisse ich noch ein bisschen das Überdimensionale, das ich in Texas erlebt habe: schamlos zur Schau gestellter Reichtum, ruppige, echte Kerle mit Cowboyhut (nur hier kann man sie tragen, ohne lächerlich zu wirken), und die riesigen Steaks. Und irgendwie habe ich das Gefühl, den Cowboy im Weißen Haus näher kennengelernt zu haben.
New York
Ist eben New York. Groß, laut und wir laufen und fahren von Termin zu Termin, kleine Leute zwischen riesigen Häusern und inmitten rennender Massen.
Hintergrundinformationen aus der deutschen Botschaft bei den Vereinten Nationen. Ein Termin bei einer Organisation, die Flüchtlinge in den USA ansiedelt und an deren Integration mitarbeitet. Spannend und anregend. Gespräche mit Wissenschaftlern über Medien in den USA. Und wir besuchen die Daily Show, die nach meinem Eindruck eine der wenigen Politiksendungen ist, die noch junge Leute erreicht, sie beleuchtet Politik und Medienberichterstattung auf sehr intelligente, kritische und satirische Weise. Ansonsten bin ich beunruhigt über die schnelle und oft oberflächliche Weise, in der die Nachrichten hier verbreitet werden, und die Vermischung von Werbung und Information. Ausnahmen sind einige größere Zeitungen, die aber sinkende Auflagen haben.
Fazit: Ein höchst informatives Programm, ich habe eine Menge gelernt über die USA, die Politik, die Medien und die Menschen, mehr als auf zwei Seiten passt. Es gibt viele Dinge, die ich nie verstehen werde (die Massen an Plastikmüll, der hier gedankenlos produziert wird zum Beispiel, und die Methode, Demokratie in der Welt zu verbreiten) aber vieles hat auch bewirkt, dass ich mich sehr wohl gefühlt habe: Die Fähigkeit, spannende Vorträge zu halten zum Beispiel, die Passion, mit der die Referenten uns ihre Themen nahebrachten. Die Offenheit und die Hilfsbereitschaft vieler Amerikaner, wenn man suchend an einer Kreuzung steht und die Schlagfertigkeit vieler Leute hier, die über sich selbst die besten Witze reißen.
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Sandra Matl, Bayerischer Rundfunk
Heather, die Producerin des Lokalsenders WSPA in Spartanburg ist so etwas wie mein Gegenstück. Sie war mit RIAS in Deutschland. Ihr Ziel seitdem: Raus aus Amerika, für mindestens ein Jahr in Deutschland leben. Matt, ihr Ex-Kollege, hat nach seiner RIAS-Reise den Sender sogar verlassen. Er wollte nicht mehr für eine Nachrichtensendung arbeiten, die sich nur mit dem eigenen Land beschäftigt.
Bei mir war es anders: Es war nicht mein erster Blick über den großen Teich. Mein Leben hat sich nach der Reise nicht spürbar geändert, aber es hat sich spürbar bereichert! Ich war über den 11. September 2001 hinweg zu Praktika in New York, Washington und New Orleans. Durch RIAS bekam ich jetzt Gelegenheit, noch mal in verschiedene Bereiche des amerikanischen Alltags einzutauchen und mir eine Frage zu beantworten, die mich zunehmend beschäftigte: Was hat sich in den vergangenen 5 Jahren getan?
Flaggen
Immer noch überall Flaggen. So eingebettet und selbstverständlich, dass sie fast nicht mehr auffallen. Die Nationalflagge weht von Hausdächern, hängt in Kirchen, prangt auf Speisekarten. Ich überlege, wie es wäre, wenn die Deutschlandflagge so oft im Einsatz wäre. Die USA verstehen sich sichtbar als Team. Sie leben es auch im Alltag: Zu dritt stehen wir an einer Kreuzung und überlegen, wohin als nächstes. Eine ältere Dame bleibt stehen und fragt, ob sie helfen kann. Ein anderes Mal fehlt mir im Bus Kleingeld. Ehe ich den 10-Dollarschein herausziehen kann, zwinkert der Fahrer und winkt mich durch. Immer wieder sprechen die Leute von ihrem Land als „this great country“. Ich höre es in den vier Wochen im Fernsehen, bei Vorträgen, in Unterhaltungen.
Religion
Luis Lugo vom Pew Forum on Religion & Public Life präsentiert uns Zahlen: Amerika sei einer der gläubigsten, Europa der ungläubigste aller Kontinente. Was das bedeutet, erlebe ich dann im Alltag. Gottesbezug findet sich wirklich fast überall: Auf Dollar-Noten, als Leitspruch im Saal des Repräsentantenhauses, in der Nationalhymne. Dreimal werde ich dabei sein, wenn sich alles zum Gebet erhebt: 3000 Leute vor und nach dem Marshallfund-Dinner der Armee in Washington. 200 Leute vor einer Bezirkstagssitzung in Spartanburg. Und die Familie einer Moderatorin meines Praktikumsenders vor dem Abendessen.
In Bloomington, unserer Uni-Station, verteilen Männer auf dem Campus Bibeln. Und Dan Coats, ehemaliger U.S.-Botschafter in Deutschland, zeigt sich bei einem unserer Hintergrundgespräche in Washington überrascht, wie leer die Kirchen waren als er die Luther-Stadt besuchte: „Wir dachten wirklich, Wittenberg sei für Sie, was Mekka für Muslime ist“.
Essen
Die Lady vor mir drückt auf Haselnuss. Ich mache das auch, aber hätte es eigentlich wissen müssen: Der kochend heiße Kaffee ist erst genießbar, als er abkühlt und der chemische Geruch nachlässt. Die USA gehen — aus europäischer Sicht — lukullisch gern mal an die Grenze guten Geschmacks. Chips werden wirklich zu allen Lebenslagen gereicht, als Snack im Flugzeug oder anstelle von Pommes bei Combo-Menüs der — als gesund geltenden — Sandwich-Kette „Subways“. Um Kalorien zu sparen, kann man sich dafür dann bei CVS ein Mineralwasser mit dem Aufdruck „no fat“ kaufen.
Eine Süßigkeit aus dem Willkommens-Korb, den mir mein Praktikums-Host zusammengestellt hat, teste ich später erfolgreich an der RIAS-Gruppe: „White Pretzels“. Kleine, weiße Schokoladen-Brezeln. Ein Knaller! Die Salzbrezeln mit Schokoüberzug.
Provinzstädte
Hier sind wir im Stadtzentrum, vermute ich und frage bei Gastgeber Kevin am ersten Abend vorsichtig nach: In Bloomington sind es zwei Straßen mit Geschäften. In Spartanburg, meiner nächsten Station, gibt es gar kein Zentrum. Amerikaner gehen zum Einkaufen in die Malls am Stadtrand. Und weil die sich ständig erweitern und neu bauen, bleiben Schuhschachtel-förmige Gebäude oft leer stehen und werden zunehmend zum Thema für die Stadtentwicklungspolitik. Immer häufiger übernehmen öffentliche Institutionen wie der Bezirkstag solche Hallen als Büros, erzählt Moderator Tom Crabtree vom Sender WSPA.
Fernsehen
Als der Jahresbericht des FBI herauskommt, haben wir es schriftlich: South Carolina ist der zweitkriminellste Staat der USA. Während meiner Praktikumswoche bei WSPA-TV passieren zwei Morde im Bezirk Spartanburg. „What bleeds, leads“, sagt Kameramann Tom. Das Thema, natürlich Sendungsaufmacher. Leah ist Nachtreporterin und macht eine Stimmungsumfrage in der Nachbarschaft. Zum ersten Mal sehe ich den „Blackberry“ in Aktion. Das kombinierte E-Mail-Telefon wird von der Redaktion gestellt und ist permanent im Einsatz. Bei Drehs sind Reporter und Producer oft über die PTT-Taste in Funkkontakt. Beitragstexte werden teilweise schon auf dem Weg ins Studio per Email übermittelt. Der Kameramann ist gleichzeitig Cutter, der Autor nur für den Text verantwortlich. Die Mischung erfolgt vor dem Bildschnitt. Reporter sind ständig on Air: Aufsager in den Beiträgen und Aufsager im Studio, um den Beitrag gemeinsam mit dem Moderator einzuleiten, gehören zur Routine. Der Sendungsablauf ist schneller als bei deutschen Shows, der Bildschnitt erreicht auch bei Nachrichten Geschwindigkeiten, die man bei uns nur aus Musikvideos kennt.
Ausbildung
Durch RIAS erfüllt sich nachträglich ein Traum, den ich in meiner Studentenzeit nicht mehr wahrmachen konnte: Studieren in den USA. Die Uni-Woche wird meine Nummer 1. In Bloomington an der University of Indianapolis noch mal für kurze Zeit Student sein und irgendwie doch nicht. Zig Mal stehen wir vor Klassen und erzählen, wo wir herkommen, was wir machen, was in Deutschland gerade passiert. Als Natalie erwähnt, dass der Antiamerikanismus zunimmt, bekommen viele große Augen. Ein Student fragt, ob Italien zu Deutschland gehört so wie Indianapolis zu Amerika. Wir treffen verschiedene Journalistik-Professoren, darunter auch Top-Wissenschaftler David Weaver. Unser Hotel ist direkt auf dem Campus. Wir werden mit offenen Armen aufgenommen. Es wird die intensivste Völkerverständigung der gesamten vier Wochen. Bloomington prägt. Als wir weggehen, haben wir das Gefühl, neue Freunde zu haben.
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Regine Münder, ARD aktuell
“Zerstört ist Pensacola! Und der Hurrikan nimmt seinen Weg. Hierher nach Mahagonny!”
