3-wöchige USA-Journalistenprogramme 2007
Frühjahr und Herbst
RIAS USA-Frühjahrsprogramm
10. März – 7. April 2007
Zwölf deutsche Journalisten in den USA: Programm in Washington und New York; Besuch von Journalistenschulen (University of Texas at Austin, Austin, TX; University of Colorado at Boulder, Boulder, CO; Arizona State University, Tempe, AZ; University of Southern California, Los Angeles, CA); individuelles Rundfunkpraktikum.
TEILNEHMERBERICHTE
Eckart Aretz, Norddeutscher Rundfunk
Marianne Koch verkauft eine Gardine und fährt mit mir nach Spartanburg
Internet-Benutzer sind manchmal durchaus berechenbare Wesen. Sie mögen alles, was mit den USA zu tun hat — und sie mögen fast immer Berichte, in denen der derzeitige Präsident schlecht wegkommt. Das macht die Sache für den Redakteur verführerisch einfach — er muss nur auf den Reflex spekulieren, entsprechende Meldungen prominent platzieren, schon stimmt die Quote. Viele Nachrichtenseiten funktionieren nach diesem Muster. Wenn man das nicht will, wenn man dem Reflex widerstehen will, muss man mehr wissen, muss unterscheiden können. Was also fällt durch den Rost? Warum ist das Land uns so scheinbar vertraut und doch zunehmend fremd? Da hilft das RIAS-Stipendium. Vier Wochen USA, Gespräche mit Journalisten, Wissenschaftlern, Politikern aller Couleur sollen Aufschluss geben.
Irgendwo müssen sie noch sein, die Anhänger von George W. Bush. Irgendwann werden wir auf sie treffen müssen, die ihn gewählt haben, weil er ein wiedergeborener Christ ist, weil er für Steuersenkungen eintrat, weil er so schöne kurze Sätze sprach und es schaffte, trotz seiner Herkunft wie Joe Average zu wirken. Doch Fehlanzeige — eine Woche in Washington vergeht, ohne einen entschiedenen Verteidiger des Präsidenten der USA zu treffen. Wir hören von der Lage der Medien in den USA, den Problemen der Minderheiten, werden in den Zustand der deutsch-amerikanischen Beziehungen eingeweiht, beschäftigen uns mit der Religiösität der Amerikaner und der Bevölkerungsentwicklung, doch nirgends ein gutes Wort über den derzeitigen Präsidenten des Landes.
Nicht einmal die Vertreter der konservativen Heritage-Foundation, mangelnder Sympathie für die Partei des Präsidenten unverdächtig, schwingen sich zu einem Lob für den Texaner auf. Bush sei kein Konservativer, hören wir, er benutze nur konservative Themen. Ronald Reagan ist ihre Lichtgestalt, nach einem geeigneten Nachlassverwalter wird noch gesucht.
So präsentiert sich die U.S.-Hauptstadt in einer Art Zwischenzustand, etwas Altes geht zu Ende, das Neue ist noch nicht ausgemacht, während die Begebenheiten weiter rollen, wie alles in den USA in hohem Tempo. Immer geht es schnell voran, auch im Alltag, ob auf der Straße, ob bei der Museumsführung oder im Restaurant. Trödelei unerwünscht, es muss rasch weitergehen, je eher, desto besser. Teller leer, Rechnung da, Party-Ende garantiert um 9pm, bloß nicht stehen bleiben. Handeln, voranschreiten, und mir kommt der „Witz“ eines früheren Chefredakteurs mit Faible für die USA in den Sinn: Hauptsache nach vorne, egal wohin.
Allerdings: Es komme keiner auf die Idee, Kritik am Irak-Krieg, Kritik am Oberbefehlshaber als schwindenden Patriotismus zu deuten. Ein paar Tage in Austin schaffen da Klarheit. Es ist Rodeo-Zeit, fünf Tage lang mühen sich professionelle Reiter um Haltung auf allerlei Arten von Tieren. Bevor es losgeht, wird die Halle ins Halbdunkel getaucht, der Sprecher spricht ein langes Gebet, in dem dem Herrn für vieles gedankt wird. Sodann, ebenfalls schummrig: die Nationalhymne. Eine Sängerin mit überschaubarem Talent, aber umso mehr Pathos vibriert das Lied förmlich hinaus. Und als die letzte Strophe von „The Star Spangled Banner“ ertönt, gibt eine Reiterin ihrem Pferd die Sporen und sprengt im Scheinwerferlicht mit einer wehenden Flagge aus der Mehrzweckhalle.
Die Stipendiaten verfolgen das staunenden Auges und stellen fest, dass sie die einzigen im Saal sind, die sich darüber wundern und auch keine Hand aufs Herz gelegt haben. Gebet, Nationalstolz, so selbstverständlich wie die Cowboystiefel und der Stetson an diesem Abend. Nur gut, dass die Stipendiaten sich vorher im Ort mit dem passenden Schuhwerk ausgestattet haben — da fühlt man sich gleich als Teil des Ganzen. Man kann das für ein Klischee halten, ein Abziehbild, hier aber ist es Normalität. Der Erlös des Abends kommt übrigens Schülern und Studenten zu Gute — Reiten für Bildung.
Vor der Halle lärmt eine Kirmes mit Tingeltangel. Einige Stände bieten Grillwürste an. Geschmackliche Parallelen zu hiesigen Fleischwaren wollen sich zwar nicht einstellen, dafür besticht der Name: Bratwurst. Wie man überhaupt allerorten auf deutsche Klänge trifft. New Braunsfeld, Gruene, Luckenbarg — allesamt Orte in Texas, in denen deutsche Siedler segensreich gewirkt haben. Hier und da feiert man auch ein „Wurstfest“. Hallo Heimat, guten Tag in Texas.
Spartanburg ist ein Ort wie geschaffen für einen deutschen Jungfilmer. Aus dem Hotelzimmer fällt der Blick auf eine große Kreuzung und lange Straßen, entlang derer Lebensmittelketten, Autohändler und Tankstellen ihre fabelhaften Produkte anpreisen. Dieser Ort schreit danach, von der Filmförderung NRW entdeckt zu werden, um Geschichten vom Aufbruch, vom Reisen, von der Weite und der Hoffnung und vom Scheitern zu erzählen. Der Blick aus dem Hotelfenster — irgendwie auch ein kulturelles Ereignis.
Vorerst schickt aber Spartanburg Erzeugnisse in alle Welt, die man mit Deutschland verbindet. BMW lässt seine Geländewagen hier fertigen, Ado seine strahlend weißen Gardinen. An der gräulichen Fabrik steht „Die mit der Goldkante“. Den Gast befällt darob jähe Rührung, fühlt er sich doch hier, am nördlichen Rand von South Carolina, an seine Jugend mit Werbeträgerin Marianne Koch erinnert. Und weil Deutschland so präsent in Spartanburg ist, stehen an der Interstate 85 selbstverständlich auch zwei Teile der Berliner Mauer.
Als wir uns mit Dianne für Erinnerungsfotos aufstellen, erkundigt sie sich nach dem Leben im geteilten Berlin. Dianne ist 29, und natürlich sind die Mauer und die DDR für sie noch weiter weg als für viele Gleichaltrige in Deutschland. Der Fall der Mauer, vermutet sie, muss für mich wahrscheinlich so bedeutend gewesen wie für sie die Anschläge von „9/11“.
Die Ereignisse außerhalb des Landes, ja häufig auch außerhalb ihres Sendegebietes sind für Dianne allenfalls privat von Interesse, denn sie ist Reporterin für Channel 7 News, einer Partnergesellschaft von CBS. Sechs mal täglich Lokalnachrichten aus dem nördlichen South Carolina, einer Region mit ca. einer Million Haushalten, als TV-Markt die Nr. 35 in den USA. „On your side“ ist der Slogan des Kanals, und das hat auch seinen Nutzen, denn sechsmal täglich ein Programm mit Lokalnachrichten zu füllen, ist kein Sonntagsspaziergang.
Also verfolgt die Redaktion mit langem Atem einen Skandal um vergiftete Tiernahrung, einen tragischen Verkehrsunfall, greift Nachbarstreitigkeiten auf und steht benachteiligten Zuschauern bei — „on your side“ eben. Die Einschaltquoten sind passabel, man ringt mit der Konkurrenz um die Spitzenposition im Markt und auf der Straße grüßen die Menschen leutselig und erzählen von weiteren Missständen wie freilaufenden Hunden, die der Sender mal aufgreifen müsste.
In der Redaktionskonferenz fragt sich der Gast aus Germany insgeheim, ob er sich nach der allmorgendlichen DPA-Meldung mit dem neuesten Roland-Koch-Interview sehnen soll, und beschließt, vorerst den Hut vor der Professionalität und Flexibilität der Kollegen von Channel 7 zu ziehen. Aber: Könnte man nicht doch einmal den Versuch wagen, seine Zuschauer auf etwas außerhalb der vertrauten Welt hinzuweisen? Dann geht es hinaus in ein Armenviertel des Ortes, ein Minderjähriger hat vor Tagen ein Kind totgefahren, nun will die Mutter des Jungen „erstmals zu den Medien sprechen“. Der Aufmacher für die Nachmittagssendung ist gefunden.
Am Abend taucht der Sonnenuntergang die Straßenkreuzung vor dem Hotelzimmer in dunstiges Licht. Der Verkehr rauscht, die Leuchtreklamen strahlen. Der Stipendiat aus Hamburg langt in die Papiertüte und greift sich eine Bierdose.
Jason wird diesen Vormittag nicht in bester Erinnerung behalten. Zwölf deutsche Journalisten kommen an die Hoboken High School in New Jersey, da wird er vielleicht reden müssen, Fragen beantworten, etwas erklären, was er nicht erklären will, nicht heute, nicht denen.
Jason hat sich als einziger aus seiner Klasse dazu entschlossen, im Sommer zur Armee zu gehen, und seine Mitschüler halten das für reichlich durchgeknallt. Jason lümmelt auf Stuhl und Bank herum, duckt sich, als gehöre er nicht dazu. Alles an ihm sagt „Sprich mich bloß nicht an.“
Rachel, die Lehrerin, lässt ihm das nicht durchgehen, fast schon demonstrativ fordert sie ihn auf, jetzt doch mal zu erklären, warum er sich hat anwerben lassen. Die Antwort fällt kurz aus. „Weil ich für mein Land kämpfen will“. Ob er keine Angst hat, getötet zu werden? „Nein.“ Und dann: „Ich glaube an das Schicksal.“ Fast trotzig reicht er seinen Soldatenausweis herum. Die Klasse verfolgt das mit demonstrativem Desinteresse.
Eine Stunde später wären die Reaktionen wohl heftiger ausgefallen. Eine andere Klasse, ein anderer Blickwinkel. Einige Jungen berichten von den Erfahrungen heimgekehrter Irak-Soldaten, von ihren Ängsten und Traumata, von der Furcht, auf die Straße zu gehen, die Alpträume in der Nacht. Raus aus dem Irak sollte die Armee, am besten gleich, was haben wir da verloren. Bei gutem Wetter kann man von der Schule aus die Skyline von Manhatten sehen. Im September 2001 haben einige Schüler hier die rauchenden Türme des World Trade Center gesehen, warum ihr Land damals angegriffen wurden, können sie nicht so recht erklären.
Die Armee wird hier einige Überzeugungsarbeit leisten müssen, wenn sie im Sommer an der Schule ein Rekrutierungsbüro eröffnet. Rachel macht das fassungslos, zu verhindern ist es aber nicht mehr, der Direktor will es so. Sie werden den Jugendlichen viel versprechen müssen, Geld, Bildung, denn sie brauchen mehr als nur einen Jason. Auf viel Erfolg, so scheint es, dürfen sie in Hoboken nicht hoffen.
Anhänger von George W. Bush haben wir übrigens auch außerhalb von Washington nicht getroffen. Nur einmal, in Spartanburg, flüsterte eine Redakteurin mir zu, sie persönlich lehne den Präsidenten ja ab, doch das dürfe sie hier nicht so laut sagen. Aber vielleicht ist das auch gar nicht so wichtig, denn Amerika lässt sich ebenso wenig auf seinen Präsident reduzieren wie Deutschland auf seine Kanzlerin.
Und dann sitzt du wieder im Taxi und wunderst dich, dass vier Wochen vorbei sind, dass Dutzende Treffen mit den unterschiedlichsten Menschen und Themen hinter dir liegen — und übrigens auch die Bekanntschaft mit elf großartigen Kollegen. Was ich erlebt und gelernt habe, lässt sich nicht in die eine, griffige Formulierung kleiden. Aber ich nehme einen ganzen Wust an neuen Blickwinkeln mit und ein wenig vom Geschmack des Alltags. Verstehe ich das Land besser? Ich meine schon. Ich kehre zurück mit unzähligen Fragen. Etwas Besseres kann dir kaum passieren.
———
Esther Broders, Deutsche Welle, Washington, D.C.
Mein erster Gang nach der Landung in Washington führt mich aufs Klo. Und dort taucht eine alte Frage auf, die ich mir in den USA schon mehrfach gestellt, auf die ich aber bislang noch keine Antwort gefunden habe: Warum beginnen die Kabinentüren in sämtlichen öffentlichen Toiletten in Amerika erst knapp unterhalb der durchschnittlichen Kniehöhe eines Erwachsenen? Und warum haben die einzelnen Türen zudem an beiden Seiten einen mindestens zentimeterbreiten Spalt? Ich weiß es wirklich nicht. Es mag ja vielleicht noch ganz interessant sein, von der Toilette aus sehen zu können, wer gerade den Raum betritt oder wer sich die Hände wäscht. Dabei aber gleichzeitig zu wissen — auch aus eigener Erfahrung — dass der Blick umgekehrt genauso ungehindert ist, das ist dann doch irgendwie irritierend.
Meine ersten zwei Stunden in Washington kosten mich dann fast 30 Dollar. Dafür bekomme ich in einem italienischen Restaurant Nudeln mit Tomatensauce und ein Bier. Essen im Restaurant ist teuer hier, auch wenn es auf der Karte alles gar nicht so schlimm aussieht. Aber, und daran muss man sich als Deutscher immer wieder erinnern, in dem gedruckten Preis sind noch keine Steuern und kein Trinkgeld enthalten. Und das macht den Braten dann schnell ziemlich fett. Man kann auch billig essen in Washington, aber das sollte man zumindest an einem Sonntagabend nicht allzu spät tun. Sonst steht man vor verschlossenen Türen. So wie wir, als wir um zehn nach neun an der nächstgelegenen McDonalds-Filiale ankommen. Unglaublich: selbst in Hürth bei Köln hat
McDonalds fast rund um die Uhr geöffnet, nur zwischen vier und sechs Uhr morgens ist kurz zu. Und ausgerechnet im Mutterland der Fastfood, dazu in der Hauptstadt, ist um 21 Uhr Schluss.
Ziemlich genau zwölf Stunden später beginnt dann unser Meeting-Marathon in Washington. Jeden Morgen treffen wir uns — alle in Business-Klamotten — mit Jon vor dem Hotel und ziehen los: Besuche bei Fernseh- und Radiosendern wie zum Beispiel CNN, NPR oder aber auch beim ARD-Büro, Gespräche mit den American Indians, African Americans und Latinos, Mittagessen in der Deutschen Botschaft. Außerdem sind wir bei zwei der bekanntesten Think Tanks zu Gast: bei der konservativen Heritage Foundation und beim deutlich liberaleren Brookings Institute. Dort lässt uns Bruce Katz während seiner temperamentvollen Power-Point-Präsentation über Bevölkerungswachstum und -trends in den USA unverblümt wissen, dass George W. Bush seiner Meinung nach als schlechtester Präsident aller Zeiten in die Geschichte eingehen wird.
Am Ende der Washington-Woche erwartet uns noch ein Highlight: wir ziehen in die heiligen Hallen von Condoleezza Rice ein und sind zu Gast beim täglichen Pressebriefing im State Department. Wir sind die ersten im Saal und nutzen vor den Augen der belustigten Security-Leute die Gelegenheit, uns alle gegenseitig am Rednerpult abzulichten. Im State Department sollte man sich im wahrsten Sinne des Wortes warm anziehen. Nicht, weil die Fragen der anwesenden Journalisten so bohrend oder kritisch wären, sondern schlicht und ergreifend, weil im Saal arktische Temperaturen herrschen. Ein eisiges Gebläse im Boden soll sicherstellen, dass der Pressesprecher auf den Fernsehbildern auch ja kein schweißglänzendes Gesicht hat. Diese Gefahr ist wirklich eindrucksvoll gebannt. Nach einer halben Stunde bin ich völlig verfroren — und freue mich auf unser Privat-Meeting mit Condis stellvertretendem Pressesprecher. Doch hier gibt es gleich zwei Enttäuschungen: erstens findet das Treffen im gleichen Raum statt. Es heißt also weiter frieren. Und zweitens hat Tom Casey ungefähr den selben Unterhaltungswert wie damals Joschka Fischer vor dem Visa-Untersuchungsausschuss. Es ist allerdings faszinierend zu beobachten, wie er es schafft, auf jede Frage eine minutenlange Antwort zu geben, ohne dabei irgendetwas zu sagen. Wahrscheinlich ist es gerade dieses Talent, das ihm in den Job geholfen hat. So gesehen haben wir vielleicht einen Meister bei der Arbeit beobachten dürfen.
Boulder, Colorado
Während man auf den Straßen von Washington fast unangenehm auffällt, wenn man nicht businesslike gekleidet ist, wäre man in Boulder mit Anzug und Bluse ein krasser Außenseiter. Hier dominieren Dread Locks, Flip Flops und Sportklamotten. Sowohl auf der Straße als auch in der Uni. Selbst eine der Professorinnen trifft man bei der Vorlesung in Birkenstocks an. Boulder gilt als sehr liberale — für manch konservativen Vertreter geradezu bedrohlich revolutionäre — Stadt. Es ist der unamerikanischste Ort, den ich in den USA je gesehen habe: statt McDonalds und Starbucks gibt es hier vor allem Outdoor-Läden und Bio-Supermärkte, und Umweltschutz wird ganz groß geschrieben. Wenig überraschend vor diesem Hintergrund: Beim Namen Bush verdreht ausnahmslos jeder die Augen. Die Zustimmung für die Politik der U.S.-Regierung dürfte in Boulder gefühlt bei knapp über 0 Prozent liegen.
Die Atmosphäre an der journalistischen Fakultät der Colorado University ist familiär, kein Vergleich zu den Zuständen an deutschen Massen-Unis. Die Professoren kennen ihre Studenten alle mit Namen. Kein Wunder allerdings, denn in den meisten Kursen sitzen weniger als 20 Teilnehmer. Eine Ausnahme ist die Einführungsveranstaltung für die Erstsemester. Hier stehe ich mit meinen Mitstreitern Frank und Max vor ungefähr 150 Freshmen, die uns Fragen stellen wie: „Wie wird man in Deutschland Journalist? Wie unterscheiden sich deutsche Nachrichtensendungen von amerikanischen? Welche Rolle spielen die USA in den deutschen Medien?“ Oder aber auch einfach: „Müssen eigentlich alle deutschen Journalisten so wie ihr eine Fremdsprache sprechen?“ oder, einer meiner Favoriten: „Sind amerikanische Filmstars auch in Deutschland bekannt und wird über sie berichtet?“ Die betreffende Studentin träumt übrigens — wie sich später herausstellt — von einer Karriere bei einer Zeitschrift wie der Vogue oder InTouch.
Während wir mit den Studenten diskutieren, steht Prof. Sandra Fish an der Seite des Hörsaals — in der Hand ein paar Seiten Papier. Nach dem Ende der Vorlesung kommt sie auf mich zu und fragt, ob ich denn in Boulder schon die Gelegenheit hatte, klettern zu gehen. Auf meinen erstaunten Blick zeigt sie mir eine Kopie meines Lebenslaufes, den sie als Vorbereitung auf unseren Besuch bekommen hatte. Darin steht „Klettern“ in der Kategorie Hobbies an erster Stelle. Boulder ist so etwas wie die inoffizielle Hauptstadt der amerikanischen Kletterszene. Klettern ist hier Volkssport — nicht zuletzt deshalb, weil das Angebot an Kletterfelsen in den umliegenden Bergen und Canyons gigantisch ist. Und so kommt es, dass ich mit Prof. Fish in dieser Woche gleich zweimal zum Klettern gehe. Und dazu noch Ski fahre! Denn am letzten Tag geht es für Max, Frank und mich in die Rocky Mountains ins Ski Resort Beaver Creek. Seitdem können wir stolz behaupten, dass wir die ehemalige Weltmeisterschaftsabfahrt erfolgreich gemeistert haben. Und, nur so am Rand bemerkt: in Beaver Creek herrschen wieder gewohnt amerikanische Verhältnisse. Soll heißen: direkt an der Piste gibt es eine Starbucks-Filiale.
Birmingham, Alabama
Von Boulder, der vielleicht europäischsten Stadt in den USA nach Birmingham, Alabama — mitten in den schwül-heißen Süden. Am Flughafen holt mich mein Host Steve ab, in Shorts und buntem Hawaii-Hemd. Ich verfluche meine gefütterten Stiefel. Beim Anblick meines Mietwagens bekommt Steve glänzende Augen. „Wow, what a nice sports car!“ Ich dagegen kriege eher Magenschmerzen. Zugegeben, das Auto ist schön anzusehen, aber zum einen ist es doppelt so groß wie mein Kleinwagen in Deutschland. Zum anderen stehe ich mit Automatik sowieso eher auf Kriegsfuß. Und zum dritten habe ich einen Orientierungssinn, der diese Bezeichnung eigentlich nicht verdient. Die Vorstellung, in diesem Schlitten durch eine fremde Umgebung zu fahren, finde ich nicht besonders verlockend. Und die Tatsache, dass Steve mir fröhlich erzählt, Alabamas Autofahrer hätten den schlechtesten Ruf in den USA und das auch noch völlig zu Recht, stimmt mich auch nicht gerade optimistischer. Vorsichtig frage ich ihn, ob ich in Birmingham wirklich ein Auto brauche oder ob es nicht möglich sei, zum Sender zu laufen. Steve schaut mich verwundert an: „That’s eight blocks!“ Ich versichere ihm, dass das nun wirklich kein Problem ist und lasse den Wagen stehen.
Stattdessen laufe ich jeden Morgen eine Viertelstunde zu WBHM, einer der über 800 NPR-Lokalstationen. Ohne es vorher zu wissen, habe ich eine extrem wichtige und geschäftige Woche erwischt: da sich das National Public Radio in den USA zu einem großen Teil aus Spendengeldern finanziert, veranstaltet WBHM zweimal pro Jahr eine große „Fundraising Week“. Jeden Tag kommen Lokalgrößen aus dem öffentlichen Leben Birminghams ins Studio, um die Bevölkerung zum Spenden aufzurufen. Und das ist im Prinzip der einzige Programminhalt in dieser Zeit: „Wir brauchen Ihr Geld, um für Sie Programm machen zu können. Eine halbe Stunde Programm kosten gerade einmal 45 Dollar. Können Sie sich vorstellen, ohne die Morningshow von WBHM zur Arbeit zu fahren? Wenn nicht, dann greifen Sie zum Scheckbuch. Oder spenden Sie online oder per Telefon unter…“ Und so weiter. Schon am ersten Tag kommen auf diese Weise über 30tausend Dollar zusammen, am Freitag ist die magische 150tausend-Dollar-Grenze erreicht. Ich frage mich, wie so eine Aktion wohl in Deutschland ankommen würde.
Einen Tag verbringe ich auch beim lokalen Fernsehsender Fox 6 — und werde mit der rasenden Reporterin Melanie Posey nach Adamsville geschickt. Anfang März gab es dort einen schweren Tornado. Und jetzt, knapp vier Wochen später, hat die Regierung die Stadt endlich zum Katastrophengebiet erklärt und Hilfe geschickt. Vor einer Kirche in Adamsville steht ein großer Truck der Katastrophenhilfe FEMA (noch gut bekannt durch Hurricane Katrina). Nachdem Melanie schon morgens zwei kurze Stücke direkt aus dem Ü-Wagen abgesetzt und mit den FEMA-Helfern sowie Betroffenen gesprochen hat, bereitet sie sich auf ihre Live-Schalte vor. Und mir wird einmal mehr klar, warum ich beim Radio gelandet bin und nicht beim Fernsehen: um sich kameratauglich zu schminken, braucht Melanie ziemlich genau 45 Minuten. Ihre Schalte dauert ganze 45 Sekunden. „I know it seems ridiculous, but that’s just the way it goes. You get used to it.”
Woran man sich als Deutscher tatsächlich erstmal gewöhnen muss, ist die Allgegenwart der Kirche in Alabama. Kirchen gibt es ungefähr so viele wie Starbucks-Filialen. Und Gläubige noch viel mehr. Auch auffällig viele Jugendliche zieht es zum Gottesdienst — also genau die Zielgruppe, die deutsche Kirchen mehr oder weniger vergeblich anzuziehen versuchen. Gern auch mit Skateboard, das dann vor dem Kircheneingang geparkt wird. Wer noch keinen Führerschein hat, der muss eben erfinderisch sein.
New York, New York
Meine Reise nach New York führt mich erst einmal nach Chicago. Der Flughafen Oahre ist ein einziges Labyrinth. Gut, dass Steve mich in Alabama schon vorgewarnt hat. Eine Stunde Aufenthalt habe ich laut Flugplan, gerade genug, um draußen vor der Tür schnell eine Zigarette zu rauchen (der gesamte Flughafen ist Nichtraucherzone), mir beim folgenden Security-Check meinen als gefährlich eingestuften Labello abnehmen zu lassen und festzustellen, dass in meiner Handtasche gleich zwei Kugelschreiber ausgelaufen sind. Nachdem ich eine Viertelstunde auf dem Klo verbracht und versucht habe, die Tinte von meinen Händen zu waschen, muss ich schleunigst zum Gate. Im Flieger angekommen treffe ich auf jede Menge genervt wirkender Amerikaner. Das hat zwei Gründe: Einerseits kann das Flugzeug nicht starten, weil sich im New Yorker Luftraum ein Stau gebildet hat. Und — was noch schlimmer ist — solange wir auf dem Rollfeld stehen, bleibt die Klimaanlage ausgeschaltet. Sprich: die Amerikaner müssen auf ihre gewohnten Kühlschranktemperaturen verzichten. Und ich kann meine vorsorglich eingepackte Winterjacke im Gepäckfach verstauen.
Später lasse ich sie im Hotelzimmer, denn New York empfängt uns am ersten Wochenende mit super Wetter (was sich im Laufe der Woche leider dramatisch verändern sollte). Es ist so schön, dass ich beschließe, die Stadt zu Fuß zu erkunden. Ich laufe von unserem Hotel in der 45th Street in Midtown bis runter zum Battery Park, der Südspitze von Manhattan. Jeder Amerikaner würde mich vermutlich für verrückt erklären, denn insgesamt bringe ich es mit Hin- und Rückweg locker auf über 100 Blocks und liege damit ungefähr 95 Blocks über der durchschittlichen „Das-ist-zu-Fuß-möglich“-Strecke. Zwei Tage später bin ich wieder ganz unten im Süden im Financial District, dieses Mal mit unserer RIAS-Stadtführerin Jennifer. Wir stehen gerade vor der großen bronzenen Bullen-Statue in unmittelbarer Nähe der Wall-Street, als neben uns ein Kleinbus anhält. Heraus strömt unter lautem Geschnatter eine Gruppe Japaner, alle ausgerüstet mit Digitalkameras. Begeistert stürzen sie sich auf den Bullen, fassen ihn an Hörnern und Hintern an, lächeln und schießen ein Foto nach dem anderen. Nach zwei Minuten ist alles vorbei, die Japaner sind wieder in ihren Bus gestiegen und verschwunden. Sightseeing auf Japanisch eben.
Auch am Ground Zero wimmelt es von Touristen. Direkt gegenüber hat kürzlich das Millenium Hilton eröffnet. Vielleicht das einzige Hotel auf der Welt, in dem sich die Gäste nicht über den Ausblick auf die Baustelle beschweren. Die Stimmung ist gedrückt. Es ist eben nicht dasselbe, die Bilder vom Ground Zero im Fernsehen zu sehen und tatsächlich vor dem Loch und all den Kränen zu stehen. Noch heute ist die Erinnerung an den 11. September frisch, jedes Mal, wenn ein Flugzeug besonders tief fliegt. Das erzählen uns die Schüler der Hoboken High School in New Jersey. Von ihrer Schule aus konnte man früher die Zwillingstürme sehen. Warum es zum 11. September kommen konnte, wieso jemand solch einen Hass auf die USA hat? Das können sich viele der Jugendlichen nicht erklären. An Politik interessiert sind nur wenige, die meisten schütteln auf diese Frage entschieden den Kopf. Wir wollen wissen, wie sie das Image der USA in anderen Ländern derzeit einschätzen. „I guess it is great, since so many people want to live here and we have so many illegal immigrants”, sagt ein Junge. Martin aus unserer Gruppe nimmt kein Blatt vor den Mund und erklärt der Klasse, wie es tatsächlich in Deutschland um den Ruf der USA bestellt ist. Später berichtet uns der Assistant Teacher, dass die Jugendlichen ziemlich schockiert und auch nachdenklich aus der Unterrichtsstunde herausgekommen sind.
Von New Jersey geht es wieder zurück auf die andere Seite des Flusses, unter anderem zu New York 1, dem führenden Lokalsender oder auch nach Brooklyn, zum Public TV, das stark an die offenen Kanäle in Deutschland erinnert. Allen voran immer Jon, der uns sowohl in Washington als auch in New York den „rechten Weg“ gezeigt hat. Eine echte Herausforderung, so eine Horde von 12 Deutschen durch die Straßenschluchten zu manövrieren, ohne dass einer verloren geht. Und dann ist plötzlich Freitag — und wir stoßen gemeinsam auf die vergangenen vier Wochen an. Es ist der letzte Abend des Rias-Programms. Ein schöner Abend, wenn auch etwas wehmütig. Eine tolle und intensive Zeit geht zu Ende.
———
Kerstin Claus, Zweites Deutsches Fernsehen
Es mag für so manchen banal klingen, aber das Herausragendste an diesem Programm war für mich: Vier Wochen Zeit haben. Zeit zum Zuhören, Nachfragen und „Verdauen“ der Antworten. Gedanken zu Ende denken können, nicht immer alles gleichzeitig tun müssen. Vier Wochen Eindrücke sammeln, allein, in der Gruppe, egal.
RIAS hat mir eine tolle Erfahrung ermöglicht. Meine Familie hat mir dafür frei gegeben. Die Große (damals fünf) meinte auf die Frage, ob sie das schaffen würde, vier Wochen ohne Mama: „Ich schaffe das. Aber Papa, ob Du das schaffst, weiß ich nicht.“ Nun, er schaffte es gerne, die Große hielt Wort und der Kleine lässt es noch einfach mit sich machen.
Aufbruch also, vier Wochen für mich. Rückkehr auch, schließlich hatte ich in den USA bereits ein Jahr studiert. Und doch immer wieder ganz viel Neues.
Schlaglichter:
* Amerika wächst — Weiße werden zur Minderheit * Sedona mit seinen roten Felsen *
* Deutsch — jüdische Begegnung im 21. Jahrhundert* ein Biergarten in Phoenix *
* Kofferpacken, immer wieder * Hoboken High School * Central Park *
* Zeit für’s Museum * unsichtbarer Grand Canyon * Amerika und seine Werte *
* warum `conservative´ längst nicht mit Bush gleichzusetzen ist *
Es ist ein vielfältiges Programm, das seine Stärke genau aus dieser Vielfalt bezieht. Ich wollte Amerika besser verstehen. Und ich wollte erfahren, was dieser Krieg, diese Politik mit den Amerikanern macht. Wollte bestätigt bekommen, was ich die ganzen letzten Jahre immer dachte, was aber immer weniger wahrgenommen zu werden scheint: dass Amerika mehr ist als sein Präsident. Eindrucksvoll bestätigt bekam ich das dann tatsächlich von den Vertretern der think tanks, mit denen wir zusammentrafen: von der Brookings Institution und PEW Foundation. Erst das Thema Stadtentwicklung/ neue Zentren und dann Werte/ Religion in Amerika. Zwei tolle Vorträge. Langsames Verstehen, was Menschen hier wichtiger ist als uns Westeuropäern. Dass in den USA zwar Religion und Staat getrennt sind, Politiker und Religion aber nicht getrennt sein dürfen. Warum Werte und Religion `conservative´ und `democratic´ gleichermaßen sind und sein müssen. Luis Lugo von der Pew Foundation hat wirklich eindrucksvoll etwas mit Zahlen belegt, was einem überall in diesem Land begegnet: dass jeder irgendwie religiös gebunden ist, dass Religion dabei keineswegs eine Familiensache ist, sondern eine ganz individuelle Entscheidung. Dass es ohne Religion in Amerika irgendwie nicht geht. Dass zwischen europäischem Freigeist oder gar Atheismus/ Nihilismus und amerikanischer Religiosität wahrhaftig Welten liegen. Zahlen, die irritieren, die aber gleichzeitig so viel erklären.