(aus: Bertolt Brecht, Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny)
Gibt es irgendwo eine schönere Küste? Beim Anflug ziehen wir eine Schleife über dem Golf von Mexiko mit seinen zahllosen Buchten im Nordwesten von Florida. Schmale Landzungen schieben sich ins blaue Wasser, darauf endlose Strände mit feinstem weißen Sand. Mein Host hat es gut mit mir gemeint und mich direkt in Pensacola Beach untergebracht. Die Fahrt mit dem Leihwagen führt durch die Stadt und dann — traumhaft! — über eine lange Brücke auf die Insel Gulf Breeze, von dort über eine weitere Brücke zu der vorgelagerten kilometerlangen Sandbank, auf der mein Hotel steht. Der Blick aus meinem Fenster geht über Pool und Palmen direkt aufs Meer. Klarer Fall: Ich habe das große Los gezogen, ich bin im Urlaubsparadies gelandet. Der zweite Glückstreffer ist der Host selbst, Peter Neumann, Redaktionsleiter bei WEAR-TV, dem regionalen Ableger von ABC. Mit seiner liebenswerten Frau Phyllis führt er mich gleich am ersten Abend zum Essen aus: In einem Sportclub gibt es fantastische Chicken Wings, während rundherum auf einem Dutzend Fernsehschirmen die Spiele der Football-Liga laufen.
Später wird Peter mir erzählen, dass mein schönes Hotel seiner Meinung nach dort gar nicht stehen dürfte. Denn die Hurrikane, die den Golf von Mexiko in zunehmender Zahl heimsuchen, rasieren die schmalen, dem Festland vorgelagerten Landstreifen einfach ab. Und wer zahlt den Schaden? Die Versicherungen und damit alle Leute, die Versicherungen gegen Hurrikan-Schäden haben. So wie er. Und anschließend steigen die Prämien weiter an und werden unbezahlbar. Schon jetzt könnten sich viele Leute eine solche Rückendeckung gar nicht leisten. Und deshalb sollte an Orten wie Pensacola Beach eigentlich Bauverbot herrschen. Dass die Naturgewalten hier stärker sind als des Menschen Wille, weiss man schon seit einer Weile. 1559 hat Conquistador Don Tristan de Luna Pensacola gegründet, es soll die erste europäische Siedlung auf amerikanischem Boden gewesen sein. Nur zwei Jahre später kam ein Hurrikan des Wegs und fegte alles hinweg.
Wenn ich am Pool liege — ja, dazu kam es! — , dann dröhnen dumpfe Schläge. Das sind die Abrissbirnen, die die Hotels links und rechts platt machen. Hurrikan Ivan, der im September 2004 über Pensacola herfiel, hat auch diese Bauten so stark beschädigt, dass sich die Reparatur nicht mehr lohnt. Mehr als ein Jahr ist seit der Katastophe vergangen, doch die Spuren sind noch nicht überall beseitigt. Als hätte ein Riese mit einem Prügel wahllos auf die Häuser eingedroschen, klafft hier das Dach, dort hängen Latten herunter. In den ärmeren Vierteln liegen Schutthaufen in den Gärten. 11.000 Tote, so Brechts Vision in seiner „Mahagonny“-Oper, habe der Hurrikan in Pensacola gefordert. Diese Prophezeihung ist zum Glück nicht eingetreten, aber die WEAR-TV-DVD von damals zeigt apokalyptische Bilder. Nach Ivan erschien Anfang dieses Jahres noch sein kleiner Bruder Dennis. Der war zwar nicht so schlimm, brachte aber alles zum Einsturz, was schon angeknackst war. Pech für den, der schon mit Renovierungsarbeiten angefangen hatte.
Das Schlimmste, so lerne ich, ist ja nicht der Wirbelsturm selber. Davor kannst du dich in Sicherheit bringen und ein kaputtes Dach kannst du anschließend reparieren — vorausgesetzt, der Rest vom Haus steht noch. Das Schlimmste sind die Überschwemmungen, die folgen. Tropische Regengüsse, in denen der Hurrikan das warme Wasser wieder von sich gibt, das er zuvor im Golf aufgesaugt hat, und Fluten, die vom Meer ins Land hineingedrückt werden. „Isn’t it sad?” sagt Phyllis, als wir an einem toten Wald entlangfahren. Abgestorbene Pinienhaine, deren Wurzeln von Salzwasser zerstört wurden. Jahrzehnte wird es dauern, bis sich die Natur hier regeneriert hat. Ein Haus, in das das Wasser eingedrungen ist, kannst du eigentlich nur noch abreißen. Denn hier sind die meisten Häuser aus Holz, und wenn sich die Wände vollgesaugt haben, dann verfault alles und den Modergeruch kriegst du sowieso nie wieder raus.
Bis Ende November dauert die Hurrikan-Saison und so lange sind Wirbelstürme das Hauptthema in Florida und auch beim Fernseh-Sender in Pensacola. Während ich zu Besuch bin, braut sich Wilma über dem offenen Meer zusammen, der „stärkste Sturm aller Zeiten” seit Beginn der Messungen. ABC schaltet in seiner Morning Show „Good Morning, America” für den Weather Forcast regional auseinander. Wilma steht aber nicht nur in Florida im Zentrum des Interesses, das ganze Land starrt in diesen Tagen auf das herannahende Unheil. Es wird sich zunächst über Jamaica austoben, dann nach Yucatan in Mexiko ziehen, um schließlich doch noch auf Florida Kurs zu nehmen, auf den Süden des Sonnenstaates. Obwohl die bedrohte Region mehr als zehn Stunden Autofahrt entfernt liegt, schickt Peter ein Team von WEAR-TV mit dem Ü-Wagen los. Den beiden kommt eine Schlange von Autofahrern entgegen, die sich von den Keys in Sicherheit bringen. Gouvernor Jeb Bush hat zur Evakuierung aufgerufen und schon mal den Notstand ausgerufen.
Bei WEAR-TV werden auch Star-Moderatoren als Reporter losgeschickt. Am Vormittag war die bekannte Sue Straughn noch Anchorwoman, nun führt sie ein Interview mit einem Sänger des Navy-Chors, Sgt. Antonio Giuliano, der bei Reagans Begräbis im Sonnenuntergang „Amazing Grace” gesungen hat. Der Tenor gibt am Wochenende zwei Konzerte in der Stadt. Als Location für den Beitrag hat sich Sue ein schickes Seniorenstift ausgesucht, in dessen Eingangshalle ein schwarzer Flügel steht. Antonio singt eine neapolitanische Canzonetta, Stiftsbewohner lauschen auf bequemen Sofas und Sue erzählt mir, dass sie hier Gottseidank ihre alten Eltern für ein Jahr unterbringen konnte. Sie waren durch Ivan obdachlos geworden und konnten erst vor einer Woche ihr eigenes Heim wieder beziehen. Sue hat die Bauarbeiten organisiert und beaufsichtigt, weshalb die Schäden an ihrer eigenen Wohnung noch immer nicht behoben sind.
Greg ist auch Moderator. Jetzt aber steht er vor dem „Civic Inn“, einem bescheidenen Motel an einer Ausfallstraße, und macht seinen Aufsager. Die Flüchtlinge aus New Orleans, die hier untergebracht sind, sagt er in die Kamera, haben keine Ahnung, wie es weiter gehen soll. Opfer des Hurrikans Katrina wohnen hier, meist zu viert in kleinen Appartements, die nur für zwei gedacht sind. Da ist die schmächtige Frau mit dem französischen Namen, sie teilt sich das Zimmer mit ihrer Tochter und dem Schwiegersohn. In ihrem Gebiss klaffen Lücken, schon vor der Flutkatastrophe gehörte sie wohl nicht zu den Leuten, die sich Zahnersatz leisten konnten. Demnächst müssen sie das Motel räumen, dabei würde sie gerne in Pensacola bleiben. Doch hier gibt es keinen Platz für Flüchtlinge, hier herrscht Wohnungsnot. Alle Behelfsunterkünfte sind okkupiert von Ivan-Geschädigten. Auf die Frage, wohin sie denn nun gehen will, wendet sich unsere Interviewpartnerin ab und schluchzt.
Wenn ein Hurrikan kommt, bricht das Sendeschema von WEAR-TV zusammen, dann wird durchgesendet. Die großen Fensterscheiben des Senders sind gegen Windböen gesichert. Peter Neumann zeigt mir ein dickes Papier-Konglomerat, sein „Hurricane Coverage Plan Producer Guidebook“. Darin steht, wer im Notfall welche Aufgaben hat. Die Moderatoren dürfen sich glücklich schätzen, wenn sie zwischendurch noch mal aufs Klo können. Das Motto der Berichterstattung: So ruhig wie möglich, so sachlich wie möglich, keine Panik. Zu Hause haben Peter und Phyllis wasserdichte Behälter für alle Wertsachen, die man, wenn es ernst wird, schnell ins Auto packen kann. Weil die Wasserversorgung bei einem Hurrikan meist zusammenbricht, empfiehlt es sich, vorher Wasser zu horten, zum Beispiel in der Waschmaschine. Auch Strom gibt es dann nicht mehr, denn auf die Leitungen stürzen Bäume, doch Elektrizität kann man leider nicht bunkern. Unerträglich muss es sein, nach dem Inferno in der feuchten Hitze ohne Klimaanlagen zu sitzen. Im Konferenzraum schimpft die schöne Sarah mit den Männern: Die hamstern wegen Wilma verbotenerweise schon wieder Benzin. Die Kollegen grinsen.
Wilma hatte andere Pläne. Der Hurrikan ist an Pensacola vorbeigezogen, ich sah ihn nur im Fernsehen. Aber ich habe Menschen kennengelernt, die mich um den Hamburger Nieselregen und nasse Füße am Fischmarkt beneiden. Muss ich dran denken, wenn ich mich das nächste Mal über unser Wetter beschwere!
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Bernd Redlingshöfer, Mitteldeutscher Rundfunk
„Bitte mal aussteigen und die Tür zuknallen, der Hebel für die Gang-Automatik klemmt!“ Gesagt, getan! Unser Chevi-Uplander fährt wieder, und der peinlich lange Stopp an der Tankstelle ist vorbei. In den USA ist vieles anders als erwartet.
Nach über sieben Stunden Flug hinterlasse ich meine Fingerabdrücke auf einem Scanner, blicke ehrfürchtig in eine Kamera, und beantworte geduldig die Fragen des Immigration-Officers. Es erinnert ein bisschen an das beklemmende Gefühl bei der Einreise aus dem Westen in die ehemalige DDR. Allerdings nur, bis mich der Officer mit einem breiten Grinsen und einem „Auf Widderseehhhnn“ hineinlässt in sein Land, Amerika.
Washington D.C.
Wir sind in Washington. In „Dissie“, der Hauptstadt ohne Wolkenkratzer. Unser unermüdlicher Betreuer Jon ermahnt uns, bei den offiziellen Meetings doch in jedem Fall mit Anzug und Krawatte zu erscheinen. Unter dem dunklen Stoff ist es aber viel zu heiß. Keiner versteht, warum er uns geraten hat, doch einen warmen Mantel in den Koffer zu packen. Gut, dass es Klimaanlagen gibt! Am Anfang haben wir sie gehasst, aber da wussten wir auch noch nicht, was „humidity“ bedeuten kann. Bei den Meetings erfahren wir vom Aussterben bedrohte Deutsche, dass die U.S.-Bevölkerung wächst, dank Hispanics und Asiaten. Wir staunen, dass hierzulande heftig diskutierte „embedded journalists“ selbst keine Probleme sehen, die nötige Distanz zu wahren, ja es sogar wieder tun würden. Ein Vorurteil scheint sich zu bestätigen. Ein ähnliches Bild bei Dan Coats, dem ehemaligen Botschafter in Deutschland: Er wirkt noch immer sehr verbittert über die deutsche Haltung zum Irak-Krieg. Überraschend gesteht er jedoch ein, dass die Amerikaner vom deutschen Umgang mit der Umwelt lernen könnten. Am Ende der Woche, mittlerweile gießt es wie aus Eimern, traue ich auf der Washington Mall kaum meinen Augen: Eben stand auf der Bühne des Musikfestivals noch eine Rock-Band, jetzt heizt ein wild gestikulierender Prediger den Massen ein. Undenkbar in Deutschland! Das also ist es, was auch die Zahlen der think tanks belegen: Für viele Amerikaner ist Religion mittlerweile viel wichtiger als für uns Deutsche und eben keine Privatsache.
University of North Carolina, Chapel Hill
Auf dem Flug nach Chapel Hill in North Carolina wird einmal mehr deutlich, wie viele Amerikaner deutsche Wurzeln haben, oder zumindest schon einmal in Deutschland gewesen sind. Der Großvater der Stewardess kommt aus Deutschland. „Woher genau?“ Hat sie vergessen. North Carolina, das bedeutet: Südstaaten! Und vor allem Südstaaten-Slang. Als ich am Flughafen den Mietwagen abhole, bin ich fast am verzweifeln. Ich verstehe auch beim dritten Mal nachfragen nur Bahnhof und unterschreibe schließlich entnervt einen Vertrag mit viel Kleingedrucktem. UNC, die University of North Carolina, in der verschlafenen Kleinstadt Chapel Hill ist zum Studieren ideal. Obwohl keine teure Privat-Uni wie die Duke University gleich nebenan in Durham ist gerade die School of Journalism hier mit fast allem ausgestattet, was das Herz unseres offiziellen Betreuers „Dr. T.“ begehrt: Digitale Schnittplätze, Fernsehstudio und Technik ohne Ende. „Carolina Week“ — die halbstündige Fernseh-Live-Sendung, die zweimal in der Woche ausgestrahlt wird, ist sein Baby — etwas anderes scheint „Dr. T.“ kaum wahrzunehmen. Einige der blutjungen und überaus motivierten Studentinnen und Studenten werden bestimmt demnächst bei CNN über den Bildschirm flimmern. Über den Bildschirm im Hotel flimmern gerade schockierende Bilder: In New Orleans haben mehrere Polizisten einen betrunkenen Farbigen festgenommen und brutal zusammengeschlagen, bis er blutüberströmt am Boden liegt. „Good Morning, America!“ Ob unsere Studenten das auch mitbekommen? Wahrscheinlich erst am Abend, in der John Stewart Show, der U.S.-Version von Harald Schmidt. Überhaupt scheint der inhaltliche Input an der Uni etwas kurz zu kommen: Die Ereignisse der vergangenen Tage werden in einem Quiz abgefragt, im Fach „Journalistisches Schreiben“ wird Grammatik geübt. Aber Pisa-Verlierer sollten da nicht die Nase rümpfen.
„I didn’t vote for Bush“ — dafür steht das schwarze Band am Handgelenk von Phillip, eines Studenten aus dem German House. Er war schon mal in Deutschland, will auch wieder hin, spricht sehr gut deutsch und ist ein kritischer Kopf. Der Bundeswehr-Parka mit der Deutschland-Fahne an der Schulter passt irgendwie nicht dazu. Unsere Gastgeber hier sind sehr besorgt, dass wir auch satt werden („We will get you fat“). Immer und immer wieder werden wir zum Essen eingeladen. Die Auswahl der Restaurants in Chapel Hill ist allerdings begrenzt. Kulinarischer Höhepunkt ist das Essen mit dem Dekan. Sein Job ist es, Spenden einzutreiben. Er erzählt von einem Unternehmer, der bei einem Abendessen mal eben einen 12.000 Dollar-Scheck unterschrieben hat, um Praktika für Studenten zu finanzieren. Die Spendenbereitschaft der reichen Amerikaner ist offenbar enorm. „Die meisten sagen: Ich bin ja nicht gefragt worden“, sagt der Dean. Es gibt Leute mit sehr viel Geld in diesem Land, die aber freiwillig etwas davon abgeben. Undenkbar in Deutschland?
Denver/Colorado
Schon bei der Ankunft in Denver/Colorado bin ich begeistert: Strahlender Sonnenschein und schneebedeckte Berge. Die Rockies. Ich bin so fasziniert, dass ich glatt die interstate-Abfahrt verpasse. Denver ist aber nicht nur landschaftlich ein echter Glücksgriff. Meine hosts Jann und Ed samt Tochter Ashley sind reizend und kümmern sich rührend um mich, so dass ich mich wie ein Teil der Familie fühlen kann. Und sie sind das absolute Gegenteil dessen, was ich mir unter typischen Amerikanern vorgestellt habe. Sie sind sportlich durchtrainiert, essen „organic food“ und sind überhaupt nicht oberflächlich, so dass wir viele gute Gespräche führen über Deutschland und die USA, die deutsche Vergangenheit, George W. und amerikanischen Journalismus. Mein host Ed führt mich ein in die Geheimnisse von High-Definition-TV, Roboter-Kameras und Halloween. Am Ende erfahre ich auch, dass die Corvette in der Garage über 400 PS hat und sich gegen einen Ferrari behaupten kann. Aber auch ich zeige Größe und beweise, dass ich aus Schumi-Land komme und den Elchtest bestehe. Ich musste allerdings ganz schön in die Bremsen treten, als im Rocky Mountain National Park plötzlich so ein Vieh vor der Motorhaube meines Chryslers stand.
Bei „WB2“ — einem „lokalen“ Fernsehsender — räume ich mit dem Vorurteil auf, dass Deutsche immer pünktlich sind. Da ich mich hoffnungslos verfahren habe, komme ich über eine Stunde zu spät. Ich lerne, dass man mit der Mikrowelle nicht nur Essen kochen, sondern auch Fernsehsignale übertragen kann, kostengünstig! Und so fahre ich mit dem Reporter Greg und dem Kameramann James von einer Live-Reportage zur nächsten, wo schon die Mikrowellen-Meute der konkurrierenden Sender wartet. Es ist 5 Uhr morgens und schweinekalt. Danke Jon, für den Tipp mit dem Mantel!
New York City
Wieder Schuhe ausziehen, Gürtel aus der Hose, Handy, Geldbeutel, Mantel — alles in die grauen Plastikboxen. Die Sicherheitsprozeduren an den Flughäfen gehen mir mittlerweile gehörig auf den Geist. Aber ich sehe ja ein, dass es nötig ist. Der Besuch am „Ground Zero“ lässt ein wenig von dem erahnen, was in dieser Stadt am 11. September 2001 los gewesen sein muss. Ich lerne aber auch mehr und mehr, dass es wirkliche Sicherheit nicht geben kann. Die Lücken sind zu groß: Theater, Museen, die U-Bahn — sie alle sind so verwundbar, zumal in einer Megastadt wie New York mit so vielen Menschen. Und es gibt nicht nur New York. Dieses Land ist riesig! Von wegen „war on terror“ — ich hatte an jeder Ecke Polizei oder „Sicherheitskräfte“ vermutet. In North Carolina und Denver aber hab ich keine Polizisten gesehen. Gut, in New York stehen sie nach der jüngsten Terror-Drohung wieder in den U-Bahnhöfen. Aber sie sollen wohl eher ein Gefühl der Sicherheit vermitteln, denn wirklich kontrollieren können sie diese Menschenmassen nicht.