Bei Brookings wieder Zahlen, diesmal zu Zuwanderung und Kinderreichtum unter den Zuwandern. Die Folge: ein verändertes Amerika, in dem der WASP langsam, aber sicher zur Minderheit wird und im Gegenzug Spanisch immer umfassender zweite Nationalsprache. Dass Amerika rasant wächst und dass genau dieses Wachstum den Umbruch der bestehenden Verhältnisse noch beschleunigt.
Dann die Heritage Foundation, die mit ihrer absoluten Professionalität Standards setzt. Viel Zeit vergeht, bis Begriffe so geklärt sind, dass auf gemeinsamer Basis debattiert werden kann. Warum Bush nicht gleichzusetzen ist mit wahrhaft `conservative´. Und auf was es den Wächtern des Konservativen ankommt bei der Wahl eines würdigen Kandidaten für die nächste Präsidentschaftswahl. Betrachtet man die Mienen hier, scheint man über die potentiellen Kandidaten nicht wirklich glücklich zu sein.
Überhaupt die Wahlen: soweit ist es noch hin und doch sind sie überall Thema. Das Geld, das gesammelt wird. Die Effizienz einer Hillary Clinton, das Charisma eines Barack Obama. Und die allgegenwärtige Spekulation und vielleicht auch Sehnsucht, Al Gore könnte es doch noch einmal versuchen mit der Kandidatur. Stimmt meine Wahrnehmung, dann hat die konservative Seite es schwer, egal auf welchen Kandidaten man sich einigt. Und so recht begeistert scheint selbst das konservative Amerika von keinem der potentiellen Bush-Nachfolger.
Mehr als spannend war für mich die Landung auf dem Boden der Tatsachen, beim Besuch in Brooklyn, der Hoboken High School. Das gebildete, privilegierte Amerika einerseits und andererseits all die, die versuchen, aus ihren wenigen Chancen etwas zu machen. Die Debatte um die „dummen Amis“, die die Studenten schockt: wie kann es sein, dass die stolzen Amerikaner anderenorts für dumm gehalten werden. Und dass der eigene Präsident hier seinen Anteil hat. Das gemischt mit deutschem Bildungshochmut. Dabei wüsste ich nicht, wer sich besser schlägt: ein deutscher Hauptschüler oder die students der Hoboken High. Immer wieder diese Erdung. Was kommt wirklich an beim gemeinen Volk von der hohen Politik. Wenn es bei uns die Bild-Zeitung ist, dann ist es hier das Fernsehen. Und das zeigt — wie mir eine Woche in einem der größten Fernsehmärkte Amerikas vorgeführt wird — vor allem Lokales. In Miami waren das Unfälle, ein gesunkener Katamaran, eine Schule, die evakuiert werden musste.
Fernsehen auf sparsamsten Niveau: ein Kameramann, der gleichzeitig Cutter und einziger Techniker des Microwave-Übertragungswagens ist. Und Fahrer natürlich. Neki Mohan, im siebten Monat schwanger, ist Reporterin und staunt, als ich sie frage, wann denn ihr Mutterschutz beginnt. Arbeiten bis das Kind kommt ist hier Standard. Und danach schnell wieder anfangen. Einmal, weil das Geld sonst nicht langt und zum anderen, damit der Job bleibt. Es ist ein schnelles Geschäft, in jeder Hinsicht. Professionalität ja, hintergründiges Nachfragen auch bei den kleinen Geschichten dagegen Fehlanzeige. Ein Dieseltank, der an der Küste auslaufen könnte, ist nur ein Nebensatz. Lieber die längst abgeschlossene dramatische Rettungsaktion auf hoher See noch ein wenig länger schildern. Das zieht. Nicht die Sorge, was noch passieren könnte.
Route 66: auch das ein Highlight. Meine Wunsch-Uni hatte ich bekommen: Tempe, Arizona. Hier war ich noch nie gewesen. Die Farben, die Kakteen, die endlosen Straßen. Irgendwie schon fast der Abziehbild-Kitsch aus all den vielen Filmen. Und doch wunderbar so klein und staunend durch die Weite zu fahren. Schließlich bin ich groß geworden in einer Zeit, da Amerika für Weite und Freiheit stand. Der Grand Canyon war mein/ unser Ziel. Kaum angekommen, wären wir fast hineingefallen. Die Schlucht ohne jede Absperrung. Nichts kündigt sie an, als wir in tiefstem Nebel unser Ziel erreichen. Flach das umliegende Land, der Abgrund nur einen Schritt entfernt. Gut dass wir den Aufpreis für „rooms with a view“ gescheut haben. Am nächsten Morgen dann werden wir doch noch reich belohnt. Einfach klasse. Nur zu toppen, wenn man jetzt noch mit dem Segelflugzeug drüber/ hinein fliegen könnte.
Rückweg nach Phoenix über Sedona: eine alte Hippie-Hochburg fest in Händen der Esoteriker. Schuld daran die wunderschöne rote Felslandschaft. Esoterik hin oder her, hier möchte ich noch mal hin. Zuvor der Strip, Vegas, Drive Through Wedding Chapel. Alles wie erwartet. Dann ein klasse Diner irgendwo zwischen Vegas und dem Hoover Staudamm. Endlich Frühstück, das die Laune von Nadja und damit auch Ninas und meine deutlich ansteigen lässt.
Als wir dann aufbrachen Richtung New York, hatte ich wirklich die Nase voll vom Packen und Schleppen. Komfortabel sind die U.S.-Flughäfen nicht wirklich. Doch beim Anflug auf La Guardia war alles verflogen: bei schönstem Licht die Schleife über Manhatten zu drehen, Anflug vom Meer aus, beste Sicht. Allein hierfür hätte ich noch so manches Mal gepackt.
Es war nicht das erste Mal für mich: doch noch nie hatte ich wirklich Zeit oder gar Geld in New York. Schwache Erinnerung einer ungemütlichen Nacht am Port Authority steigt hoch. Jetzt ein super zentrales Hotel, 5th Avenue, der Central Park, die Museen, der Apple Store — alles nur einen Steinwurf entfernt. Ankommen, einchecken und sofort los: Zeit haben in New York heißt unterwegs sein. Und ich war unterwegs. Kurz und gut, es war eine klasse Abschlusswoche, mit dem besten Käsekuchen, Coney Island, wie es wohl Zeitungsberichten zufolge nicht mehr viele sehen werden. Brooklyn war toll. Donors Choose: ein weiteres Highlight. Aus einer einfachen Idee etwas machen. Menschen, die sich eben dieser Idee verschreiben. Sich nach diversen erfolgreichen Start-Ups eine Auszeit nehmen. `Der Gesellschaft etwas zurückgeben´ — oft hört sich dies an wie eine hohle Floskel, hier, in einer einfachen Büroetage irgendwo in New York, lässt sich dieser Satz mit Händen greifen. Kabel auf Putz verlegt, kaum genügend Stühle für die ganze Rias-Truppe. Es geht um die Sache, nicht ums Prestige.
Für mich ein weiteres Highlight: der Besuch beim Jewish Committee. So unverkrampft, auf das Hier und Jetzt und die Zukunft ausgerichtet habe ich diese Begegnung empfunden. Im Bewusstsein der deutschen Vergangenheit, aber in einer Art, die Perspektiven eröffnet. Schuld endlich als Thema, aber eben nicht als Kette, die jede Begegnung an sich krampfhaft erscheinen lässt. Vielleicht ist es genau der Standortwechsel, der diese neue Art der Begegnung für mich ermöglicht hat. Es hat sein Gutes, deutschen Boden zu verlassen, stelle ich wieder einmal fest.
Fazit: es waren volle Wochen, in jeder Hinsicht. Im Rückblick verblüffend, dass sich kein Programmpunkt als „Pflichttermin“ angefühlt hat — vielleicht vom Treffen in der deutschen Botschaft abgesehen. Die Zusammenstellung, die Kontraste, die Vielfalt der Themen und Regionen, wirklich gut. Jon, der umsichtig unsere Truppe immer auf Kurs gehalten hat, auch wenn wir uns so manches mal im Vergleich zu ihm „over-dressed“ fühlten. Diese vier Wochen haben mir viel gebracht, beruflich und persönlich.
Übrigens waren meine Kinder, die ich vier Wochen „allein gelassen“ habe, in Amerika nie ein Thema. Nie musste ich mich rechtfertigen, nie fühlte ich mich gegen ein etwaiges Rabenmutter-Stigma kämpfen. Eine weitere Erfahrung, die sich hoffentlich auch zurück im deutschen Alltag nachhaltig erweisen wird.
———
Frank Dürr, Arte
“How is it in Germany?”
Das Programm: 11 Journalisten aus Deutschland (plus ein deutscher Journalist, der in Frankreich arbeitet — meine Wenigkeit), 4 Wochen randvolles Programm. Das Ziel: Mehr über die USA zu erfahren, die einzige verbleibende Supermacht, ihre Institutionen, die Interessengruppen, den Journalismus, vor allem aber über die Menschen.
Germany ist auf der ausgerollten Schullandkarte ziemlich winzig. Die Jugendlichen in der Hoboken High School in New Jersey wissen erst einmal nicht genau, was sie mit 12 Journalisten von dort anfangen sollen. Als wir uns vorstellen, von Ost- und Westdeutschland reden, ernten wir verständnislose Blicke. Rachel, ihre sehr engagierte Lehrerin, erklärt uns, dass die Kids im Alter von 17-18, im letzten Schuljahr, in Geschichte gerade erst beim Zweiten Weltkrieg sind. Also versuchen wir zu vereinfachen und Kalten Krieg und Fall der Mauer in zwei Sätzen zusammenzufassen: Ihre Lehrerin winkt ab. Wir geben nicht auf: Deutschland war mal geteilt, in einem Teil herrschte Kapitalimus, im anderen Kommunismus, wie auf Kuba. Kuba? Die Kids beginnen unaufmerksam zu werden. Mich beschleicht das Gefühl, dass wir genauso gut aus Biafra kommen könnten. Auf unsere Frage, warum es ihrer Meinung nach die Attenate von 9/11 gegeben hat, zögern sie: Viele seien wohl eifersüchtig auf den Erfolg der USA.
Hoboken ist wohl nicht der Stolz des U.S.-Bildungssystems, es fehlt an Mitteln, doch man versucht, so viel wie möglich anzubieten. Fremdsprachen sind aber nur optional, und Deutsch, naja, wer kann sich hier schon vorstellen, dass er das mal brauchen würde? Dabei sind die Kids mit afro-amerikanischen, Latino- oder asiatischem Hintergrund — Weisse gibt es nur ganz wenige — durchaus enthusiastisch: Sie erzählen, was sie werden wollen: Footballer (dafür gibt es hier glänzend ausgestattete Uni-Stipendien), Naturwissenschaftler, Automechaniker, Architekt, Sanitäterin, ein junger Mann will zur Army, aus freien Stücken, sagt er. Glücklich sieht er dabei aber nicht aus.
In Boulder, Colorado, erwähnt dann doch schon mal eine Studentin im Grundstudium an der Journalistenschule den Mauerfall — auf die Frage, an welche Nachrichten sie sich aus Deutschland erinnert. In der Tat findet Europa in den U.S.-Medien so gut wie nicht statt. Im Hauptstudium sind die Studenten dann versierter, und oft auf bestimmte Themen spezialisiert. Im Diskussionsforum über Medien und Irakkrieg sind sie neugierig, wie deutsche Medien die USA darstellen, oder ob man nur “Bush-Amerika” zeigt. Wir versichern, dass wir es differenzierter darzustellen versuchen; (die ARD-Korrespondentin in Washington erzählt uns dagegen, dass die Heimatredaktion gerne mal Berichte mit “Bush-Bashing” bestellt). Eine weitere Gruppe an dieser Fakultät besteht meist aus Journalisten in unserem Alter (30-40), die dank Stipendium aus der Praxis wieder an die Uni kommen — an den Lehrstuhl für “Umweltjournalismus”. Wir als “Generalisten” sind überrascht — und kommen bei präzisen Fragen zu alternativen Energien etc. schon mal ganz schön ins Schwitzen. Bemerkenswert und engagiert ist auch so gut wie immer der Empfang, der uns bei unseren Begegnungen, auch in Washington und New York, bereitet wird — bei 12 Journalisten, die sich nur erst einmal informieren wollen (und nicht gleich ein Interview oder einen Beitrag machen), nicht selbstverständlich. Vor allem an der Uni zieht unser host Richard, der unser gesamtes Programm der Uni-Woche koordiniert, alle Register: Ice Core Labor in Denver, zahllose Begegnungen, aber auch der Skitrip in die Rocky Mountains. Eins sehen wir aber die ganze Woche nicht: einen schwarzen Studenten. Vielleicht, weil ein Studienjahr schon mal 20 bis 25.000 Dollar kosten kann.
Brrring. Spielautomaten schon am Flughafen, das hat nur eine Stadt: Las Vegas. “Sin City” erschlägt den Besucher erstmal völlig mit Neon, lauter Werbung, Touristenmassen und seiner völligen Künstlichkeit, sei es in Klein-Paris oder Vendig oder dem Disney-Schloss. Inmitten dieser potemkinschen Metropole empfängt mich mein Gastgeber Tom, Verkehrskorrespondent beim TV-Lokalsender Channel 3, herzlich und dynamisch. Obwohl sein Job sich sehr von meinem unterscheidet, staune ich über die Professionalität und scheinbare Lässigkeit, mit der er seinen Job erledigt: Live-Aufsager aus dem sendereigenen Verkehrshubschrauber, wobei er die ferngesteuerte Kamera virtuous bedient und zugleich auch noch auf Band aufzeichnet und einspielt. In den folgenden Tagen nimmt er mich im Helikopter zum Grand Canyon mit, für einen Bericht zur Eröffnung des “Skywalk”, einer Glasballustrade über dem Rand des Canyons. Interviews, noch ein Live-Aufsager von dort, und wieder zurück zum Bericht zur 17-Uhr-Sendung — beeindruckend. “News” bedeutet zumindest bei diesem Lokalsender etwas völlig anderes als bei uns — es gibt lokales, vom Bau einer neuen Strasse über Anna Nicole Smith bis zur Mutter, die ihre Kinder mit dem Brotmesser angegriffen hat. Wetter- und Verkehrsberichte nehmen viel Raum ein, nur wirklich große nationale Ereignisse finden den Weg in die Sendung, und die ohnehin sehr seltene Meldung über Anschläge im Irak fliegt dafür schon mal raus.
Das Essen muss schnell gehen — und findet daher oft in Papiertüten, Styroporschachteln, Papp- oder Plastikbechern statt — und mitunter entweder im Stehen oder beim Meeting. So kämpft man mitunter nicht nur mit den Worten, sondern auch noch mit dem Burger, da die Bulette per se danach drängt, aus dem schwammigen Brötchen zu hüpfen. Hier gilt es, verbale und ketchupbedingte Kollateralschäden zu vermeiden. Man fragt sich zudem, wie es der Amerikaner als solcher denn anstellt, beim U-Bahn-Hinterherlaufen seinen Starbuck’s-Kaffee (Latte/ decaf /grande/no sugar), Deckel hin oder her, nicht nur nicht zu verschütten, sondern sich auch noch nicht den Mund daran zu verbrennen. Mysteriös. Aber: Time is money.
… und das kommt in den USA für so einige Einrichtungen von Spenden, sei es von philantrophen Milliardären (von Carnegie oder Rockefeller — sie beuteten damals ihre Arbeiter aus und ruinierten Konkurrenten, spendenten dann aber etwa die gleichnamige Hall oder das Center — bis zu Software-Quasi-Monopolist Bill Gates), aber auch wohlhabende U.S.-Bürger sind spendenfreudig. So funktionieren viele parteinahe Stiftungen, die “Think Tanks”; aber auch das “Newseum”, ein Museum für TV- und Radionachrichten, hat so Millionenbeträge für ein neues Gebäude gesammelt. Manches von Spenden finanzierte Projekt ersetzt freilich auch Einrichtungen, die in Europa von öffentlichen Geldern finanziert werden. Doch angesichts einer solchen Spendenbereitschaft kann der Europäer nur staunen — und vielleicht etwas lernen.
Es bleiben noch so viele Eindrücke aus unseren Begegnungen: Der Vertreter der schwarzen Bürgerrechtsbewegung NAACP, der für das Präsidentschaftsrennen 2008 Hillary Clinton Barack Obama vorzieht, weil dieser nicht von ehemaligen Sklavenfamilien abstammt. Die Interessenvertreter der Indianer in Washington, die ihre Mühe haben, die zahlreichen Stämme, die rechtlich gesehen eigene Nationen sind, unter einen Hut zu bringen. Oder die Latinos, die am schnellsten wachsende Einwanderergruppe in den USA, die ihre Sprache beibehalten, zahlreiche eigene spanischsprachige Zeitungen und Sender haben — und die von der Falafelbude bis zum italienischen Restaurant scheinbar überall das Hotel- und Gaststättengewerbe fest in ihrer Hand haben — was auch daran liegen kann, dass sie — vorsichtig ausgedrückt — wohl keine überzogenen Lohnforderungen stellen.
Wenn dies sich nun wie ein durchaus kritischer Bericht liest, so mag es daran liegen, dass man mitunter gerne Personen oder auch Länder kritisiert, die einem am Herzen liegen und für die man sich begeistert. In diesem Sinne waren unsere vier Wochen an Begegnungen und Eindrücken mit dem RIAS-Programm eine einmalige Erfahrung.
———
Martin Günther, Freelancer
Der Unterschied zwischen „News“ und „Nachrichten“
Die Lage „Post 9/11” ist kein Top-Thema mehr in den U.S.-Medien. In diesem Frühjahr 2007 ist „Post ANS” angesagt. Anna Nicole Smith. Der Name des gerade mysteriös verstorbenen Moppel-Models fällt während unserer Gespräche bei Fernseh- und Radiosendern öfter als der des U.S.-Präsidenten. Offenbar hat die seriöse Presse hier gerade mit einem neuen Trauma zu kämpfen. Die bittere Selbsterkenntnis, in der Zeit nach dem 11. September 2001 vielleicht ein wenig zu unkritisch berichtet zu haben, scheint überwunden. Doch nun kratzt die überbordende Berichterstattung um eine tote Blondine, ungeklärte Vaterschaften und ein Millionenerbe am journalistischen Selbstbild. Während die tote Frau Smith eine News-Show nach der anderen füllt, versuchen unsere Gesprächspartner immer wieder durch verbale Seitenhiebe zu signalisieren, dass das eigentlich auch nicht ihrer Vorstellung von Nachrichtenjournalismus entspricht. Wie viel Sendezeit bei CNN und Co. darf eine verstorbene Klatsch-Ikone einnehmen, wenn gleichzeitig im Irak die eigenen Soldaten unter Beschuss stehen?
Am oft zitierten fehlenden U.S.-Blick über den Tellerrand sind die Medien nicht ganz unschuldig. Das wird uns während der RIAS-Reise immer wieder klar. Da mag sich der staatliche Radiosender NPR mit seinem nüchtern seriösen Programm noch so sehr über wachsende Hörerzahlen freuen — die Masse schaut ihre Nachrichten im Fernsehen. Und im stark lokalisierten U.S.-TV-Markt sind „News” nicht staatstragend vorgelesene „Tagesschau” -Meldungen über Politik und internationale Krisenherde, sondern flotte Reporterstücke über den Wohnhausbrand um die Ecke oder die Katze des Nachbarn, die aufgrund verdorbener Tiernahrung am Tropf hängt. Während meiner Woche bei KMBC-TV in Kansas City schafft es kaum eine überregionale Meldung in die abendliche Hauptsendung (abgesehen von Anna Nicole natürlich). Nationale und internationale Nachrichten — produziert vom Mutter-Network — werden lieber in den Vorabend verbannt. Immerhin spielt Politik aber zumindest auf lokaler Ebene während dieser Woche eine große Rolle. Am Dienstag wird ein neuer Bürgermeister gewählt. Also sind am Montagabend die letzten Wahlkampfstunden der Kandidaten Thema. Und am Wahlabend selbst lässt die professionelle und ausführliche Berichterstattung deutsche Kommunalwahlen klein aussehen.
Die Woche in Kansas City lässt mich an meiner Interpretation des Begriffs „Nachrichtenrelevanz” zweifeln. Kann man es dem TV-Zuschauer wirklich verübeln, wenn er sich mehr für die Pläne des neuen Bürgermeisters gegen das Schlagloch vor seiner Haustür interessiert als für die Versprechen des Präsidenten, doch mal irgendwann über das Ozonloch nachzudenken? Vielleicht hat der sehr kurzsichtige U.S.-Blick aufs Weltgeschehen auch positive Auswirkungen. Selbstverständlicher als in Deutschland engagieren sich viele Bürger in den USA ehrenamtlich. Da ist die Rentnerin, die uns in Los Angeles durchs Getty Museum führt, oder die 16jährige, die in New Jersey nach der High School bei den Sanitätern mitfährt. Das Bedürfnis, etwas für die Gemeinschaft zu tun, scheint stärker ausgeprägt — vielleicht auch, weil die Medien den Blick lieber aufs Unmittelbare fokussieren, statt über große Probleme zu berichten, die man als Einzelner ohnehin kaum lösen kann?
Trotzdem hätte ich aus dem U.S.-Fernsehen auch zwischendurch gerne mal erfahren, was Präsident Bush eigentlich gerade so auf seiner Lateinamerika-Reise treibt. Oder was es mit den festgehaltenen britischen Soldaten im Iran auf sich hat. Doch dazu muss man schon sehr genau wissen, wo man einzuschalten hat. Oder eine gute Zeitung lesen. Die elektronischen Massenmedien scheinen die Welt jenseits ihrer jeweiligen Stadtgrenzen fast komplett aus den Augen verloren zu haben. Uns deutschen Nachrichtenmachern fehlt dagegen vielleicht vor lauter weltpolitisch relevanten Themen oft der Blick für das, was das Publikum unmittelbar betrifft. Nach dieser Reise weiß ich zwar nicht unbedingt, welche Perspektive die richtige ist. Aber der Denkprozess läuft.
———
Melanie Haack, Zweites Deutsches Fernsehen
Die Cowboystiefel und der Mauerfall
4 Wochen USA, 4 Stationen, 11 weitere Journalisten und ganz viele Termine — das sind meine Vorgaben. Hinzu kommen Erwartungen an eine Journalistenreise in das Land der Medienvielfalt, der Superlative. Hinzu kommen auch Klischees. Doch was ist Amerika außer Weltmacht, Land im Terrorkrieg und Fastfood? Wie ergeht es den Amerikanern über 5 Jahre nach dem 11. September 2001, wie lange kann George W. Bush den Krieg im Irak noch rechtfertigen? Erwartungen und Klischees habe ich ebenso im Gepäck wie die Neugier auf mehr, auf Neues.
Washington D.C. Wie leergefegt sind die Straßen am Samstagnachmittag. Politik und Verwaltung haben Wochenende. Das macht die erste Erkundungstour entspannter. Hier also schlägt das politische Herz Amerikas. Breite Magistralen führen in die City und überdimensionierte Mahnmale vereinen sich zu einem symmetrisch konzipierten Gesamtwerk. Erinnerungen an Kriege, an Siege, an Verluste, an Helden. Pathos umhüllt die Stadt. Hier kann der Betrachter nicht irren. Das ist die Hauptstadt Amerikas. Die Gruppe lernt sich und Washington bei einer Stadtrundfahrt näher kennen. Ein gemütlicher Schnupperkurs am Anfang eines vierwöchigen Powerprogramms im 90-Minuten-Takt. Washington ist die Woche der Termine, der Gespräche, der langen Fußmärsche. Vom Brookings Institut, dem ältesten Think Tank Amerikas über die konservative Heritage Foundation, die mit ihrem eigenen Fernseh- und Radiostudio die Rundfunkanstalten beglückt (hier muss kein Kamerateam oder Radio-Reporter anreisen und die Technik aufbauen, um einen O-Ton zu bekommen) bis zum Pew Forum on Religion and Public Life — sie alle machen sich scheinbar gut bezahlte Gedanken für ihre Auftraggeber. Denn so unterschiedlich ihre Ansätze sind, eines haben sie subjektiv wohl alle gemeinsam: den postmodernen, überdimensionierten Konferenztisch. Jeder steht uns Rede und Antwort mit viel Energie, die man bei einer Journalistengruppe mit locker sitzender Zunge auch braucht. Nur beim Thema George W. Bush werden die Gespräche leiser. Große Worte des Lobes bekomme ich nicht zu hören. Amerika steckt im Zwiespalt mit dem Krieg gegen den Terror und mit seinem Präsidenten.
Texas is healthy and very German
Austin/Texas. Programmteil zwei, Universitätsaufenthalt in Dreiergruppen. Was ich von der Uni weiß: Mit rund 50.000 Studenten ist sie eine der größten der Vereinigten Staaten. Und sie zählt zu den besten öffentlichen Schulen des Landes. Die Uni glänzt übrigens mit einem Stiftungsvermögen in Milliardenhöhe. Na, wenn man da keine Erwartungen haben darf.
„I have a very sweet welcome present for you“, begrüßt uns unsere Herbergsmutter Tracey und reicht uns eisgekühlte Erdbeeren mit Schokoladenguss. „And by the way, our breakfast is very healthy”, sagt sie uns stolz. Das klingt wie Musik in meinen Ohren nach einer Woche Wendy´s, Subways, Waffle House und Plastikware. Rührei mit Truthahn, dazu Weißbrot und Obstsalat — wir genießen bei Tracey eine deftig gesunde Mischung auf Porzellan, die uns den nervösen Magen füllt. Unser Host David führt uns zünftig in die Abendkultur der Studierenden ein: Bier, Burger, Live Musik, Sport im Fernsehen und obendrein Small Talk. Alles auf einmal. Die Dauerbeschallung macht mich unruhig. Der riesengroße Campus übrigens auch. Häuser über Häuser, Studenten über Studenten. Letztere sind gemeinhin kurz und knapp bekleidet. Die jungen Frauen tragen Miniröcke und enge Tops. Austin, das liberale Herz im konservativen Texas. Auch beim Thema Umweltschutz ist Austin ganz vorn. Man sei die Nummer Eins in nachhaltiger Umweltentwicklung, wird uns stolz berichtet. Ein Beitrag über Mülltrennung findet sodann Eingang in die von Studenten produzierte Fernsehsendung. „Alles nur Übungen“, entschuldigt man sich. Auf mich aber wirkt das 30-minütige Studentenprojekt professionell. Ich bin erstaunt über die Sendung der Studenten, ob sie als Moderator, Reporter oder Regisseur daran mitgewirkt haben. Doch das sind scheinbar die Erwartungen an Studenten, deren Ausbildung zehntausende Dollar kostet. An uns hat man auch Erwartungen. Wir sollen den Studenten die deutsche Medienlandschaft näher bringen. Vom deutschen Fernsehen führt unsere Diskussion über Studiengebühren, Elterngeld bis zur Krankenversicherung. Wir alle stellen fest: zwischen Deutschland und Amerika liegen Welten.
In Texas dürfen drei deutsche Neu-Cowboystiefelbesitzer beim „70th Annual Star of Texas Fair and Rodeo“ nicht fehlen. Die Reitershow inklusive Kirmes bestätigt die Klischees. Männer, Frauen und Kinder kommen in Hemd, Jeans und Cowboystiefeln. Kerzengerade stehen sie zur Eröffnung der Veranstaltung in Reih und Glied. 50 hell erleuchtete Sterne strahlen auf den Sandboden der abgedunkelten Arena. Ein Priester betet für die Nation, die Soldaten im Irak-Krieg und für Amerika. Es erklingt die Nationalhymne, gesungen von einer jungen Frau. Der Tonpegel steht auf Anschlag. Die Zuschauer stimmen mit ein, die Hand auf der Brust, den Cowboyhut unterm Arm. Hoch zu Ross, die wehende Amerika-Flagge in der Hand, gibt eine Reiterin ihrem Pferd die Sporen und rast davon. Zurück bleiben jubelnde Amerikaner und drei verdutzte deutsche Journalisten in Cowboystiefeln. Halbwegs wieder beisammen genießen wir dann den Abend. Und wir erfahren, dass Rodeo in Texas ein Non-Profit Sport ist. Die Einnahmen gehen an die Cowboys und in Form von Stipendien an Studenten. Deshalb gehört zum ordentlichen Rodeo auch der Wettstreit um das schönste Schwein. Und diesen soll vor einigen Wochen ein kleines Mädchen gewonnen haben und damit auch ein Stipendium.
“The world´s news leader” CNN
Atlanta, CNN Headquarters. Der Koffer ist wieder etwas voller, das Tagebuch auch. Melissa erwartet mich schon im Hotel. Melissa arbeitet für CNN Pipeline. Pipeline in dieser Dimension war mit Sendebeginn Ende 2005 eine Neuheit. Denn Pipeline präsentiert das Fernsehen im Internet. Von 8 bis 8 täglich sendet Pipeline live. Die übrigen Stunden berichtet CNN International auf dem Kanal. Eigene Pipeline-Moderatoren führen durch das 12-stündige Programm, überwacht von der eigenen Regie. Rund 150 Redakteure schreiben, drehen und moderieren für das Internet. Von der Fernsehzunft unterscheiden sie sich nicht wirklich. Die Inhalte von Pipeline? Alles! News, Unterhaltung, Politik, ein brennender Laster, zweimal täglich das Business Update. Melissa wirbelt, so wie scheinbar auch der gesamte Fernsehsender. Nachrichten sind prompt auf Sendung, die dazugehörigen Bilder und O-Töne auch, gefilmt aus dem Hubschrauber, mit dem Handy oder von einer Überwachungskamera. Dagegen wirkt es auf den Fluren und in den Büros erstaunlich leise und gelassen.
Larry King, Lou Dobbs und Co. führen durchs Programm. Der Schaltpartner ist immer dabei. So sind sich drei miteinander unterhaltende Reporter auf einem Splitscreen keine Seltenheit. Und zack kommt eine Grafik, es folgt der nächste Reporter und schwupps die nächste Grafik, zwischendurch eine kurze MAZ und dann der nächste Reporter live und ganz dicht am Geschehen. Da muss auch Madlen Albright mal 30 Minuten vor der Kamera sitzend auf ihre Schalte warten. Immerhin wird das kommende Interview mit ihr in diesen 30 Minuten fünf mal getrailert.
Melissa macht jeden Termin überall möglich. Auch bei den Kollegen vom Fernsehen. „Hey, du bist doch Deutsche“, ruft mir Anthony beim Rundgang hinterher. „Woher weißt du das?“, frage ich ihn verdutzt. „Das habe ich an deiner Brille gesehen. Die Deutschen tragen eckige Brillen.“ Ich muss gestehen, fast hätte ich meine eckige Brille abgesetzt, um nicht weiter enttarnt zu werden. Anthony ist Cutter und hat viele Jahre in Deutschland gelebt. Jetzt schafft er bei CNN. Er schneidet gerade eine Reportage, 30 Minuten. Shotliste, Kassetten und den fertig gesprochenen Text hat ihm der Reporter gegeben. Jetzt frickelt Anthony ganz allein Stimme und Bilder zu einer Symbiose, ganz ohne Redakteur. In meinen Augen Schwerstarbeit. Ich verlasse CNN mit neuen Eindrücken, Ideen und Erinnerungen an viele aufgeschlossene Journalisten.
When the wall came down, you know???
New York City. Die Gruppe hat sich und die Termine im 90-Minuten-Takt endlich wieder. Wir besuchen die Hoboken High School in New Jersey und tauchen ein in das wahre Leben. Doch so einfach rein geht es für uns erst mal nicht. Wir müssen in die Kamera lächeln und unseren Presseausweis zücken. Dann sind wir registriert und befähigt, die Schule zu besuchen. Wir sitzen den Schülern gegenüber. Fast alle hier sind Einwandererkinder. „Jo Baby“, antwortet einer seiner Lehrerin Rachel. Sie nimmt´s gelassen und antwortet genauso cool. „Anders wirst Du hier nicht akzeptiert,“ erklärt uns Rachel. Die Hoboken High School setzt auf Strategie, auf Sonderbetreuung und Gespräche. Mit uns funktionieren letztere nicht gleich auf Anhieb. Doch Journalisten finden immer Fragen. Wir entlocken den Schülern Sätze über Berufswünsche, über den 11. September 2001 und die Folgen für ihre Familien und für Amerika. Ich bin erstaunt über die kritische Reflexion der Schüler. Doch dann erlebt unsere Gruppe ihre große Stunde. An der Wand im Klassenzimmer hängt ein Plakat. Darauf sind Menschen, die am 9. November 1989 auf der Berliner Mauer feiern. Als unsere Gruppe das entdeckt, ist es geschehen. In sicherer Annahme, selbst ein 15jähriger Amerikaner müsse die deutsche Geschichte kennen, erklären wir den verdutzten Schülern quasi alles komprimiert vom 2. Weltkrieg über den Mauerbau bis zur Wiedervereinigung und ganz nebenbei von den politischen Systemen. Erst als die Lehrerin die Europakarte vorzieht und den Schülern mit dem Finger zeigt: „Hier liegt Deutschland“ halten wir die Luft an. Den Lehrplan für ein Schuljahr haben wir in 30 Minuten vorweg genommen.
All das erlebt der Teilnehmer in 4 Wochen USA, an 4 Stationen, mit 11 Journalisten und bei ganz vielen Terminen. Ich habe einen kleinen Einblick in ein vielfältiges Land erhalten. Neue Erfahrungen, bestätigte Klischees und zahlreiche neue Fragen nehme ich mit nach Hause. Meine Erwartungen haben sich erfüllt!