In dieser Stadt fühle ich mich wie unter Strom, sie treibt mich an, immer weiter zu gehen, ich könnte ja etwas verpassen. Und so komme ich auch nach Gospel-Gottesdienst und den offiziellen Terminen bei der UN, dem American Jewish Commitee oder in Brooklyn noch lange nicht zur Ruhe. Ich erlebe eine zauberhafte Brooke Shields in „Chicago“, sehe eine aufwendige „Aida“-Inszenierung an der Metropolitan Opera, versacke in dankenswerterweise nicht verrauchten Jazz-Clubs und eile durch das Guggenheim-Museum und das MoMa. Von wegen Amerika hat keine Kultur!
„Die Fahrkarten, bitte!“ Solche Wörter holen einen auf den harten deutschen Boden zurück. Während der zweieinhalb Stunden Bahnfahrt von Frankfurt nach Erfurt habe ich Zeit, noch ein wenig zu träumen. Von den Freunden, die ich gewonnen habe. Von dem Land, das so groß und verschieden ist, das so große Gegensätze hat und so viele Widersprüche. Der Koffer, den ich vermisse, steht zwar nicht in New York, sondern wohl nur irgendwo auf dem Flughafen London-Heathrow. Aber eines weiß ich schon jetzt: Amerika, ich komme wieder!
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Björn Staschen, Norddeutscher Rundfunk
Fünf Amerikaner
Daniel Coats. Er war bis vor kurzem so etwas wie der „Erste Amerikaner“ in Deutschland: von 2001 bis 2005 U.S.-Botschafter in Berlin, zuvor 11 Jahre lang Senator für Indiana auf dem Capitol Hill. Daniel Coats also sollte die Antworten auf Fragen kennen, die in vielen deutschen Medien diskutiert werden: Stehen die USA für die Werte, mit denen sie ihre Politik legitimieren — für Freiheit, Menschenrechte, Menschlichkeit — nach Abu Ghraib und Guantanamo? Sind die USA als „Superpower“ (Coats) Vorbild und Leitlinie für das Handeln anderer — nachdem beispielsweise das Kyoto-Protokoll nicht einmal den Weg in den Kongress schaffte, geschweige denn ratifiziert wurde?
Daniel Coats schluckt zunächst, dann sagt er lange nichts. Vor dem Fenster drückt der Spätsommer die Washington Luft zusammen. Coats müsste eigentlich schwitzen, so lange sagt er nichts. Schließlich: „Nun, unsere Werte.“ Pause. „Da sind zunächst einmal demokratische Werte. Und dann sind da wirtschaftliche Werte.“ Und so stochert er noch einige Zeit im Nebel herum, bis er endlich zu dem kommt, was das First Amendment als Errungenschaften formuliert: Religionsfreiheit, Rede- und Meinungsfreiheit — Visionen eines Landes, das Zuflucht und sicherer Hafen für viele war und ihnen soziale Hoffnung und wirtschaftliche Chancen gab.
Aus der Sicht vieler Deutscher ist Daniel Coats ein typischer „Amerikaner“, ein Mensch, der für andere steht und das Bild vieler Deutscher von den USA und ihren Bürgern prägt. Warum gerade Coats? Er ist ein „political animal“, das seit Jahrzehnten im Washingtoner Umfeld arbeitet. Ein Mensch, den Journalisten gern befragen. Denn zumindest hatte er einmal Gewicht. Und: Er ist in Washington immer schnell verfügbar. Coats lebt nicht etwa drei Flugstunden weiter westlich. Nicht in der „Music City“ Nashville beispielsweise, oder in der Mormonen-Stadt Provo in Utah. Dort leben Menschen, die ihr eigenes Bild von den USA zeichnen, Menschen, die für ein buntes, kaum fassbar großes und detailreiches Bild der USA stehen.
Andrew Finlayson. Der Nachrichten-Chef des NBC-Regionalprogramms WSMV in Nashville schaut über die Schulter in den dichten Verkehr zurück. Um halb zwölf Uhr am Vormittag sind die Straßen voll. Nashville vibriert, eine wachsende Stadt, in der sich viele Konzerne aufgrund der unternehmerfreundlichen Steuerpolitik neu ansiedeln. Finlayson fädelt seinen Dienstwagen auf die Interstate-Autobahn ein, die ihn in das Stadtzentrum von Nashville bringt. „Ich bin stolz auf mein Land“, sagt er. „Aber es gibt auch vieles, was mir nicht gefällt.“ Er streift Guantanamo und Abu Ghraib, kritisiert dann genereller die manchmal beschränkte Sicht mancher U.S.-Politiker auf die Welt „da draußen“.
Ein ehrgeiziger News Director in den USA wird für seine Karriere alle drei, vier Jahre den Arbeitgeber wechseln. Ruhm durch Mobilität. Finlayson ist erst vor fünf Monaten aus San Francisco nach Nashville gekommen. Größer könnte der Kontrast kaum sein: dort die liberale, kosmopolit-europäische Metropole an der Westküste, hier das Klischée-Provinzstädtchen, in dem mittlerweile mehr als 500-tausend Einwohner leben, im wuchernden Speckgürtel eine weitere halben Million. Während San Francisco bei der letzten Wahl demokratisch stimmte, unterstützte Nashville mit großer Mehrheit George Bush.
„In Nashville spielt die Kirche eine sehr große Rolle,“ sagt Finlayson. Die Southern Baptist Church ist überall. Sie betreibt eines der größten Krankenhäuser der Stadt, jeden dritten oder fünften Block entlang der Ausfallstraße ziert ein großer Kirchenbau. Gleichzeitig eröffnete Hustler hier vor kurzem einen der größten Sexshops der USA. Bis zwei Uhr nachts stöbern dort vor allem junge Pärchen durch das Angebot aus Liebesschaukeln, Pornofilmen und Dildos. 10 Prozent Preisnachlass gibt es für Kirchenmitglieder mit Ausweis. „Wir wissen, dass viele unserer Kunden regelmäßig in die Kirche gehen. Wir wollen zeigen, dass wir ihren Glauben respektieren,“ sagt der Hustler-Manager Bob Hampton.
Finlayson musste seine Art, Nachrichten zu machen, nach dem Wechsel von San Francisco nach Nashville umstellen. „Hier ticken die Menschen anders. Sie interessieren sich für ganz andere Themen — und für einen anderen Zugang zu Themen.“ Beispielsweise für den Krieg im Irak. Aus Nashville und Umgebung kommen viele Soldaten. Eine der größten Kasernen, Fort Campell, liegt eine Autostunde entfernt vor den Toren der Stadt.
Allen Palmer. Sechs Kinder hat er mit seiner Frau aufgezogen. Sie ist mittlerweile Vizepräsidentin der staatlichen Hochschule nahebei, Palmer selbst leitet die internationalen Medienstudien an der Brigham Young Universität in Provo, Utah. Rund 30.000 Studenten sind dort eingeschrieben. Alle haben sich der Lebensart der Mormonen verschrieben: Kein Sex vor der Ehe, kein Alkohol, keine Zigaretten, kein Koffein. Wer in Provo nach einem Starbucks Kaffee-Fastfood Ausschau hält, sucht lang und oft vergeblich (aber es gibt einen!).
Allen Palmer präsentiert gern seine Kirche. Besucher fährt er nach Salt Lake City, eine Autostunde nördlich von Provo. In Salt Lake City hat die „Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage“, wie sie offiziell heißt, ihren Hauptsitz. Im großen Tempel im Zentrum der Stadt heiraten viele junge Paare. Das Durchschnittsalter liegt in Utah bei 23 Jahren für den Bräutigam, 21 Jahren für die Braut, vier Jahre unter dem U.S.-Schnitt.
Die Kirche beherrscht das Stadtbild von Salt Lake City. Das große Verwaltungsgebäude in einem alten Hotel erlaubt den Blick hinab auf das weltliche Regierungsgebäude des Staates Utah. Die Mormonen unterhalten in Salt Lake City ein großes Zentrum für Ahnenforschung, aber auch eine Einrichtung für humanitäre Hilfe in aller Welt. Diese rühmt sich ihrer niedrigen Verwaltungskosten: Mit rund 2 Prozent des Gesamtetats liegen sie weit unter den knapp zweistelligen Werten anderer Hilfsorganisationen. Die Erklärung ist schnell gefunden: „Wenn wir hier Hilfspakete packen, dann geht eine Telefonkette durch die Gemeinde. Und binnen 2, 3 Stunden sind hier mehr Helfer als benötigt werden,“ sagt Allen Palmer. Auch er füllt schon einmal nach Feierabend Konservendosen. Disziplin und Verpflichtung.
Mit Allen Palmer kann man längere Zeit lang darüber diskutieren, ob der Titel der MTV-Autosendung „Pimp my ride“ auch für die Umgangssprache taugt. Man kann mit ihm aber auch darüber sprechen, welcher Kraftakt für ihn die Finanzierung der Studienzeit seiner sechs Kinder war, zumal er der Mormonenkirche wie alle anderen Gemeindemitglieder neben dem regelmäßigen Zehnten (zehn Prozent des Gehalts) noch weitere, erhebliche Spenden zukommen lässt. Allen Palmer ist viel gereist. Er arbeitete unter anderem für ein Jahr in Namibia. In Provo fühlt er sich wohl. Hier ist er als Mormone eine Alltagserscheinung, und keine Besonderheit.
David Niederman. Ein wenig ungeduldig empfängt Niederman seinen Besuch. Es ist Freitagmittag. Bis Sonnenuntergang muss die Führung durch seinen Teil von Brooklyn, New York, beendet sein. Der Shabbat naht. Niederman ist ein chassidischer Jude, ein Rabbi in seiner Gemeinde, und er ist Präsident der Vereinigten Jüdischen Organisationen von Williamsburg. Unter seinem schwarzen Anzug klingelt und vibriert es. Ein Telefon nach dem anderen zieht Rabbi Niederman hervor. Der Mann ist mehr als geschäftig. „Ja, ich gebe das Interview, am liebsten live“, sagt er einem lokalen Radiosender. „Schau doch mal, ob du Michael überzeugen kannst, mit Peter zu reden.“ Diplomatische Arbeit für eine der am schnellsten wachsenden Gemeinschaften New Yorks.