———
Birgit Keller-Reddemann, Westdeutscher Rundfunk
Der Geistliche unten in der Arena schreit die Worte geradezu in sein Mikrofon: „Wir sind stolz auf Amerika! Wir danken Gott, dass wir in diesem Land leben. Wir wissen, dass wir privilegiert sind.“ Das Publikum jubelt. Dann wird die Nationalhymne gesungen. Alle erheben sich, mit der rechten Hand auf dem Herz. Ein junge Frau mit wehenden Haaren unter dem Cowboyhut und dem Stars and Stripes-Banner reitet in der Arena noch mal in hohem Tempo eine Runde. Und dann geht’s los. Cowboys zeigen, was sie alles können: Pferde fangen, Pferde zureiten, den Bullen reiten. Ich bekomme eine Gänsehaut, ja, es geht mir richtig unter die Haut. Ich weiß, so wird hier in Texas jedes Rodeo eröffnet, 14 Tage lang, jeden Abend. Aber ich bin zum ersten Mal dort und die Inszenierung wirkt. Hier genauso wie beim Besuch des Soldatenfriedhofs Arlington in Washington, wo der kalte Wind über Tausenden von weißen Kreuzen pfeift. Hier wie bei den vielen Kriegsdenkmälern in Washington. „Wir kamen nicht, um zu erobern, sondern um die Freiheit zu bringen“, so steht es am Denkmal zur Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg. Dieses Land liebt es, die ganz großen Gefühle zu inszenieren. Und eines der größten Gefühle ist hier die Liebe zum eigenen Land. Das ist mein stärkster Eindruck, einer von ganz vielen anderen in diesen vier intensiven Wochen.
Washington, D.C.
Es ist kalt, aber der Himmel ist blau (das Wetter ist wichtig, es eröffnet jeden small talk und ist Top-Thema in den Nachrichten im Fernsehen und im Radio). Wir haben Termine: mindestens vier täglich. Unser Zeitplan ist eng und Jon Ebinger, unser Host, hat alles im Griff: amerikanisch effizient schafft er es, uns pünktlich von einem zum anderen zu lotsen.
Wir bekommen
— die neuesten Bevölkerungsstatistiken vom Metropolitan Policy Center der Brooking Institution. Ganz wichtig für die weitere Entwicklung: die lateinamerikanischen Einwanderer sind die Gruppe, die am stärksten und schnellsten wächst.
— die Redaktionsräume und den situation room bei CNN zu sehen,
— einen dicken Stapel Infobroschüren vom charismatischen Vorsitzenden der National Association for the Advancement of Coloured People, Hilary Shelton,
— einen tollen Blick auf das Capitol vom Rohbau des bald fertigen „Newseums“,
— vom Pew Forum on Religion and Public Life erklärt, warum die Amerikaner niemals einen nicht-gläubigen Kandidaten zum Präsidenten wählen würden,
— eine Ahnung davon, was Lobbyismus in den USA tatsächlich bedeutet. Völlig offen und stolz präsentieren uns die distinguierten Herren von der Heritage Foundation, wie sie es schaffen, ihre Themen in die Medien zu bringen. Konservativ heißt: „Wir sind für Freiheit, Wohlstand und Chancen — und immer gegen die Lösungen, die vom Staat kommen.“ Sogar ein eigenes kleines TV-Studio steht zur Verfügung, wo man selbst und ganz schnell die konservativen O-Töne produziert und den jeweiligen Sendern anbietet (ich habe übrigens zwei Tage später tatsächlich jemanden vor dieser Pappbücherwand der Heritage Foundation in den News gesehen).
— einen Tag frei, der für Museumsbesuche genutzt wird. Eine unglaubliche Sammlung finde ich in der National Gallery of Art — und alles ohne Eintritt zu zahlen, weil privat finanziert.
Austin, Texas
Es wird wärmer, aber der Himmel ist bewölkt. Wir besuchen die zweitgrößte Uni der USA im zweitgrößten Staat der USA. David, unser Host, ist stolz darauf. Unser erstes Seminar: „Gender Studies“. Es geht um eine Anzeigenkampagne einer Modefirma, die eine Frau in einer quasi-Vergewaltigungsszene zeigt. Provokation? Kunst? Frauendiskriminierung? Die Diskussion mit den Studentinnen läuft schleppend. So richtig kann sich darüber keine der Studentinnen aufregen. „OK, wie sieht’s denn in Deutschland mit Frauen in Führungspositionen aus?“, will die Professorin von uns wissen. Die Studentinnen sind ziemlich erstaunt über die deutsche Regelung der Elternzeit und wundern sich sehr, dass wir (Frauen in Deutschland) nicht mehr Kinder bekommen. In den USA bekommt jede Frau sechs Wochen Mutterschutz — ob vor oder nach der Geburt, kann sie sich aussuchen.
Richtig komfortabel ist das Studio des Studentenfernsehens ausgestattet. Hier wird ein wöchentliches Magazin produziert. Jeder macht abwechselnd jeden Job — Kamera, Regie, Moderation, CvD — Journalistenausbildung ganz praktisch. Das dauert dann auch nicht so lang: mit 22 Jahren ist man locker mit dem Studium fertig. Ein Thema im Studentenmagazin: Recycling. Immerhin. Denn hier wie überall trinken alle aus Pappbechern und essen von Einweggeschirr.
Ganz wichtig in Austin: die Studenten zeigen auch mit und in ihrer Kleidung Flagge, besser gesagt, Hörner. Das Longhorn — Wahrzeichen von Texas — findet sich auf fast allen T- und Sweatshirts, kurzen Hosen und Flip-Flops. Und an allen Bushaltestellen. Das Longhorn kann man auch aus Zeige- und kleinem Finger formen und dann beim Rodeo, beim Baseball und überhaupt als Unterstützung des Schlachtrufs „Longhorn go“ nutzen. Ich mache auch mit, beim Baseball samstagsnachmittags in der Sonne, nur wann — da muss ich auf die anderen achten. Die Baseball-Regeln versteht man wohl erst nach Jahren.
Fort Meyers, Florida
Aaah, es ist heiß und der Himmel ist blau! Normalerweise. Nur nicht gerade in Lehigh Acres an diesem Morgen: Mit Amy Wegmann stehe ich in grauem Dunst und beißendem Rauch am Rande des ersten Buschfeuers in diesem Jahr in Fort Meyers. Rund 30 mal ist Amy heute in der Morgenshow auf Sendung. Alles ging rasend schnell: am Vortag waren wir gerade beim Dreh der spannenden Reportage, warum die Mülltüten einer Baustelle immer in die Gärten der Anwohner flogen, als die Nachricht des Buschfeuers eintraf. In Windeseile war eine Reporterin am Einsatzort. Minuten später traf der kleine Ü-Wagen von Fox ein, fast zeitgleich mit vier anderen Ü-Wagen und Reportern der anderen Sender. Im Studio bei Fox wurde das laufende Programm unterbrochen und sofort zum Buschfeuer geschaltet. x mal. Genauso häufig gab der Wetter-Moderator einen Überblick über die neuesten Temperaturen und Aussichten. Bis elf Uhr abends berichten Anchorman Patrick Nolan und sein Team über das Feuer.
Bei Tagesanbruch ist vor Ort alles schwarz und es qualmt noch. Amy berichtet auch über die Heldentaten der Feuerwehrleute — die großen roten LKW haben alle den Aufkleber: „We always remember 9th of September“. Am Ende der Morgensendung findet Amy noch eine Bewohnerin, deren Haus vom Nachbarn durch schnelles Löschen gerettet wurde. „He’s my hero“ sagt sie in die Kamera. Und ihr Sohn hatte Geburtstag. Superstory! Zurück im Sender ist der Beitrag ganz schnell gemacht: Amy sucht die O-Töne heraus, bastelt einen Text drumherum und spricht ihn auf eine Kassette. Dann drückt sie alles dem Kameramann in die Hand. Der schneidet den Beitrag fertig. Amy geht nach Hause, sie ist seit drei Uhr morgens auf den Beinen und jetzt ist es Mittag. Da sie auch die Morgensendung moderiert, ist sie es gewohnt, früh aufzustehen. Seit zwei Jahren macht sie das schon und ist doch erst 25 Jahre alt.
Thema Nummer Eins der regionalen Sender: das Wetter und Geschichten aus der Nachbarschaft oder aus dem Gericht — in den USA darf man auch während der Verhandlung drehen. Ein unerschöpflicher Quell für kleine und große Beiträge sind die Bilder der fast überall vorhandenen Überwachungskameras: wenn ein Mann eine ältere Dame am Bankautomaten überfällt, wenn Jugendliche zum dritten Mal einen Zaun eintreten oder Unfälle im Straßenverkehr aus der Luft gedreht werden. Gezeigt wird im Fernsehen alles. Eine Diskussion über das Recht am eigenen Bild findet nicht statt.
New York — New York
Der Frühling hat sich nur kurz gezeigt. Es ist kalt, knapp über Null. Aber der Himmel ist blau! Und wir haben wieder ein volles Programm. Bewegend und beeindruckend: Ground Zero. Kühl und fast emotionslos: einer der Architekten, der die neuen Türme auf Ground Zero plant. Wir wollen mehr über seine Gefühle bei diesem Job wissen, doch seine Antwort: „Ich bin hier nur der Architekt.“
Das komplette Gegenteil ist Rachel, Lehrerin an der Hoboken High School, die sich mit sehr viel Gefühl und Engagement für ihre Schüler einsetzt. Fast jeder der Schüler hat einen Migrantenhintergrund, einige der 17- bis 18jährigen Mädchen sind schon (mehrfach) Mutter. Nach der Schule wollen sie Automechaniker werden, zur Polizei oder zur Feuerwehr. Einer der Jungen hat sich schon fürs Militär verpflichtet. Und was ist, wenn er in den Irak muss? „I want to fight for my country!“ Und dann wird die Diskussion lebhafter: Einer erzählt von seinem Verwandten, der gerade aus dem Irak-Krieg zurückgekommen ist und jetzt bei jedem Türenknallen zusammenzuckt. Ja sicher, sagen sie, der Krieg ist schlimm. Aber: von ihrer Highschool aus haben sie den Rauch der brennenden Twin Towers sehen können. Der Irak-Krieg ist überall präsent — immer das erste Thema in den Nachrichten, ganz oft sehe ich Plakate mit „We support our troups“. Fast einhellige Meinung auch hier bei den Schülern: Wir können jetzt — zu diesem Zeitpunkt — nicht einfach den Irak verlassen. Wie es weitergehen soll — darüber machen sich sehr viele große Sorgen. Ob sie 2008 wählen gehen, wollen wir wissen. Die meisten der Schüler reagieren mit Schulterzucken.
Staatliche Gelder für Schulen sind knapp. In New York hat sich daher „donor’s choose.org“ gegründet, eine Internetplatform, die wie ein Schwarzes Brett funktioniert: Lehrer erläutern ihre Projekte und finden so Unterstützer. Die Nutzungsgebühren sind zwar gering, aber donor’s choose wird schon bald schwarze Zahlen schreiben. Wir besuchen die kleinen Büroräume, in denen sich die Kisten mit den Dankschreiben der Schüler stapeln. Genauso ungewöhnlich: BCAT, Brooklyn Community Access Television. BCAT ist verpflichtet, jeden Film, jedes Video, das ein gemeldeter Einwohner von Brooklyn vorbeibringt, auch zu senden. Egal, welchen Inhalts. Und das in den USA, die aus Angst vor weiteren „Nipplegates“ zeitversetzt live senden! Aber: BCAT kommt über Kabel, und dafür muss man zahlen, kann also selbst bestimmen, ob man es sehen möchte oder nicht! Logisch, oder?
Was man alles darf und was nicht in den USA und was man alles kann, wenn man will: ein wenig bin ich jetzt schlauer. Es waren vier wunderbare, intensive und lohnende Wochen mit viel, viel Input!
———
Nadja M. Malak, Mitteldeutscher Rundfunk
„No pans, no zooms.“ Ich saß gerade in einem Seminarraum der Arizona State University und staunte Bauklötze. Erklärte doch gerade der Professor seiner Klasse für Fernsehreporter, dass Schwenks und Kamerafahrten nichts in den Beiträgen zu suchen haben. Für ihn und seine Studenten gibt es nur drei Einstellungen: Totale, Halbtotale und Close. Anscheinend möchten nur noch junge Frauen Fernsehreporter werden, denn dieser Unterricht ist eine rein weibliche Angelegenheit. Und alle jungen Damen in dem Kurs sehen sich irgendwie ähnlich. Klamotten in Richtung äußerst leger bis hin zur Jogginghose, dafür aber reichlich geschminkt. Klar, sie wollen schließlich alle vor die Kamera. Wie die Beiträge ohne Schwenks und Kamerafahrten aussehen, bekamen wir dann auch zu sehen. Der Professor hatte ein paar Beispiele der letzen Hausarbeit herausgepickt. Das erste war unfreiwillig komisch. Ich versuchte, mir das Lachen zu verkneifen, als die junge angehende Reporterin sich nach ihrem Aufsager wegbeamte, denn der zweite Schnitt zeigte die gleiche Kameraeinstellung, diesmal allerdings mit einem freien Blick auf die Häuserzeile.
Die Uni-Woche in Arizona war unsere zweite Station. Zuvor waren wir in der Zwölfergruppe durch Washington DC gezogen. Von einem Termin zum anderen. Insgesamt hatten wir — so wurde peinlichst genau nachgezählt — 18 Verabredungen in der U.S.-Hauptstadt. Vom Besuch des State Departments bis zur Dinnereinladung bei einem RIAS-Fellow in Bethesda. Ähnlich oft hatten wir uns auch unseren Gesprächspartnern vorgestellt. Jeder hatte da so seine kleinen Eigenheiten und am Ende der Woche kannten wir die so gut, dass wir viel Spaß in einer Bar hatten, als wir uns gegenseitig pantomimisch „vorgestellt“ haben.
In unserer Uniwoche hatte ich dann auch die Gelegenheit, die erste Woche ein wenig aufzuarbeiten, Unterlagen, die wir erhalten hatten, zu sichten und zu sortieren. Da erst wurde mir klar, wie gut durchdacht die Zusammensetzung der Termine war. Auf einen Termin an der Uni freuten wir uns besonders. Bill Silcock oder Dr. Bill, wie er von seinen Studenten genannt wird, hatte uns in seine Radioklasse eingeladen. Einmal in der Woche erstellt die Radioklasse eine eigene aktuelle Nachrichtensendung und wir sollten mit den Studenten in der Vorbereitung arbeiten und dann in der Sendung interviewt werden. Drei gestandene deutsche Journalistinnen mit einigen Jahren Berufserfahrung wurden plötzlich ganz fahrig. Das mit dem Nachrichten schreiben war wirklich nur Handwerk, aber das Interview drohte uns noch. Jeder von uns sollte zu einem Themenkomplex befragt werden, und insgesamt vier Minuten sollte das Ganze lang sein. Ich war selten so nervös in meiner Karriere, kurz vor dem Interview habe ich mich dann in eine Ecke verdrückt, um mir meine Antworten zu überlegen, die ich dann natürlich so gar nicht anbringen konnte, weil der Student, der das Interview führte, Zwischenfragen stellte. Also, alles überhaupt kein Problem, und wir drei Mädels mussten über uns und unsere Nervosität selbst lachen. Zumal wir später beim Mittagessen von unserer Lunchbekanntschaft erfahren haben, dass sich kein Mensch das Radioprogramm der ASU anhört. Schade eigentlich.
Uns wurde die Möglichkeit gegeben, zwei Tage durch das Land zu reisen. Wir wollten nach Las Vegas und anschließend zum Grand Canyon. Entspannend war der Trip nicht wirklich, da wir unendliche Stunden im Auto verbracht haben, aber spannend war er. Größer könnten die Gegensätze gar nicht sein. Diese absolute Künstlichkeit, die Dauerberieselung durch Licht und Musik, die Hektik und der Lärm in den Spielhallen in Las Vegas und dann Natur pur am Grand Canyon. Ein Naturwunder, das durch stetig fließendes Wasser in unendlich langer Zeit entstanden ist. Da habe ich dann auch den Sinnspruch „stetes Wasser höhlt den Stein“ verstanden. Auch temperaturmäßig haben wir lernen müssen, dass man in dieser Gegend auf alles vorbereitet sein muss. Bei sommerlichen 25 Grad fuhren wir in Las Vegas los und kamen am frühen Abend bei Schneeregen am Grand Canyon an.
Auf die dritte Woche des Programms, die Stationswoche in Los Angeles, habe ich mich eigentlich am meisten gefreut. Doch das Ganze stand unter keinem besonders guten Vorzeichen. Alles begann sehr vielversprechend. Schon Wochen vor der Abreise hat mein Host Kaci, eine freie Journalistin, die für Radio und Fernsehen arbeitet, Kontakt aufgenommen. Bis zur Abreise hatten wir dann diverse Male hin und her gemailt. Alles schien klar: Am Ankunftstag wird es ein Welcome Dinner geben und dann werde ich sie eine Woche lang begleiten. Dann kam alles ganz anders. Kaci hatte einen neuen Job in einer anderen Stadt und ich keinen Host.
Jon Ebinger hatte neben dem normalen Programm einiges zu tun, um für mich innerhalb kürzester Zeit einen Host in LA zu finden. Klar, dass er es geschafft hat, und der Ersatz ließ sich sehen. Das CNN-Büro Los Angeles. So fand ich mich dann also in der dritten Woche am Sunset Boulevard wieder. Mein Host hieß Carey, eine sehr patente Producerin, die so schnell nichts aus der Ruhe bringen konnte, außer der Ruhe selbst. Denn es war die langweiligste Woche in der Geschichte des CNN-Büros LA, so Carey. Also wirbelte sie herum und organisierte zum Beispiel, dass ich bei der Produktion von Larry King dabei sein konnte oder arrangierte ein Treffen mit Kollegen in einem wunderbaren Seafood-Restaurant. Ich fand es aber auch recht interessant, mit den Cuttern über ihre Arbeit zu sprechen oder mit anderen Kollegen Themen zu diskutieren, die sie der Zentrale in Atlanta anbieten wollten. Und dann gab es da ja auch noch Sebastian, den deutschen Praktikanten. Journalistikstudium in den USA, Praktikum bei CNN und dann Durchstarten in Deutschland, so sein Plan. Da waren wir wieder bei „Pans and zoom“, die — so hatte auch er gelernt — in Nachrichtenbeiträgen nicht stattfinden. Hatte ich doch gerade erst bei CNN feststellen können, dass Fernsehbeiträge in den USA durchaus abwechslungsreich geschnitten sind, musste ich also dem deutschen Praktikanten am anderen Ende der Welt klarmachen, wie Fernsehen in Deutschland funktioniert. Vier Tage bei CNN in Los Angeles waren viel zu kurz. Und das obwohl die Nachrichtenlage mau war.
Vier Wochen RIAS-Programm gingen auch viel zu schnell vorbei. Ich durfte viele spannende Menschen kennenlernen. Allen voran die Mitglieder unserer ziemlich genialen Gruppe und die RIAS-Fellows. Ich bin in ein Land gereist, das ich glaubte, doch ein wenig zu kennen, und wurde sehr überrascht. Positiv überrascht. Nach diesen vier Wochen sehe ich die USA zum Teil mit anderen Augen. Ich habe viel Neues gelernt. Es haben sich aber auch viele Fragen aufgeworfen. Wie zum Beispiel: Warum lieben die Amerikaner Plastik so sehr? Und: Warum bekommt man in New Yorker Supermärkten nur Weinprodukte vom Chateau Diana?
———
Annett Meltschack, Mitteldeutscher Rundfunk
„Also, ich kam von der Arbeit und war noch schnell einkaufen. Mit meinen ganzen Unterlagen unterm Arm, dem Kaffee in der Hand und den Chipstüten in der anderen balanciere ich zum Auto. Da kommt dieser Obdachlose auf mich zu. Ob ich einen Dollar hätte für was zu essen. Gerade nicht, sag ich, aber hören Sie mal, ich hab eh zu viel eingekauft, warum nehmen sie nicht die Chips hier? Gott im Himmel! ruft da der Mann. Chips! Wissen Sie nicht, wie viel Fett da drin ist?!” Judy Muller, Professorin, University of Southern California, Los Angeles
Genau so funktioniert dieses Land. Jeder weiß Bescheid. Jeder ist informiert, jeder hat etwas mitzuteilen. Alle haben irgendwie den Wunsch zu helfen oder aufzuklären. Vor tausenden Anhängern einer Wahlkampfparty, vor einer Kamera, wenn gerade das Nachbargrundstück abbrennt, in der kleinen Ecke des teuren Hotels, wo sich regelmäßig bekannte Lobbyisten treffen oder einfach an irgendeiner Straßenecke. Viel erfährt der Reisende, wenn er erst mal drin ist im Land.
Das allerdings ist die erste Hürde. Meine Schlange am Immigrationsschalter war lang und aufgebracht. „Back to the line!“, ruft der Officer. Er steht mit breiten Beinen, die Hand lässig über der Waffe. Ich bin neun Stunden geflogen und brauche nur noch frische Luft. Die Behörde braucht meine Fingerabdrücke und einen Netzhautscan. Wer weiß, vielleicht sitze ich ja schon am ersten Abend in Amerika zwischen den indischen Kellnern im italienischen Restaurant neben einem Tisch afghanischer Terroristen. Aber bei der Immigration, sagt da mein Washingtoner Vordermann in der Warteschlange, sollte ich solche Themen besser nicht ansprechen. Er habe unbescholtene Bürger gesehen, die wurden rundheraus wieder heim geschickt, weil sie beim Anstehen Worte wie „Terrorist“ in den Mund genommen hatten. Das ist die erste Information, die ich in Amerika bekomme. Von da an hört der Informationsstrom nicht mehr auf. In Meetings in Washington und New York, in Vorlesungen an der University of Southern California in Los Angeles, bei der Arbeit in meiner Station CBS Television Denver.
Im progressiven Brookings Institut informiert man uns darüber, dass Amerika sich verändern wird. Das große Thema Terrorgefahr wird abgelöst werden durch das große Thema Gefahr durch die Klimaveränderung. „Unser Präsident“, spricht Bruce Katz, der Vizechef des Instituts, „hat vor einer Woche bemerkt, dass es ein Global Warming gibt. Immerhin. Aber wissen Sie, wenn die Amerikaner etwas tun, dann richtig. Und nun haben die Industrien bemerkt: Heh! Mit innovativen Umwelttechnologien kann man richtig Geld machen. Also wird das hier ganz groß rauskommen.“ Als ich später bei einer Redaktionskonferenz im CBS Denver sitze, wird das Thema abgewählt. Denver will eine grüne Stadt werden. „Hör bloß auf“, sagt die Nachrichtenchefin. „Ich kann diese ganzen grünen Themen echt nicht mehr hören. Ist sowieso alles bald wieder durch.“
Die meisten kümmern sich ohnehin um andere Belange. Von der Afroamerikanervertretung erfahren wir, dass es immer noch zu viele farbige Kriminelle und zu wenige in Führungspositionen gibt. Eine Redakteurin der Zeitschrift „Hispanic Link“ klärt uns über die zahlenmäßig stärkste Minderheit in der USA auf, die Latinos. „Noch sind sie sich ihrer Macht nicht bewusst. Aber das wird sich ändern.“ Das Jewish Committee in New York City ist für den Weltfrieden, die deutsche Botschaft in Washington auch. Die konservative Heritage Foundation sucht für die nächste Präsidentschaft 2008 einen charismatischen Führer. Die Nachrichtenredakteure von CNN und dem National Public Radio sind sich einig, dass sowieso Obama oder Clinton gewinnen. Die Washingtoner Indianervertretung kann berichten, dass ihr im Kongress ein großer Erfolg gelungen ist. Sie hat Gehör im Kampf gegen eine Droge mit irgendeinem skurrilen Namen gefunden. Keiner der zwölf anwesenden deutschen Journalisten weiß ansatzweise, worum es geht. Also fragen wir uns ins Thema ein. Wieso gibt dieses Zeug offensichtlich so massenweise in den Reservaten? Was machen die Indianer denn dort überhaupt und wie ist so ein Reservat verwaltet? Die Meetings werden länger und spannender.
„Schön“, sagt ein deutscher Zuhörer in L.A. „Schön, endlich mal wieder die deutsche Frage- und Antwortkultur zu genießen. Ihr seid so direkt auf den Punkt. Hier wird endlos gefloskelt.“ Zu diesem Zeitpunkt sitzt die L.A.-Gruppe — inzwischen zu dritt — in der Roundtablediskussion der kommunikationswissenschaftlichen Fakultät der University of Southern California. Wir wussten nun schon einiges über die Staaten, jetzt war Wissen über die Deutschen gefragt. Im Podium drei deutsche Journalisten, im Auditorium Studenten, Professoren, Freunde der Fakultät und Gasthörer aus der Nachbarschaft. „Ihr müsst Euch nicht vorbereiten“, hatte der leitende Professor gesagt. „Einfach frei vom Herzen weg.“ Aber dann: Wie viele Deutsche stehen hinter der EU? Wie werden Minderheiten in Deutschland integriert? Wieviel Prozent Türkischstämmige leben in der Bundesrepublik? In der wievielten Generation? Wieviel Prozent sind es in Berlin? Ein Hörer wirft ein: 30 Prozent. Sein Sohn sei in Berlin stationiert gewesen. Er habe gesagt, es gäbe mindestens ein Drittel Türken. Wir kommen ins Stocken. Sollen wir streiten? Mit wem? Was wissen wir eigentlich über unser Land? Das Auditorium aber ist zufrieden. Viele bleiben noch, wollen privat ins Gespräch kommen. „Deutschland ist toll.“ „Ich kenne München.“ „Ich will da unbedingt noch mal hin.“ „Klasse!“, der Professor klopft uns auf die Schulter. Wir sind irgendwie erschlagen. Im Fragenstellen waren wir besser.
Aber es gibt einen Lichtblick. Eine Vorlesung bei Robert Zemeckis. Doch der Regisseur von „Zurück in die Zukunft“ und „Forrest Gump“ spricht wenig auf seinem hochbeinigen Regiestuhl im abgedunkelten Seminarraum, in dem die Studenten seine Erfindung studieren: Motion Capture. „Oh, shit Bobby!“ der Dozent hätte Zemeckis fast verpasst, als der das „Robert Zemeckis Center for Digital Arts“ der Universität betrat in zerbeulten Jeans und ausgeblichenem Hemd. „Hi“, sagt er zu uns und erkundigt sich noch kurz, wo Leipzig liegt. Dann geht das Licht aus, und er sagt nur noch „Good“ oder gar nichts zu den Filmen seiner Studenten. Schade, von ihm hätten wir gern mehr gehört. Aber vielleicht reicht es ja, dass er der Schule jedes Jahr Millionen spendet. Sicher nicht schlecht für seinen Namen. Möglich aber, dass er ein wirkliches Interesse daran hat, dass es der Filmschule gut geht.
Es ist wohl überhaupt eine Mischung aus beidem, die die Freigiebigkeit ins öffentliche Leben der Amerikaner trägt. Donation heißt das Zauberwort. Museen, Gebäude, Arbeitsmittel, Kunst im öffentlichen Raum — praktisch alles hat irgend jemand gestiftet. Einer, der hier durch Geschäfte zu Geld gekommen ist, so wird uns berichtet, spendet wieder. Und das wiederum wird selbst zum Geschäft. In New York besuchen wir „Doner´s Choose“. Der Sprecher erklärt uns, er habe genug Geld verdient. Jetzt könne er Gutes tun. Er ist vielleicht Anfang Dreißig. „Doner´s Choose“ ist ein Internethandelsplatz, an dem Lehrer eintragen können, was sie in der Schule brauchen, und die Leser spenden dann, wenn sie wollen. 50 Dollar oder 50.000. Ganz egal. Die Internetseite wurde als eine der innovativsten des Landes ausgezeichnet. Amazon gab eine halbe Millionen Dollar. Jetzt arbeiten 30 Leute landesweit für „Doner´s Choose“. Die Betreiber denken daran, die Seite auch im Ausland zu etablieren.
„Wenn die Amerikaner etwas tun, dann richtig“, hatte Bruce Katz in Washington gesagt. Darauf war Verlass. Nicht anders in den Medien. Nicht anders bei CBS Denver. Bereits die ersten 10 Minuten dort zeigen klar, dass es nur um eines geht: Machen. Machen. Machen. Der kleine Sender hat 6 Übertragungswagen. Mindestens drei davon sind immer im Einsatz: live von der Unfallstelle, direkt vom Tatort, vor der Feuerwehr, neben der abgebrannten Fabrik. Die guten Nachrichten kommen im Wetterteil. Live-Wetter allein in einer Sendung zweimal. „Das wollen die Leute sehen“, sagt mein Betreuer Jason. Wer nicht auf dem Übertragungswagen sitzt, arbeitet im Sender mit Hochdruck. Der Reporter geht gar nicht erst mit in den Schnitt. Da muss der Cutter alleine klarkommen. In der Regel hat er ja ohnehin das Material auch schon selbst gedreht. Der Reporter ist nach dem Texten mit dem Beitrag fertig und stürzt sich in das nächste Thema. Kommt ein O-Ton in letzter Sekunde — er geht auf Sendung. Auch wenn dann eben bei Tony Blairs letzten Sätzen der Ton fehlt. Hauptsache, wir hatten ihn drin. Sendeauswertung? Gibt es nicht. Vorbei ist vorbei. Die nächste Sendung wartet. Der nächste Unfall, der nächste Brand. Als ich selbst für einen Beitrag als Reporterin unterwegs bin, merke ich: diese Dynamik steckt an.
Die Aufgabe des Privatfernsehens sei es, sagt eine Moderatorin, „to scare people to death!“ Gegen solche Medieninhalte will Greg Sutton im Brooklyn Community Television antreten, einem offenen Kanal. Stadtteilfernsehen in New York City. „Kein Wunder, dass alle Menschen nur negativ denken. Wenn ich einen Unfall sende, dann nur, um zu zeigen, wie wir die Kreuzung in Zukunft sicherer machen.“ Er und seine Mitarbeiter suchen die good news: Kindergartenparties, Hundebabies, Wahrsagerin mit Katze. Stundenlang laufen hier die Bänder, die Brooklyner Zuschauer einsenden. „Unzensiert. Die Medien sind doch frei.“ Einmal hat ein Mann auf einem Videoband toten Tieren die Beine abgesägt. Brooklyn Community Television hat das gesendet. Wir lernen, dass zwar im terrestrischen Fernsehen Janet Jacksons nackte Brust ein Skandal ist, im Kabelfernsehen nachts aber auch zersägte Tiere gesendet werden. „Hier gelten andere Gesetze. Kabelfernsehen müssen die Zuschauer ja bewusst abonnieren. Damit tragen Sie selber viel Verantwortung.“
Die Gruppe aus zwölf deutschen Journalisten staunt — wieder einmal — über eine der unzähligen Informationen, die wir in den letzten Wochen gehortet haben. Was für ein Land! Was für eine Erfahrung! Nach vier Wochen Amerika sind wir übervoll von Neuem, Spannendem, Sonderbarem, von traurigen und netten Begebenheiten, von Begegnungen, Typen, Geschichten. Wir sind glücklich. Jetzt wissen wir Bescheid, jetzt sind wir informiert, jetzt haben wir jede Menge mitzuteilen.
———
Nina-Yvonne Michalk, Hessischer Rundfunk
Das Land der vielen Grenzen
Vier Wochen weg! Ab ins freie Land der unbegrenzten Möglichkeiten, raus aus dem Land, das bei vielen Angelsachsen für „Rasen-betreten-verboten“-Schilder und der strengen Aufforderung „Ausweis, bitte!“ bekannt ist. Pah! Von wegen: Kaum war ich in Los Angeles angekommen, an den endlos langen Stränden entlang des Pacific Coast Highways, begrüßt mich doch beim ersten Stopp gleich ein ganzer Verbotsschilderwald:
„Pack it in — Pack it out: no garbage collection in this area“. „No fires on beach“. „No diving“. „No dogs“. „No alcohol“. Eingeschüchtert schleiche ich zum Strand und frage mich, ob ich hier jetzt wirklich eine Zigarette rauchen darf.
Wie oft ich in Amerika dann noch der harschen Aufforderung „Ausweis, bitte!“ nachkommen musste, habe ich nicht gezählt. Aber spätestens seit 9/11 gehört Kontrollieren zum guten Ton. Schon verständlich, aber auch irgendwie hysterisch. Ich habe es symbolisch genommen: Wir passen auf! Wie lassen uns nicht noch mal überfallen! Und wir merken nur bei jeder 10. Kontrolle, dass ihr Pump-Deo „Bio-Zaubernuß + Limette“ eine riesige Gefahr darstellt und nebst bedrohlichen Keksen mit Schokoladenstücken im riesigen Mülleimer entsorgt werden muss.
Aber das ist natürlich nicht die einzige Erinnerung, die ich von 28 Tagen USA und unzähligen Programmpunkten in Washington, Phoenix, Las Vegas, dem Grand Canyon, Los Angeles und New York mitgebracht habe. 900 Fotos später dachte ich: Ja, auch vier Wochen sind zu kurz und jetzt erst weiß ich, was ich alles noch nicht fotografiert habe. Und so wird mir dann auch eines klar: Nur wer Zeit hat, kann sich bilden. Heißt: ich verstehe, warum der Blick vieler Amerikaner selten über den Tellerrand schweift. Zwei Wochen Urlaub fürs ganze Jahr sind eben zu wenig. Wie oder besser wann soll man sich dann nur die Welt anschauen???