60.000 chassidische Juden leben derzeit in Williamsburg. Binnen acht Jahren verdoppelt sich diese Zahl, schätzt Niederman. Sein wichtigstes Thema daher: Wohnungen. Aus dem Auto zeigt auf den Hof eines Autohändlers. „Das wird alles verschwinden, dann bauen wir hier Wohnungen.“ In zehn, zwanzig Jahren? „Nein, in zwei oder drei Jahren,“ lacht Niederman. Hinter ihm hupt ein Wagen. Niederman blickt von seinem mobilen Email-Empfänger auf und tritt aufs Gas.
Das Straßenbild prägen Männer mit Peijes, dem gelockten Haar an der Schläfe, unter schwarzen Hüten. Einige schieben Kinderwagen, deutlich weniger Frauen sind auf der Straße. „Wir leben hier nach unseren religiösen Gesetzen,“ erzählt Niederman. „Wir schicken unsere Kinder auf unsere eigenen Schulen,“ — und danach nicht etwa auf Universitäten. Niederman holt die Lehre in seinen Stadtteil. Computerkurse für chassidische Juden finden im Bürogebäude seiner Organisation statt — „im Idealfall können wir hier im Stadtteil bleiben und nach unseren Gesetzen leben.“ Mitten in New York. Religionsfreiheit.
Megan Carr. Die 25jährige Studentin fährt mit 40 Meilen pro Stunde an der Vanderbilt Universität vorbei. Hier studiert sie im ersten Semester Medizin. Zuvor hat sie bereits einen Abschluss in Neuropsychologie in Boston gemacht. Megan Carr sprudelt. Über die liberale, oft ätzende Satire-Zeitschrift „The Onion“, die sie gern und viel liest. Über ihren Freund, der derzeit in Texas arbeitet. „Ich mag diese Fliegerei nicht, aber wie soll ich ihn sonst sehen?“ Liebe in einem zu großen Land.
Die Innenausstattung ihres japanischen Wagens ähnelt einem Raumschiff. „Ein Hybrid-Auto“, erklärt sie. „Der war nicht viel teurer als andere Wagen, aber er spart Benzin.“ Vier oder fünf Liter verbraucht sie im Stadtverkehr von Nashville. „Ist billig und schont die Umwelt.“ Kein Werbespot, sondern O-Ton Megan Carr.
Megan schwärmt bei der Autofahrt von ihrer Zeit als ehrenamtliche Helferin bei „Americorps“. Damals habe sie eine Gruppe von Südafrikanern getroffen, die sich über die Organisation ehrenamtlicher Arbeit in den USA informieren wollten. Jetzt plant sie, eine größere Uni-Projektarbeit in Südafrika zu schreiben — über AIDS-Waisen und ihre Zukunft. „Mich interessiert vor allem das öffentliche Gesundheitssystem, in Südafrika ebenso wie in den USA. Wie kann man jedem die Behandlung geben, die er braucht, und das auch noch bezahlen? Da muss es doch einen Weg geben!“ findet Megan Carr. Sie stammt aus New York, hat eine öffentliche Schule besucht, und auch die Vanderbilt-Universität ist keine der Top-Unis im Land, die sich nur wohlhabende Familien leisten können — abgesehen von wenigen Stipendien.
Der Motor ihres Hybrid-Wagens ist kaum zu hören, mit konstanter Geschwindigkeit schnurrt sie über eine Autobahnbrücke. Und beginnt, Modelle zu entwickeln. Für die Reform des Gesundheitssystems. Und der Gesellschaft überhaupt. Eine von fünf Amerikaner(inne)n — von vielen Amerikaner(inne)n.
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Cordelia Strauß, ZDF „heute“-Redaktion
Ist es Ihnen schon mal passiert, dass Ihnen jemand nur wegen Ihrer Herkunft ein Lächeln geschenkt hat?
In Amerika ist das so. In Bloomington zum Beispiel, einem kleinen Universitätsstädtchen im Bundessstaat Indiana. Noch bevor uns der Kellner am ersten Abend begrüßt hatte, strahlte er von einem Ohr zum anderen. „Ihr seid aus Deutschland, oder?“ Er war vielleicht 24 und erzählte, er sei zwei Jahre bei Stuttgart stationiert gewesen. Dann gab er etwas gequält, aber durchaus amüsiert, seine fünf deutschen Wörter zum Besten und bediente uns den restlichen Abend über wie in einem First-Class Restaurant.
Oder in Washington D.C. Mr. Blair streckte jedem von uns mit einem herzlichen Lachen seine Hand entgegen. Auf deutsch fragte er jeden einzeln, aus welcher Region sie oder er komme und konnte dann jeder Region eine Sehenswürdigkeit zuordnen. Mr. Blair war der Fremdenführer durch das Kapitol und bevor er seine Tour begann, sagte er, er sei mehrere Jahre in Deutschland stationiert gewesen. Wir, damit meinte er die Deutschen, die ihm dort begegnet seien, hätten ihm soviel gegeben. Das möchte er uns nun zurückgeben. Und dann begann die ausführlichste, spannendste und lebendigste Tour durch das Gebäude, wie sie wahrscheinlich noch kein Besucher vor uns gemacht hat.
Oder in Lansing in Michigan. Fernseh-Reporterin Anja fuhr in ein Krankenhaus um ein Interview mit einem Arzt zu machen. Eine Krankenschwester zeigte uns das Zimmer, wo das Gespräch stattfinden sollte, und als Anja mich als Besucherin aus Deutschland vorstellte, fiel mir die Frau um den Hals und sagte in plattestem Hessisch: „Ey des hadde mer abber lang nit, dass jemand von daheim herkommt.“ Sie hieß Marianne und hatte vor mehr als 35 Jahren den Mann ihrer Träume in Offenbach kennen gelernt und ist mit ihm in seine Heimat gegangen.
Oder in Detroit. Das Flugzeug sollte mehr als vier Stunden Verspätung haben. Genug Zeit, den ein oder anderen Plausch mit den Mitreisenden zu halten. „Ach, Du bist aus Deutschland. Das ist ja interessant.“ Und dann musste ich dem jungen Maler aus New York alles erzählen. Von den Weinbergen und von der Wahl, die gerade im Gange war.
Diese Neugier ist erfrischend. Sie begegnet einem ständig. Und sie animiert zum Erzählen, aber auch zum Nachdenken. Wenn die Frage kommt: Wie siehst Du Amerika? Dann steht auch gleichzeitig die Frage an: Wie ist Deutschland? Genau dieses Bild verändert sich in der Ferne. Es verschwimmt und mit all den neuen Eindrücken und Fragen des Gegenüber entsteht ein neues.
Wie oft habe ich in diesen vier Wochen den Satz gehört: Das macht Ihr Deutschen besser.
Zum Beispiel in der Unterhaltung mit einer Professorin an der Universität in Bloomington. Sie erzählte, in Amerika muss eine Frau maximal sechs Wochen nach der Geburt ihres Kindes wieder am Arbeitsplatz sein. Elternzeit, was ist das?
Zum Beispiel in dem Gespräch mit einem Kamera-Mann von WLNS in Lansing, der erzählte, dass er Europa mit öffentlichen Verkehrsmitteln bereiste. In Amerika sei das gar nicht möglich, weil viele Regionen nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar seien.
Zum Beispiel in der Unterhaltung mit einer jungen Frau aus New York, die zusehen musste, wie ihre Schwiegermutter immer kranker wurde, sie aber nicht die notwendige Behandlung bekommen konnte, weil sie keine Krankenversicherung hatte.
Und ich stellte mal wieder fest, es ist alles gar nicht so schlecht bei uns in Germany. Wo nicht nur namhafte Literaten und Musiker herkamen und wo tolle Autos produziert werden. Sondern wo man in der fünften Klasse bereits etwas über andere Länder erfährt, wo jeder zum Arzt gehen kann, wenn er das muss, wo zahlreiche historische Bauten von der Geschichte vergangener Zeiten erzählen und wo Umweltschutz und damit der Erhalt von Mutter Natur eine Rolle spielt.
Und was habe ich von den Amerikanern gelernt?
Selten habe ich so viele engagierte Menschen getroffen. Sie machen ihre Sache mit Leidenschaft und auch mit einer Portion Stolz.
Die Eisverkäuferin in einem Vorort von Washington, die mit Begeisterung die Bestandteile ihrer Köstlichkeit erklärt.
Der Bürgermeister von Brooklyn, der so liebevoll von seinem Stadtteil erzählt, dass man direkt hinziehen möchte.
Der Pastor einer Baptisten-Kirche in der Bronx, der jedes Gemeinde-Mitglied mit Namen zu kennen scheint.
Die Tour-Leiterin eines Touristenbusses durch Chicago, die sich sogar vor dem Sears Tower auf den Asphalt legt, um das schönste aller Erinnerungsfotos zu knipsen.
Ich habe viel erfahren. Über Amerika, über Amerikaner, über Deutschland und über Journalisten. Und ich bin dankbar. Dafür, dass ich an diesem Programm teilnehmen durfte. Und dafür, dass sich jemand dieses Programm irgendwann einmal ausgedacht hat.
Eine Reise steht und fällt auch mit der Gruppe, mit der man unterwegs ist. Meine Gruppe war großartig. Neun Frauen und drei Männer aus allen Regionen des Landes mit den verschiedensten Lebensläufen und unterschiedlichsten Erfahrungen mit Amerika. Ohne Euch hätte es nicht halb soviel Spaß gemacht.