Das Land des grenzenlosen Denkens
Wie schwierig es ist, sich in seinem Land abzugrenzen, egal, wie clever die Einwanderungspolitik ist, haben wir bei einem der vielen amerikanischen Think Tanks gelernt. Rein demographisch werden die europastämmigen Amerikaner langsam, aber sicher in die Ecke gedrängt. Nach einer neuen Studie des Brookings Institute besteht ihre Mehrheit „nur noch“ aus 48%. Grund: die Hispanics nehmen mehr Raum ein. Es leben mittlerweile mehr Südamerikaner in den Staaten als African Americans, und weil sie so geburtsfreudig sind, werden es immer mehr. Offenbar nimmt damit auch der Rassismus unter den beiden Gruppen zu. Mittlerweile machen die Hispanics die billigsten Jobs, die von Schwarzen abgelehnt werden. Auf den Erdbeerfeldern vor Los Angeles konnte ich das gut beobachten. Nur Hispanics. Bei uns wären sie wohl die Nummer eins Spargelstecher.
Apropos Think Tanks. Wohin wir auch kamen, fast jeder hat sich kurz für Präsident Bush entschuldigt. „The worst president ever“ — aber das haben wir ja schon gewusst. Ansonsten kamen Themen wie der Irakkrieg selten auf den Tisch. In Amerika konzentriert man sich auf den neuen Wahlkampf, der ja so früh angefangen hat wie nie zuvor. Aber vielleicht liegt es auch an der amerikanischen Art, vor allem nach vorne und selten zurückzublicken. Pam Benson, CNN-Redakteurin und RIAS-Alumni, hat uns erklärt, dass sie damals wirklich ganz ehrlich dachten, im Irak seien Massenvernichtungswaffen versteckt. Heute, nein, heute denken sie das nicht mehr. Denn: heute ist eben heute und was kümmert mich mein Geschwätz von gestern.
Das Land des grenzenlosen Lobbying
Selbst einer der konservativen Think Tanks, die Heritage Foundation, hat keine guten Worte über Präsident Bush finden können. Er und die jetzige Regierung seien nicht konservativ genug und überhaupt, konservativ und Republikaner sein sei nicht dasselbe. Auch die Demokraten stünden für konservative Werte. Dennoch mussten Lee Edwards und James Weidman, die zusammen etwas von Statler und Waldorf aus der Muppets Show hatten, zugeben, dass Lobbying einfacher ist als Politik machen, da der Think Tank getrost die Befindlichkeiten der Wähler vernachlässigen kann.
Beeindruckend am Beispiel der Heritage Foundation war zu erfahren, wie Lobbying funktioniert. Wer gehört und wahrgenommen werden will, muss nicht nur viel Geld für Studien und Publikationen haben, neben der Regierung in Washington sitzen, „hob nobbing“ mit den einflussreichsten Personen betreiben, sondern nah an den Medien sein. Im unteren Stockwerk der gediegenen, holzvertäfelten Zentrale in Washington befindet sich ein hervorragend ausgestattetes Radio- und Fernsehstudio: Allzeit bereit, einen konservativen Experten zu Wort kommen zu lassen.
Das Land des „human interest“
Die Ausbildung zum Journalisten findet in Amerika an der Uni statt: Viel Praxis, wenig Theorie und vor allem — viele Frauen. Professor Craig Allen von der Arizona State University erklärte uns, dass Journalisten in Amerika immer schlechter bezahlt werden und sich die Männer deshalb langsam aus dem Business rausziehen. Na toll. Überhaupt sei der Markt für Radio- und Fernsehstationen in den USA schwierig. Jeder, auch die großen bekannten Stationen wie CBS, NBC oder CNN erreichten nur wenige Zuschauer. Der Markt ist also viel zersplitterter als bei uns und die meisten Amerikaner fühlen sich keinem Programm wirklich verbunden. Und so versuchen dann die meisten Sender, mit leichtverdaulichen Klatsch- und Tratschthemen Kunden anzulocken. Auch wenn ich nachvollziehen kann, wie und warum sich die Berichterstattung hin zum „human interest“ entwickelt: CNN hat mich in der Zeit doch auch zum Lachen gebracht.
Breaking News:
In North Carolina war vier Tage lang ein Pfadfinder vermisst worden. Schließlich wurde der Junge lebend, aber verkühlt und hungrig im Wald entdeckt (einer seiner ersten Sätze: „Ich will aber mit dem Hubschrauber heimgeflogen werden“ — auch noch Ansprüche!). Grund für sein Verschwinden war Heimweh. Deshalb hatte er kurzerhand die anderen Pfadfinderkollegen hinter sich gelassen und auf dem Nachhauseweg durch den Wald den Pfad verloren. Bevor aber diese bewegenden Hintergründe des Top-Themas ans Tageslicht kamen, musste CNN viele Sendeplätze füllen. Und so wurde in Endlosschleife der Hund gefeiert, der den 12-jährigen erschnuppert hatte. Gandalf hieß der große Schwarze. Auch seine Besitzerin kam in den Genuss, oft und lang im Fernsehen zu erscheinen. Minutiös beschrieb sie, wie Gandalf auf einmal die Spur des Pfadfinders aufnahm und alle hinter ihm her rannten und schließlich — Alas! — den Jungen fanden. Mich hatte es schon gewundert, dass nicht noch Gandalfs Eltern („reinrassig und aus mittelständischen Verhältnissen“) und sein kompletter Lebenslauf („Wie ich zur Rettungsstaffel kam“) beschrieben wurden.
Mein Gott, aber was schimpfe ich. Statt groß, schwarz und puschelig hatten wir hier ja klein, weiß und knuddelig. Knut hat es tatsächlich auch über den großen Teich geschafft. Der Eisbär erwärmt nicht nur die deutschen Herzen. „human touch sells!“.
Das Land des freien Nischenradios
Umso erstaunter war ich, als ich in unserer dritten Woche in meiner Radiostation in Los Angeles ankam. Ausgerechnet in der Tratsch- und Klatschspaltenstadt lerne ich ein National Public Radio (NPR) kennen, das öffentlich-rechtlicher nicht sein kann. Richtig „old school“! Bei KPCC wird hauptsächlich Wort gesendet mit viel Hintergrund, selbst recherchierten Geschichten, viel Service und regionaler Berichterstattung. Das Thema „Anna Nicole Smith“ hatten sie zum Beispiel geflissentlich ignoriert. „Das feiern die kommerziellen Sender“. Große Angst vor Konkurrenten haben sie dort jedenfalls nicht. Offenbar liegt es gerade an der Konkurrenzsituation. Der Markt ist so fragmentiert, dass die Sender ihre Nischen und Spender finden. Sie sind dort auf jeden Fall sehr selbstbewusst und fürchten auch die Konkurrenz durchs Internet wenig. Vor allem in Los Angeles, habe ich mir sagen lassen, seien so viele Menschen auf den 12-spurigen Autobahnen unterwegs, dass alle morgens im Auto Radio hörten.
Mein Host Susan ist auf jeden Fall sehr glücklich, bei KPCC zu arbeiten. Ihren Job findet sie aber hin und wieder sehr anstrengend. Meistens liegt es an den Wegen, die sie in und um L.A. bewältigen muss. Wenn sie es nicht mehr schafft, in einem der drei Büros zu produzieren, setzt sie sich einfach in ihren Kleiderschrank. Richtig gelesen: „her closet“. Schallisoliert zwischen Textilien nimmt sie ihre Texte mit dem Minidisc auf. Unter der Bettdecke klappt es auch, sagt sie. Die Aufnahmen schneidet Susan dann auf ihrem eigenen Computer und schickt sie über einen FTP-Server weg. Kein qualitativer Unterschied, meint sie. Und nicht, dass jetzt jemand denkt, KPCC hört sich an wie ein freies Radio aus der Gießkanne. Keineswegs!
Das Land der grenzenlosen Großzügigkeit
Diese lösungsorientierte Seite der Amerikaner ist uns auch in New York, der letzten Station unserer Reise, begegnet. „Donorschoose.org“ heißt eine gemeinnützige Organisation, die von einem verzweifelten Lehrer gegründet wurde. Ständig fehlten ihm Materialen, um ordentlichen Unterricht zu machen. Da kam ihm eine Idee. Er startete eine Online-Spendenorganisation für Lehrer. Wer Geld für ein Projekt braucht, sei es der Kauf von Laptops, ein Ausflug, der bilden soll, ein neuer Videorekorder für Unterrichtsfilme, bis hin zu günstigen Materialien wie Stifte, kann sich auf der Internetseite für Spenden bewerben. Wiederum alle anderen Menschen, die Lust haben Gutes zu tun, können sich ein Projekt aussuchen und es unterstützen.
Irgendwie ähnlich philanthropisch empfand ich auch die Lehrerin, die wir an der Hoboken High School in New Jersey besucht haben, eine Schule mit Security am Eingang (fehlte nur das Schild „Please hand in your weapons here“). Rachel Grygiel war selbst mal Journalistin beim Fernsehen und sattelte später noch um. Jetzt unterrichtet sie Schüler aller Nationalitäten, angefangen von jungen Frauen, die mit 18 schon ein Kind haben und nach der High School gleich das zweite bekommen, bis hin zu den „clever dicks“, die es schaffen, sich sozial zu verbessern. In Amerika müssen Schulabgänger übrigens für ihre Ausbildung zum Feuerwehrmann, Automechaniker oder zur Krankenschwester Schulgeld zahlen, denn auch hier findet die Ausbildung am College statt. ABER: es gibt unzählige „grants“, die von Firmen ausgeschrieben werden. Ergo: die freie Wirtschaft finanziert einen großen Teil des Ausbildungssystems.
Apropos Ausbildung: Mit 40 noch mal umsatteln? Auch etwas, das in Amerika gut funktioniert. In Deutschland ist da schon längst Schluss. Umso größer die Freude, als ich über die Voraussetzung für eine Bewerbung bei RIAS las, dass sich jeder bewerben darf, der „zwischen Mitte 20 und Mitte 40 (!) ist, aber den Großteil seiner journalistischen Karriere noch VOR sich hat“!
Fazit: Das Land der Gegensätze
Auch nach 28 Tagen Intensivkurs in Sachen Amerika hat sich mein Blick auf das Land kaum verändert. Dafür ist uns das Land, dessen Politik und Kultur uns so beeinflusst hat, wohl zu vertraut. Aber klar, die Einblicke gehen jetzt tiefer. Es bleibt für mich ein Land mit markanten Gegensätzen. „Tiefreligiös“, aber mit Wedding-Drive-Throughs in Las Vegas. Ein Land voll selbstbewusster Menschen, die beim Blick auf das alte, ihnen eher unbekannte Europa doch auch in Selbstzweifel geraten. Erfolglos hatte ich zum Beispiel versucht, mit der Mär aufzuräumen, wir sprächen hier alle vier Sprachen fließend. Ein Land voll Burger und klebriger Limo, aber mit Wasserspendern und frischen Früchten an jeder Ecke. Adipös und sportfanatisch, nicht-rauchend und an Autobahnen joggend. Neoliberal und allzeit hilfsbereit. Ein spannendes Land, in dem es viel zu sehen gibt.
Zum Rauchverbot im Marlboro-Land: Ich habe es zu schätzen gelernt! Denn: man gewöhnt sich ans Nichtrauchen. Der Vorteil ist aber auch wieder der Nachteil: nach einem gepflegten Kneipenabend stinken die Klamotten nicht mehr nach Qualm. Dafür — pardon me — stinkt es in der Kneipe öfter mal nach Mensch. Der hat dann doch die Angewohnheit, durch alle Öffnungen Düfte zu produzieren, die nicht mehr durch Rauch überdeckt werden. Ich habe mir sagen lassen, in Nichtraucher-Clubs rieche es mächtig nach Schweiß. Ein Aspekt, an den ich vorher nie gedacht hätte und auf den ich mich jetzt schon mal, Dank Amerika, einstellen kann!
———
Max Oppel, Freelancer
You don’t look German!
Der kleine, wacklige Flieger der Continental Airlines ist gestartet, Anschlussflug von Newark, NY nach Washington D.C. Der Himmel über Amerika strahlt wolkenlos blau, die Stewardess verteilt Erdnüsse. Zwei, drei, vier Packungen häufen sich auf meinem Tischchen. „Oh“, entschuldigt sie sich, „Look, you’re so cute that I don’t concentrate on what I do…where are you from?” “Germany.” “Oh, you don’t look German!” „I guess I take this for a compliment…?“ “Yes, you should!”. Sagt’s und bedient den nächsten Gast. So wohltuend freundlich und direkt können sie sein, die Amerikaner. Ein Eindruck, der sich während der vier RIAS-Wochen immer wieder bestätigt: Wildfremde Menschen entschuldigen sich, wenn ich ihnen auf den Fuß trete, Polizisten geben bereitwillig Auskunft, Busfahrer bedauern ein paar Minuten Verspätung.
Könnte ein Moslem U.S.-Präsident werden?
Washington. Eine steinerne Konstruktion aus Regierungsgebäuden und Denkmälern, Sichtachsen und Prachtstraßen. Wer etwas erreichen will in diesem Land, hat hier eine Vertretung. Gut für uns: Eine Woche lang besuchen wir Denkfabriken und Stiftungen, Lobbyisten, Minderheitenrechteorganisationen und Medienvertreter. Viele Zahlen, viele Fakten — und eins fällt auf: Fast alle Referenten sprechen negativ über Präsident Bush und seine Regierung. Einer sagt sogar, Bush habe jetzt schon den Titel „Schlechtester U.S.-Präsident aller Zeiten“ verdient, noch vor Nixon. Der Irakkrieg, Guantanamo, jetzt auch noch der Justizskandal um Gonzales. Nicht zu überbieten. Man liegt im Trend: Laut Umfragen sind inzwischen 70 Prozent der Amerikaner gegen Bush. Natürlich wird nur „unter drei“ geschimpft vor den Gästen aus Deutschland. Und es gibt eine Ausnahmestiftung, die quasi per Definition nicht gegen einen republikanischen Präsidenten sein kann: Die erzkonservative „Heritage Foundation“. Hier erzählt uns Lee Edwards, „Distinguished Fellow in Conservative Thought“, was man braucht, um „God’s own country“ zu erhalten. Wir lauschen und werden ein bisschen frech: „Könnte ein Moslem U.S.-Präsident werden?“ Überraschenderweise hält Edwards das für möglich. Nicht jetzt vielleicht, aber irgendwann schon. Wichtig sei ja nicht die Religion an sich, sondern dass der Mann überhaupt eine religiöse Überzeugung habe. Schon aus moralischen Gründen. Für mich ist das mit der interessanteste Aspekt: Dass Religion und Moral nicht voneinander zu trennen sind für die Mehrzahl der Amerikaner. Im Umkehrschluss heißt das: Keine Religion = keine Moral!
Kennt man in Deutschland amerikanische Stars?
Wir haben uns gerade an das Frühstück in diesem unglaublichen Plaste-Self-Service-Restaurant um die Ecke gewöhnt, mit Pancake, Ahornsirup, Rührei, Würstchen, geschälter Pampelmuse und American Coffee, da ist die Woche in „D.C.“ schon vorbei — es geht weiter im Dreier-Team nach Boulder/Colorado. „You may have heard that Boulder has the reputation as the fun place among RIAS locations?,” hatte uns unser “Host” Rich Spiegel per Mail eingestimmt — und er sollte Recht behalten. Am Rande der Rockies liegt diese in ganz Amerika für ihren alternativen Lebensstil berühmte 90tausend-Seelen-Gemeinde. Ein Drittel der Bewohner sind Studenten — jeder, der kein Stipendium hat, muss zehntausende Dollar Studiengebühren bezahlen. Man sieht, wo das Geld hingeht: Gepflegte Wiesen, eigenes Football-Stadion, Schwimmbad: Von so einem Campus können deutsche Hochschüler nur träumen. Im Seminar berichten wir über das deutsche Mediensystem — so gut es geht. Ever heard of „Bildungsauftrag der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten?“ Natürlich geht es dann um den Irakkrieg und die Bush-Regierung und darum, wie die deutschen Medien mit diesen Themen umgehen. „Wir bemühen uns um Objektivität (auch wenn das nicht immer gelingt) und eine möglichst faktengetreue Darstellung. So etwas wie Fox-News gibt es nicht in Deutschland.“ Erstaunen. Viele Fragen der Studenten sind aber auch basisorientiert: „Wie viele Fremdsprachen muss man als Journalist in Deutschland sprechen? Kennt man dort amerikanische Stars?“ Unsere Ausführungen erscheinen prompt in der Lokalzeitung „Colorado Daily“. In den freien Stunden machen wir Ausflüge in die traumhafte Umgebung: Wandern, Skifahren, Klettern, Fahrradfahren; in Boulder könnte ich es lange aushalten. Aber wir sind ja hier, um Amerika von möglichst unterschiedlichen Seiten kennenzulernen.