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Ulrike Timm, Freie Journalistin
Leon ist 8 und Präsident. Die Rede von Kennedy stockt ein wenig, aber die Hand liegt perfekt auf dem Herzen. Und die Fahne ist auch gut im Bild. Leon fängt noch mal an, diesmal ist er schon vertrauter mit den schwierigen Politikerworten und riskiert sogar einen kleinen Anflug Präsidentenemphase. Klick. Das Bild, dann ist Papa dran. Papa ist Reagan.
Beobachtet im National Museum of History in Washington mit einer Mischung aus Staunen, Rührung, Skepsis, Bewunderung (ja, ehrlich gesagt, auch das!), all das wird mich, in wechselnder Gewichtung, 4 Wochen lang nicht mehr verlassen. Wie europäisch ich bin. Oder doch, wie deutsch? Wenn die Dänen demonstrieren wollen gegen zu viel Dreck in Kopenhagen, dann stecken sie schon mal in jeden Hundehaufen einen Dannebrok, und die Fahne steht auch dort in jedem Vorgarten…Stars and Stripes begegnen uns überall, auch in der Carnegie Hall oder in der St. Patricks Cathedral in New York.
Ich bin eines der wenigen USA Greenhorns der Gruppe, sehe also z.B. das Weiße Haus zum ersten Mal jenseits des Bildschirms und bin platt. Das ist es? Eine schöne, klassizistische, nicht übermäßig große Villa mit gepflegtem Garten, vergleichbar dem Gästehaus des Hamburger Senats. Nur dass die Rasenfläche dort viel weitläufiger ist. Mein Eindruck, der amerikanische Präsident residiere an einem Golfplatz, war dem Blickwinkel der Kameras geschuldet. Was ich sehe, ist nobel, aber kein bisschen protzig. Einen der symbolträchtigsten Orte der USA schützen ein gut mannshoher Gartenzaun und 4 Sicherheitsbeamte, einer auf dem Dach, 3 an den Eingängen — nicht mal an jeder Pforte einer. „Hi Ma’m!“. Es ist 7 Uhr morgens, ich jogge rund ums Weiße Haus und sehe den Eichhörnchen zu, wie sie sich um den Zaun nicht scheren, sie flitzen da durch. Dass ich einen Riesenärger bekommen würde, wenn ich mal kurz drüberkletterte, ist klar, dass da möglicherweise noch viel im Unsichtbaren wacht, auch — und doch: was für ein Symbol, keine Prachtentfaltung, kein Protz, sondern gediegenes Selbstbewusstsein. Man muss kein Anhänger der Bush-Administration sein, um zu verstehen, dass den Amerikanern manches an Deutschland wohl ziemlich halbstark vorkommt, wenn sie z.B. das deutsche Bundeskanzleramt sehen.
Wenig später das Gegenteil, die Ängstlichkeit, das große Sicherheitsbedürfnis. Wir haben das Spy-Museum besucht, das Spiel mitgespielt, für 2 Stunden eine andere Identität angenommen, undercover ermittelt — und wir kommen nicht wieder raus. Zwei Polizisten versperren den Weg. „Gute Idee zum Schluss“, denke ich fröhlich, „aber jetzt langt es“, und will mich vorbeischlängeln. Keine Chance. Denn die Story ist echt. Das Museum mit allen Zugangsstraßen abgesperrt, Feuerwehr, Notarzt, Polizei. Irgendwo stand ein herrenloser Koffer, erfahre ich später. Hatte jemand kurz stehen lassen.
Viel dazugelernt haben wir in diesen Tagen über Selbstverständnis, Sorgen und Sorglosigkeit in den USA, kommen mit konservativen und demokratischen Think Tanks in Kontakt, und erfahren z.B., dass auch für den progressivsten Demokraten der sonntägliche Kirchgang meist dazugehört. Dass Religion im privaten wie öffentlichen Leben der USA eine große Rolle spielt, wusste ich, wie groß diese Rolle wirklich ist, das erfahre ich hier. Durch die neueste Untersuchung des Pew Forums, durch Gespräche mit Studenten im „Süden“, an der Uni von Chapel Hill in North Carolina, einen Gottesdienst in Harlem und nicht zuletzt durch fassungsloses Studieren der Titelseiten: Harriet Miers ist das große Thema, und alle zählen auf, wann, wo und wie lange sie in die Kirche ging. Kaum zurück in Deutschland, führe ich ein Interview, dass auch die religiöse Prägung der USA berührt, und kann mit ganz anderem Hintergrund an dieses Thema herangehen. Ich werde es nie wirklich verstehen. Aber ich weiß es jetzt besser. Und kann damit anders umgehen und mir manches besser erklären. Danke.
Danke. You’re welcome. Das mag nicht viel bedeuten, ich lerne diese Floskel aber lieben, die Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft, auch die Selbstdisziplin, alles erst mal lächelnd anzugehen. Wie angenehm, wie schätzenswert. Mit den meisten Menschen, die einem täglich begegnen, hat man Sekunden oder wenige Minuten Kontakt. Da ist mir ein amerikanisch oberflächlich freundlicher Verkäufer doch lieber als ein deutsch tiefsinnig vergrätzter. You’re welcome. Ich werde es vermissen, kaum dass ich wieder in Berlin im Taxi sitze. Wie viel Klischee ist eben doch kein Klischee…
You’re welcome, der „Ton“ ist überall präsent, auch in meiner Radiowoche bei KUOW in Seattle. Für mich eine Wohltat nach zwei Wochen Medienbetrachtung, die sehr vom Fernsehen geprägt ist — to shoot, to shoot pictures — aber wenn man pures „Draufhalten“ nun mal nicht ausreichend findet? CNN, sorry, finde ich ziemlich furchtbar, dabei sind sie wirklich noch die besten. „You are a radiowoman?“ fragt Steve, mein host, beinahe sofort. Yes, I am. Gleich am ersten Abend bin ich zum Essen bei ihm zu Hause eingeladen, mit Frau, 2 Söhnen, Hund, Katze, Aquarium und einem prächtigen Lachs im Ofen. Wie großzügig, wir haben uns schließlich noch nie zuvor gesehen.
Bei KUOW erlebe ich Radio vom Feinsten, engagiert, seriös, ausführlich und fröhlich (!) Und dann plötzlich noch eine völlig neue Erfahrung: Steve moderiert und wirbt mit der größten Selbstverständlichkeit zugleich noch Geld für seinen Sender ein — it’s fundraising week. Die USA kennen keine GEZ, die Kollegen hätten sie aber gern. NPR muss seinen Etat fast komplett selbst einspielen. Alles ist Wettkampf — das „Ziel“, der vorgegebene Geldbetrag, der während einer Sendung eingeworben werden soll, steht allen buchstäblich vor Augen: auf einer großen Tafel, darunter der Ist-Zustand und der Betrag, der noch fehlt, alle paar Minuten wird aktualisiert, als das Ziel erreicht ist, wird kurz gefeiert. Mitten in der Sendung.
Wie fröhlich und zugleich konzentriert hier gearbeitet wird, wie flach die Hierarchien sind und wie höflich der Ton, das ist eindrucksvoll. Muss wohl auch so sein — gearbeitet wird auf so engem Raum, dass ein Totalstänkerer den Laden sprengen würde.
Seattle wird mein Lieblingsort. Amerikanische Skyline, asiatisches Essen, skandinavisches Flair an der kanadischen Grenze in traumhafter Landschaft zwischen Bay, See, Vulkan und Bergen — just to stroll around. Ein holländisch-irischer Amerikaner klärt mich im Café von Elliot’s Bookstore über das derzeit beste Bier und das beste Buch auf. Die Amerikaner mögen nicht für allzu kulturbeflissen gelten, aber die schönsten Buchläden, die ich je gesehen habe, so richtig zum Stöbern, riesig und trotzdem intim, die finde ich in Seattle und New York.
„Verwechselt uns nicht mit unserer Regierung!“ das hören wir immer wieder in diesen Wochen. Bush hat schlechte Karten bei fast allen, die ich treffe. Was auch daran gelegen haben könnte, dass ich mit meiner Station Seattle in der progressiven Öko-Großstadt der USA gelandet bin und auch die Woche im Süden, in North Carolina, sich an einer Uni abspielt. Wer in Texas oder in the middle of nowhere „mittendrin“ landet, macht da sicher andere Erfahrungen. Dass die Regierung den Irak-Krieg entfachte, aber das Krisenmanagement nach dem Wirbelsturm Katrina im eigenen Land nicht in den Griff bekommt, sorgt überall für Bitternis und Proteste.
Was bleibt? Ich möchte wiederkommen, hoffe auch, dass ich einige der vielen Visitenkarten noch brauchen werde. Und ich nehme mir vor, dass „Just do it“ sich in meinem täglichen Leben doch bitte ein bisschen stärker einnisten soll als bisher. Klar, es gibt auch Dinge, die sind mir fremd, dass man laut redend mit unsichtbarem Handy und kürbissirupgetränktem Kaffee wichtigwichtig durch die Straßen rennt, nein, das muss ich wirklich nicht haben. Ist aber auch eine Erfahrung. Genauso wie die Berge von Müll, die schon ein kleiner Imbiss produziert und die man schlicht nicht vermeiden kann, weil alles vielfach verpackt ist.
Vor allem aber bleibt der Wunsch, sich für dieses großzügige, spannende und perfekt organisierte Programm wenigstens ein klein wenig zu bedanken, indem man etwa einem Amerikaner in Deutschland mal ein bisschen weiterhelfen kann. Aber kriegt nicht jeder U.S.-Mensch einen Schock, wenn er erfährt, dass meine Wohnung fernsehfrei ist, mein Handy wenn irgend möglich stumm und mein Joghurt über keinerlei besondere Vitaminzusätze verfügt? Da macht doch Mut, was Henry Hockeimer, der wunderbare alte Herr mit der Whiskeystimme, von einem jungen amerikanischen Kollegen erzählte, der in Deutschland war. Was denn das Beste gewesen sei, fragte er ihn, Regierungsviertel, Stippvisite beim EU-Parlament? Am tollsten sei es gewesen, zusammen mit seinem deutschen Gastgeber eine Fahrradtour durch Berlin zu machen, immer an der Spree entlang, berichtete der Kollege.
Na bitte. Geht doch. You’re welcome.
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Eva-Maria Weinzierl, Mitteldeutscher Rundfunk
Harriet Miers — mit „ie” oder mit „y“? Am Rande unseres ersten offiziellen Termins in Washington, D.C. fällt der Name der Präsidentenberaterin. Am Abend und nächsten Morgen ist Harriet Miers mit „ie” groß in allen Medien. Die langjährige Weggefährtin und juristische Beraterin von Bush soll Nachfolgerin von Supreme-Court-Richterin O’Connor werden — eine umstrittene Entscheidung, wie sich in den nächsten Wochen noch zeigen wird.
Unsere erste Woche in den USA wird begleitet von solchen hard news. Präsident Bush hält eine Grundsatzrede zum Krieg gegen Terror. In New York warnen Bürgermeister Bloomberg und Polizeichef Kelly vor neuen Terroranschlägen. Und wir treffen Insider, mit denen wir all das und noch viel mehr diskutieren können.
Weit weg von Politik und Terrorangst sind wir in Utah, unserer zweiten Station. Zu viert fliegen wir nach Salt Lake City. Neben einer atemberaubenden Landschaft, die wir am Ende der Woche auf einer Tour durch die Nationalparks erkunden werden, erwartet uns ein Einblick in Leben und Glauben der Mormonen. 70 Prozent der Einwohner Utahs sind Mormonen. In Salt Lake City ist der Hauptsitz der „Church of Jesus Christ of Latter-day Saints“, der Mormonenkirche. Die Brigham Young University (BYU) in Provo, 80 Kilometer südlich von Salt Lake City, wo wir zu Gast sind, wurde von Mormonen gegründet.
Am Flughafen empfängt uns Allen, unser Betreuer, selbstverständlich auch Mormone. Wir haben viele Fragen an ihn. Praktizieren Mormonen noch immer Polygamie? Dürfen Mormonen wirklich nicht rauchen, Alkohol oder Kaffee trinken? Wie ist es mit dem Keuschheitsgebot? Und gibt es Kleidervorschriften?
An der BYU tragen die Studenten ganz normal Jeans und T-Shirts. Doch der Genuss von Alkohol, Nikotin, Kaffee, Tee und Drogen jeglicher Art ist verboten. Und auch Sex vor der Ehe. Wer sich an diesen „Honor Code“ nicht hält, fliegt von der Uni — egal ob Mormone oder Nicht-Mormone. Ausschweifende Unipartys gibt es hier also nicht. Dafür aber studienbegleitenden Religionsunterricht, eine hervorragende Ausstattung (besonders an der Journalistenschule), einen renommierten Ruf und das alles bei vergleichsweise niedrigen Studiengebühren.
Die Mormonen glauben an die Bibel. Doch neben dem Alten und dem Neuen Testament haben sie auch noch das „Book of Mormon“, ein Buch, das Jesus Christus dem Kirchengründer Joseph Smith, einem Amerikaner aus New York, diktiert haben soll. 1820 war das. Die vergleichsweise junge Glaubensgemeinschaft zählt heute weltweit ca. 12 Millionen Mitglieder. An der Spitze der Kirche Jesu Christi stehen der Präsident (auch Prophet genannt) und 12 Apostel. Einer dieser Apostel, Elder Dieter F. Uchtdorft, ein Deutscher und früherer Lufthansa-Pilot, lädt uns zum Essen ein. Er versucht, uns Glaube und Leben der Mormonen näher zu bringen und uns die Unterschiede zu anderen christlichen Kirchen zu erklären. Dabei gibt er sich offen und liberal — mit fundamentalistischen Abspaltungen der Mormonen, deren Anhänger zum Teil noch immer Vielweiberei betreiben, will die Hauptkirche nichts zu tun haben.
Was es wirklich heißt, Mormone zu sein, erfahren wir dann von Helen, einer jungen Österreicherin, die wir zufällig auf dem Campus in Provo kennenlernen. Sie bietet an, ein Treffen mit anderen deutschsprachigen Studenten zu organisieren. Die erste Schwierigkeit: wie verabredet man sich mit Mormonen? Auf ein Bier, einen Kaffee oder Tee — das alles geht nicht. Letztendlich landen wir bei einem All-you-can-eat-Italiener. Bei Fast Food, Rootbeer (ein alkohol- und koffeinfreies süßes Erfrischungsgetränk) und Softeis erzählen uns die jungen Leute von ihrem Leben. Viele ihrer Kommilitonen sind bereits verheiratet. Die anderen verabreden sich zum Essen, Bowlen oder in der Bibliothek. Küssen, sagen uns die jungen Leute, ist beim so genannten „dating“ erlaubt, viel mehr aber nicht. Diese geforderte Enthaltsamkeit sei aber kein Problem, denn schließlich glauben sie als Mormonen daran, einmal den idealen Partner zu finden, mit dem sie bis über den Tod hinaus zusammenbleiben werden. Doch in der Praxis hält auch die Mormonenehe selten ewig: die Scheidungsrate soll in Utah bei fast 30 Prozent liegen.
Nach einer Woche geht es für mich zurück an die Ostküste, nach Boston. Hier herrscht wieder Religionsvielfalt. Gewaltige Kirchen aus dem 18. Jahrhundert bestimmen das Stadtbild. Und die Liste der Gottesdienste, die im Hotelzimmer ausliegt, reicht über zwei Seiten. Die „Church of Jesus Christ“ ist nicht aufgeführt. Doch von meinem host, Chris Ballman, erfahre ich, dass es auch in Massachusetts Mormonen gibt. Und einer von ihnen, Mitt Romney, Gouverneur des Bundesstaats, wird sogar als möglicher nächster Präsidentschaftskandidat der Republikaner gehandelt.
In Boston trinke ich nach zweieinhalb Wochen USA zum ersten Mal wieder Kaffee aus einer richtigen Tasse und nicht aus einem Pappbecher. Und die Lasagne, die Chris und seine Frau für mich zubereiten, ist home-made und nicht fast food aus dem Supermarkt. Scheinbar ganz unamerikanisch sind auch die Themen in der Redaktion, wo ich zu Gast bin. Chris und die Kollegen von „Living on Earth“ produzieren ein wöchentliches Magazin für das National Public Radio. Umweltschutz und Ressourcenknappheit sind hier nicht erst seit Hurrikan Katrina Thema. Ein interessantes Programm, das übers Internet (www.loe.org) auch in Deutschland zu hören ist.
Die letzte Woche in New York beginnt für uns mit nassen Füssen. Unsere Schirme können selbst den Ausläufern des Wirbelsturms Wilma kaum Stand halten. Heftig Gegenwind erfährt in diesen Tagen auch Präsident Bush. Die Zahl der im Irak getöteten Amerikaner ist auf 2000 gestiegen. Engen Mitarbeitern von Bush werden Falschaussagen vorgeworfen. Und der Mehrheitsführer im Abgeordnetenhaus muss sein Amt niederlegen, da er wegen Geldwäsche und Verschwörung angeklagt ist.
Kurz vor einem unserer letzten offiziellen Termine kommt dann die Eilmeldung in CNN und das angekündigte Interview mit dem Schauspieler George Clooney muss warten: Harriet Miers, die Präsidentenberaterin, zieht ihre Kandidatur für den Supreme Court zurück. Zu laut war die Kritik an ihr, wegen mangelnder Erfahrung und ihrer möglicherweise zu liberalen Haltung in der Abtreibungfrage. Eine Episode in der amerikanischen Politik ist damit beendet, so schnell wie unser vierwöchiger Aufenthalt in den USA. Und ob sich Harriet Miers mit „ie” oder mit „y” schreibt, ist nicht mehr wichtig.
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Ulrich Ziegler, Deutschland Radio Kultur
Besuch in Utah, dem Land der Mormonen
Sonntag, 9. Oktober Flughafen Salt Lake City.
Etwas schüchtern steht ein älterer Herr mit selbst gemaltem RIAS-Schild am Flughafen. Eher zufällig entdecken wir ihn am Ausgang. Dr. Allen Palmer leitet das Fachgebiet Internationale Medien an der Brigham Young University in Provo, eine Autostunde südlich von Utahs Hauptstadt Salt Lake City entfernt. Während sich Björn und Eva-Maria in den Mietwagen setzen, steigen Marion und ich in den Dienstwagen von Allen ein. Wir schauen aus dem Fenster, bewundern die 3500 Meter hohen Berge, wechseln ein paar freundliche Worte und platzen fast vor Neugier: Was ist anders im Land der Mormonen? Welchen Stellenwert hat die Religion? Was ist das Besondere der „Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage?“ Wie sieht es aus mit der Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau? — Fragen über Fragen.
Allen, der selbst der Glaubensgemeinschaft angehört, gibt uns eine kurze Einführung: Der Mormonismus ist auf seinen Gründer Joseph Smith zurückzuführen. Smith hatte zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine Vision. Gott Vater und Jesus Christus seien ihm erschienen und hätte ihm mitgeteilt, dass alle derzeit bestehenden Kirchen im Irrtum seien und er sich keiner anschließen dürfe. Wenige Jahre danach hatte er weitere Erscheinungen. Diesmal von einem Engel namens Moroni, der ihm letztendlich den Auftrag gegeben haben soll, das Buch Mormon von goldenen Platten — die seit Jahrhunderten in einem nahen Hügel lagerten — zu übersetzen. Das Buch handelt von den Ureinwohnern Amerikas, die von Jerusalem aus in die Neue Welt kamen und dort eine gemischte Religionsform aus Altem und Neuem Testament lebten. Die Familie spielt für die Mormonen eine zentrale Rolle. Sexualität vor der Ehe kommt für sie nicht in Frage, Genussmittel wie Alkohol, Zigaretten oder Koffein sind tabu, erzählt Allen. Salt Lake City, die Hauptstadt Utahs, ist das Zentrum der Glaubensgemeinschaft. Über 70 Prozent der 2,2 Millionen Menschen, die im U.S.-Bundesstaat Utah leben, gehören dieser Religionsgemeinschaft an.
Wir blicken etwas ungläubig aus dem Fenster. Allen, der viele Jahre mit seiner Familie als Dozent im Ausland gelebt hat, kennt diese Blicke. Er bleibt freundlich, wechselt das Thema und kommt auf praktischere Dinge zu sprechen. In seiner Heimatstadt Provo leben rund 300.000 Einwohner, 90 Prozent sind Mormonen. Ihr Stolz ist die Brigham-Young-University, bei der wir für eine Woche zu Gast sein werden. Dort studieren über 30.000 junge Frauen und Männer aus über 67 Nationen, darunter viele Chinesen und Europäer, aber auch Studenten aus arabischen Ländern, unter anderem 250 Frauen und Männer aus Jordanien. „Gebt uns zehn Minuten und wir finden jemanden, der Eure Sprache spricht. Gebt uns eine Stunde und wir finden jemanden, der Euren Dialekt spricht“, erzählt Allen und lächelt.
Da fast alle männlichen Mormonen in jungen Jahren als Missionare für ein bis zwei Jahre ins Ausland gehen, sei der Erwerb fremder Sprachen eine Selbstverständlichkeit, erzählt der Vater von sechs erwachsenen Kindern. Langsam nähern wir uns auf dem Highway unserem Ziel, dem Marriott-Hotel in Provo. Vielleicht ist es Zufall, vielleicht aber auch nicht: Auch das Marriott-Hotel wird von Mormonen geleitet. 1927 legten die frommen Mormonen Willard und Alice Marriott mit einem Limonade-Stand in Washington, D.C. den Grundstein für das Imperium, das heute ein Beherbergungs- und Dienstleistungsunternehmen mit 20 Milliarden Dollar Umsatz und 140.000 Beschäftigten ist.
Der nächste Tag beginnt relativ früh. Allen wartet bereits kurz vor acht Uhr vor dem Hotel. Die Fahrt geht zur Brigham-Young-Universität. Auf dem Campus ist alles ordentlich und gepflegt. Der Lack der Autos glänzt in der morgendlichen Sonne, die Blumenrabatten sind akkurat angelegt, der Rasen perfekt geschnitten, das ganze Gelände sieht aus wie aus dem Ei gepellt. Nach einer kurzen Tour über den Campus erwartet uns Erlend Peterson, der Vize-Präsident der Universität. Erlend, ein Mann um die 60, erzählt viel über sich, seine norwegischen Vorfahren und immer wieder ’I am so glad that you are here’. Der Campus selbst gleicht einer kleinen Stadt. Mehrere Fast-Food-Restaurants, ein Supermarkt, eine eigener Buchladen, Bekleidungsgeschäfte. Wer nicht will, braucht das Gelände nicht zu verlassen.
Studenten sitzen mit ihren Laptops in den Sitzecken, überall wird gearbeitet. Das gesamte Universitätsgelände ist eine Wireless-Area. Nahezu alle Skripte, die in den Vorlesungen verteilt werden, können dank der neuen Technologie auf die Laptops heruntergeladen werden. Tests im Multiple-Choice-Verfahren werden vom Laptop aus wireless in die Zentrale abgeschickt. 15 Sekunden später liegt das Prüfungsergebnis vor.
Studenten, die später als Journalisten bei den elektronischen Medien arbeiten wollen, machen täglich ihre eigene Fernsehshow. Die Technik ist auf dem neuesten Stand, der Newsroom komplett neu ausgestattet. Manche Fernsehstationen in Deutschland würden sich glücklich schätzen, wenn sie unter diesen Arbeitsbedingungen produzieren könnten. Auf praktische Erfahrungen wird viel Wert gelegt. Die von Studenten herausgegebene Tageszeitung wird überall verteilt, das Erbeben in Pakistan ist die Titelgeschichte. Jeder, der die Abläufe einer Fernsehshow kennen lernen will, lernt dies hier im Team.
“Bereits nach wenigen Monaten haben die Studenten sich gegenseitig alle Tricks und Techniken beigebracht“, erzählt Dale Cressmann (eine der beiden Lehrkräfte), die im Newsroom präsent ist, für Fragen zur Verfügung steht, jedoch selten eingreifen muss. Die Gruppe arbeitet eng zusammen, jeder gibt sein Bestes. Die täglich ausgestrahlte Nachrichtenshow soll professionell und ohne Fehler über die Bühne gehen — und sie tut es. Live Spots, Zuspiele, Werbeminuten, alles läuft nach Plan. Wenn die Studenten nach vierjähriger Journalistenausbildung die Universität verlassen, haben sie das journalistische Handwerkszeug perfekt gelernt.
Helene, Journalistikstudentin aus Wien, wird demnächst hier ihren Abschluss machen. Danach will sie wieder zurück nach Europa. „Findet man leicht einen Job? Was habt Ihr für Erfahrungen gemacht? Wie müssen die Bewerbungen aussehen?“ — die 24-jährige stellt Fragen über Fragen. Wir verabreden uns zu einem gemeinsamen Essen kurz vor unserer Weiterreise. Ob es uns etwas ausmacht, wenn noch weitere deutschsprachige Studenten vorbeischauen, fragt sie. Wir sind von der Idee begeistert. Drei Tage später findet das Treffen tatsächlich in einer Pizzeria in Provo statt. Wir reden stundenlang über Journalismus, Politik und Religion, über Treue, vorehelichen Sex und den Sinn des Lebens. Wenn sie hier den Mann fürs Leben finden würde, wäre es eine feine Sache, sagt Helene — nette Jungs gäbe es hier genügend. Ein Mormone müsse es schon sein.
Wenige Tage zuvor fuhr Allen mit uns nach Salt Lake City, dem geistigen Zentrum der Mormonen. Schick gekleidet holte er uns vom Hotel ab, zeigte uns den Tempelplatz, die nahe gelegene Familiengeschichtsbibliothek, die sozialen Einrichtungen der Kirche und erzählte uns voller Stolz, dass wir eine Einladung zu einem Mittagessen bei Elder Dieter F. Uchtdorf hätten. Uchtdorf, bis 1996 Chefpilot und stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Lufthansa, wurde im vergangenen Oktober in das höchste Gremium der Mormonen, den Rat der zwölf Apostel der „Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage“, berufen. Allen ist ganz aufgeregt. Mit solch hohen Würdenträgern war er noch nie zusammen.
Beim gemeinsamen zweistündigen Mittagessen verlassen wir schnell die Ebene des Small-Talks. Elder Uchtdorf, der charismatische 65-jährige, interessiert sich für die neuesten politischen Entwicklungen in seinem Heimatland. Dann will er von uns wissen, was wir von der neuesten Debatte über „Intelligent Design“ halten, die in den USA breit geführt wird. Die These, dass die Welt und die Kreisläufe des Lebens zu komplex seien, als dass sie sich ohne steuernde Hand entwickelt haben, hält er für richtig. Die darwinschen Evolutionsmechanismen — Selektion und Mutation — würden nicht ausreichen, das Leben zu erklären; nur ein Schöpfer, ein intelligenter Designer, könne dies geleistet haben. „There must be something more“, sagt er immer wieder. Missionieren will er uns keineswegs, aber sich mit dieser Frage zu beschäftigen, lohne sich schon, sagt er.
Wir erinnern uns an die Gespräche in Washington, vor allem an das Referat von Louis Lugo vom Pew Forum on Religion in Public Life. Laut einer im vergangenen Jahr veröffentlichten Studie des Pew Research Centers sind für 72 Prozent der Amerikaner starke religiöse Überzeugungen auch eine Grundvoraussetzung für die Amtsführung eines Präsidenten. Die katholische amerikanische Bischofskonferenz hatte mitten im U.S.-Präsidentschaftswahlkampf erneut auf die Beziehung zwischen Glaube und politischer Verantwortung hingewiesen. Politische Führer sollten vor allem wegen ihrer Prinzipien und nicht nach Parteizugehörigkeit oder Eigeninteressen gewählt werden. Ungewohnte Töne für deutsche Ohren, denn nur für etwas über 20 Prozent der Deutschen spielt Religion eine wichtige Rolle im Leben.
Kurz vor unserer Abreise aus Utah überreicht uns Allen die neuste Ausgabe der Zeitschrift Newsweek. Die Titelgeschichte der Ausgabe vom 17. Oktober: „The making of the Mormons — The future of a booming faith“. Keine Frage — Amerika ist ein religiös geprägtes Land.
Vier sehr spannende und lehrreiche USA-Wochen mit dem RIAS-Programm sind vorüber, das Interesse an dem Leben jenseits des „großen Teiches“ ist geschärft, viele alte Schablonen haben keine Gültigkeit mehr. Das Programm — ein voller Erfolg!