Life has to go on, you know. And we all have to die.
Es folgt das Kontrastprogramm: Praktikum beim National Public Radio-Ableger „WKSU“ auf dem Campus der Kent State University in Ohio. Senden in the middle of nowhere: Kent liegt etwa eine Autostunde südlich von Cleveland, und es ist eine Wissenschaft für sich, durch das Gewirr der Highways überhaupt dorthin zu finden. Trotz der Lage ist WKSU kein Wald- und Wiesen-Radio: Inhaltlich wird das meiste vom Stammsender NPR aus Washington übernommen — nur ab und zu gibt es „Fenster“ mit lokalen News. Das Highlight in dieser Woche: Elisabeth Edwards, Gattin des demokratischen Senators John Edwards, spricht vor Presse und Publikum in Cleveland über ihre Krebserkrankung. Wie erwartet — und ganz typisch amerikanisch — demonstriert Mrs. Edwards Stärke: Sie wolle trotz ihrer Krankheit eine Präsidentschaftskandidatur ihres Mannes unterstützen. “Life has to go on, you know. And we all have to die.” Beifall. Mehrere Zuhörer melden sich zu Wort und berichten von ihrem eigenen Kampf gegen den Krebs. Die meisten sind von Edwards Haltung beeindruckt. Eine Frau bricht in Tränen aus. So viel Emotion wäre bei einer deutschen Pressekonferenz kaum denkbar. Hier wundert sich niemand. Politik — ganz nah dran am wirklichen Leben. WKSU-Reporter Kevin macht daraus eine Nachrichtenminute und einen Bericht für die Abendstrecke. Er hat einen eigenen Arbeits- und Einspielplatz, wie ich mit Neid feststelle. Ohio hat nicht viel zu bieten, auf den ersten Blick. Aber es spiegelt sehr repräsentativ den religiösen, eher konservativen, autofahrenden Durchschnittsamerikaner, sagen die Kollegen. Ohio ist ein „Swing State“, und wer hier die Wahlmänner für sich gewinnen kann, stellt oft am Ende den Präsidenten. Meine Kontakte mit dem Durchschnittsamerikaner halten sich allerdings in Grenzen: Wer bei den Medien arbeitet, scheint dem American Way of Life eher kritisch gegenüberzustehen: Mein „Host“ bei WKSU, Renita, will mit ihrem Freund zusammenleben, ohne heiraten zu müssen. Sie wird demnächst an die Westküste ziehen — um dem christlichen Sittencodex in Ohio zu entgehen.
You can always have a boyfriend, but only one career!
Zwei Flugzeugstunden östlich wartet das vielleicht größte Geschenk dieser Reise: Eine Woche New York City! Anfangs laufe ich wie betäubt durch die Häuserschluchten — wie kann man in diesem Gewühl leben? Manhattan scheint der Mittelpunkt der Erde zu sein, die Schaltzentrale eines Termitenbaus. Mit einem großen Loch: Ground Zero. Düstere Wolken liegen über der Baustelle — hier entsteht der sogenannte „Freedom Tower“. Die Ereignisse von 9/11 ziehen noch einmal in Gedanken vorüber. Zum ersten Mal eine beklemmende Erfahrung im sonst so optimistisch stimmenden Amerika. Nachmittags und abends dann viel Zeit, um den „Big Apple“ zu erkunden: Essen in China Town, Shoppen in SoHo, Flanieren im Central Park, Staunen im Metropolitan Museum. Gespräche mit den kontaktfreudigen New Yorkern. In Brooklyn erzählt man uns, wer einmal ein paar Jahre in Manhattan gelebt habe, der gehe nur noch selten rüber: zu viel Stress. Und für meine Bekannte Sue, Koreanerin aus Midtown Manhattan, ist New York nur eine Karrierestation: In drei Monaten zieht sie nach China, ihr Freund weiß noch nichts davon. „But so what, you know, you can always have a boyfriend, but only one career!”
———
Daniel Ronel, Bayerischer Rundfunk
Wenn Umfragen niederschmettern. 48 Prozent der Deutschen halten die USA für gefährlicher als den Iran. Und auch weltweit gehören die Vereinigten Staaten zu den Image-Losern. Nationen, die mit militärischer Macht die Weltbühne betreten, werden — wen wundert’s — negativ betrachtet.
Washington, D.C.
Zugeben, der Umgangston mit den Besuchern des Capitols in Washington, D.C., ist schroff und unverschämt („You have to listen better!“). Andererseits: Ist das Personal an europäischen Sicherheitsschleusen immer freundlich? Schnell war für mich in Woche eins vergessen, dass wir eine Supermacht bereisten, die angeblich nichts Besseres zu tun hat, als „Weltpolizist“ zu spielen. Die Menschen in Amerika, auch die in der Hauptstadt, sind viel zu sehr damit beschäftigt, halbwegs heil durch den Tag zu kommen. Unter der Woche hetzt der Washingtoner durch die geschäftigen Straßen und am Sonntagnachmittag will er, wie alle anderen auch, einfach nur durch den Park spazieren und die Frühlingssonne genießen.
Das Programm in der Stadt der Denkmäler, Firmensitze und Einflussgruppen war dicht. Nahezu im Stundentakt gab es Gespräche und Besuche: Ein Mittagessen in der deutschen Botschaft, eine Stippvisite im U.S.-Außenministerium, ein Vortrag bei einem der vielen „think tanks“. Vom Städteplaner bis zur Vereinigung amerikanischer Ureinwohner — alle wollen sie in Washington Gehör finden. Dabei wurden wir, die „visitors from Germany“, immer freundlich empfangen und nie mit einer Hurra-Haltung abgefrühstückt. Eine Überheblichkeit gegenüber „Old Europe“? Fehlanzeige. Und von einer Euphorie für die noch regierende Bush-Administration war auch nichts mehr zu spüren.
Los Angeles, Universitätswoche
In der zweiten Woche ging es in Dreiergruppen weiter in Universitätsstädte. Für mich einmal quer über den Kontinent ins im März nur manchmal sonnige Los Angeles. Auf dem Campus der USC (University of Southern California) steht die renommierte „Annenberg School for Communication“, an der Auserwählte für viel Geld (ca. 40.000 Dollar Gebühren pro Jahr) das journalistische Handwerk für den heimischen Medienmarkt erlernen. Der ruft vor allem nach Crime, Personality- und Verbraucherthemen — und so produzieren Anfang-20-jährige im hauseigenen TV-Studio ein tägliches Lokalnachrichten-Format, das auch wirklich im Fernsehen zu empfangen ist. Freunde kommerziell gestalteter News-Shows kommen hier voll auf ihre Kosten.
Lässig wirken ist an einer Uni, wenn sie in Kalifornien steht, wichtig — und so gehörten Studierende mit Flip-Flops, Skateboard und Handy am Ohr zum typischen Erscheinungsbild. Einige von ihnen fanden sogar den Weg zu unserem „round-table“-Gespräch, das extra wegen uns organisiert wurde und bei dem wir interessierten Teilnehmern Fragen rund um Deutschland beantworten sollten. Die meisten davon gingen in Richtung ‚Wie ist die deutsche Medienlandschaft?’ und ‚Warum ist Türkeis EU-Beitritt umstritten?’ Als die Lunchboxen, die zu Beginn gratis verteilt wurden, geleert waren, verließen einige der Hörer den Raum allerdings vorzeitig.
Welchen Eindruck Los Angeles auf mich hinterließ? Es ist eine große, laute Stadt mit vielen wunderbaren Ecken, die es zu entdecken gilt. L.A. ist das Herz der mächtigen Unterhaltungsindustrie, was allgegenwärtig ist. Dass Bosse und Berühmtheiten großer Filmfirmen und Sender hier in Klassen und Vorträgen vorbeischauen, wundert keinen. Ich wäre gerne Student an der USC gewesen.
Oregon, Praktikumswoche
Die dritte Woche war die Senderwoche. Mich führte sie in den Westküstenstaat Oregon und war ein echtes Highlight des Programms. Herrliche und abwechslungsreiche Natur sowie bodenständige Menschen machten die Tage in Oregon unvergesslich. In der ehemaligen Hippie-Stadt Eugene lernte ich den örtlichen Countrymusic-Sender „93,3“ kennen — und Tracy. Wenn die Frau nicht gerade in ihrer winzigen Sprecherkabine die Nachrichten der Morningshow präsentiert, fährt sie mit ihrem Mann Lloyd gerne ans Meer. Ich durfte mit und konnte mich für einige Stunden an sattem Grün, schroffer Küste und der Frische des Pazifiks erfreuen. Tracy ist eine lustige und engagierte Gastgeberin.
Zweieinhalb Autostunden und einen Bergpass weiter östlich liegt wiederum das malerische 70.000-Einwohner-Städtchen Bend, mitten in der „High Desert“ von Oregon. Auch dorthin führte mich meine Reise. Die USA ist in 210 Fernsehmärkte aufgeteilt — Bend, Oregon, ist der 194. Dementsprechend klein ist die lokale TV-Station „NewsChannel 21“. Überwiegend junge und hart schuftende Berufsanfänger stemmen hier gekonnt ein mehrstündiges Lokalfenster und fahren bei einer brennenden Garage in der Nachbarschaft natürlich mit dem Reporterwagen vor. „One Man Band“ nennen sie das, wenn einer alles macht — von Kamera und Schnitt bis Texten und Vertonung. Doch mit ein bisschen Glück „verdienen sie bald mehr Geld für weniger Arbeit“, wie mir Lee Anderson erklärte. In Bend war er mein „host“, er ist der Anchorman und Hauptmoderator des Lokalkanals und muss sich für seine Auftritte vor der Kamera im Herrenwaschraum des Senders selbst schminken. Im Privatleben ist Frohnatur Lee ein passionierter Deutschland- und FC Bayern-Fan. Seinen Hund hat er dennoch „Zizou“ genannt, „weil Bastian Schweinsteiger keiner hätte aussprechen können“. Jederzeit würde ich wieder zurückkehren nach Bend und Oregon. Und Country-Musik höre ich seitdem auch recht gern.
New York City
Ein zu den Weiten des Nordwesten kaum zu übertreffender Kontrast war New York. In der schnellen Medienmetropole fand sich zum Ende der Reise die Gruppe wieder zusammen. Noch einmal eilten zwölf deutsche Journalisten von Termin zu Termin. Einen besonders nachhaltigen Eindruck hinterließ der Besuch einer Highschool in Hoboken im benachbarten New Jersey. Die Schüler dort haben fast alle Migrationshintergrund und einige mussten vom Klassenzimmer aus die Anschläge des 11. September auf das World Trade Center mit ansehen.
Was also nimmt man mit von so einer intensiven Reise? Eine tolle Erfahrung, unzählige Eindrücke und das Gefühl, so gut wie immer willkommen gewesen zu sein. Nicht jeder Amerikaner interessiert sich für Europa und Deutschland, aber die, die es tun, waren uns gegenüber sehr aufgeschlossen. Auch wenn am Ende einige neue Fragen aufgeworfen wurden (wie zum Beispiel: Warum ist der Satz „Let’s keep in touch“ nicht immer ernst gemeint?), steht fest, dass die USA weit mehr sind als Irak-Krieg, MTV und Diet Pepsi. Würden mehr Menschen das erleben, was wir erlebten — Umfragen hinsichtlich der USA würden anders ausfallen.
RIAS USA-Herbstprogramm
29. September – 27. Oktober 2007
Zwölf deutsche Journalisten in den USA: Programm in Washington und New York; Besuch von Journalistenschulen (University of Georgia, Athens, Georgia; Brigham Young University, Provo, Utah; University of Hawaii, Honolulu, Hawaii; Indiana University, Bloomington, Indiana); individuelles Rundfunkpraktikum.
TEILNEHMERBERICHTE
Thorsten Alsleben, Zweites Deutsches Fernsehen
A more than „almost“ wonderful experience
Die Amerikaner sind Kriegsfanatiker. Die Amerikaner sind religiöse Eiferer. Die Amerikaner haben keine Ahnung von der Welt, erst recht nicht von Deutschland. Es brauchte keine vier Wochen, um eventuell vorhandene derartige Vorurteile zu widerlegen. Aber die vier Wochen USA-Journalistenprogramm mit der RIAS Berlin Kommission waren ideal, um neue Argumente und Erfahrungen gegen diese Vorurteile zu sammeln.
Dabei waren es nicht nur die politischen Gespräche mit einem Kongressabgeordneten, einer Gouverneurin oder einigen der einflussreichsten U.S.-Lobbyisten, die den Charme des Programms ausmachen, auch nicht in erster Linie die Treffen mit hochrangigen Medienvertretern, sondern vor allem die vielen atmosphärischen Veranstaltungen und Begegnungen mit „normalen“ Amerikanern: ob beim Gottesdienst der fast nur von Schwarzen besuchten Abyssinian Baptist Church in Harlem oder bei der Diskussion mit einer High-School-Klasse in Hoboken.
Die Woche in der Hauptstadt war vollgepackt mit Terminen und hochrangigen Gesprächspartnern. Beeindruckend die aktive Rolle der Lobbygruppe „Muslim Public Affairs Council“ mit ihren Versuchen, die Muslime in die amerikanische Gesellschaft zu integrieren. Das Bekenntnis zum Vaterland war hier eindeutig eine Loyalitätsbezeugung zu den USA und nicht zur Türkei, zu Ägypten oder Saudi Arabien. Genauso vehement wie nicht-muslimische Organisationen bekämpft diese Vereinigung Terrorismus, setzt sich offen von jeder Form der Gewaltverherrlichung im Namen der Religion ab, vertritt massiv die Werte der Vereinigten Staaten und unterstützt aktiv die Sicherheitsbehörden beim Aufspüren islamischer Fanatiker. Ein beeindruckendes Vorbild für so manche deutsche muslimische Vereinigung.
Überhaupt barg die Beschäftigung mit religiösen Fragen so manche Überraschung. Ein Höhepunkt des Programms war das Gespräch mit Luis Luego, Direktor des unabhängigen „Pew Forum“, das Untersuchungen und Umfragen zum Thema Glaube und Politik durchführt. Dort gewannen wir die Erkenntnis, dass nicht etwa die U.S.-Amerikaner mit ihren knapp 60 Prozent
Religionsbefürwortern eine Ausnahme sind, sondern vielmehr wir Deutschen: bei uns ist Religion nur 21 Prozent der Befragten „sehr wichtig“. In nahezu allen Gesellschaften weltweit, ob in Afrika, Asien (Ausnahme: Japan) oder Lateinamerika wird die Bedeutung der Religion weit höher eingeordnet, meist über 70 oder gar 80 Prozent. Die Amerikaner sind da im Mittelfeld. Wir gehören zu den atheistischen Ausnahmegesellschaften.
Auch die Treffen mit Vertretern verschiedener Medien offenbarten Neuigkeiten. Der Büroleiter von CNN, David Bohrmann, erläuterte uns, wie CNN das Internet-Portal „YouTube“ in eine politische Sendung mit den Präsidentschaftskandidaten der Demokraten eingebunden hat. Und der Geschäftsführer von Washingtonpost.com, Jim Brady, zeigte, wie weit der Online-Journalismus bereits die klassischen Medien Print, Hörfunk und Fernsehen verbindet und dabei auch noch profitabel sein kann.
Einzige Enttäuschung und gleichzeitig Tiefpunkt des Programms war ausgerechnet der Auftritt eines Deutschen: Die schlecht vorgetragene und langweilige Rede von Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee anlässlich des Tages der Deutschen Einheit bei einem deutsch-amerikanischen Treffen im Kongress gipfelte in der Aussage: „Germany is almost a wonderful country“. Von einem deutschen Spitzenpolitiker erwarte ich im Ausland andere Bekenntnisse zur Heimat; ein von fast allen in unserer Gruppe als äußerst peinlich bewerteter Auftritt, zumal es der ebenfalls anwesende U.S.-Senator Jim DeMint schaffte, mit einer kurzen und schwungvollen Rede den Kontrast zu dem deutschen Politiker um so größer erscheinen zu lassen. Aber diese Veranstaltung konnte den wunderbaren Gesamteindruck der Woche nicht trüben.
2. Woche: Universität von Georgia
Etwas basisnäher wurde es dann in der Universitätswoche. Unsere Gruppe wurde aufgeteilt und verstreute sich über das Land. Mit Gabi Kostorz vom NDR und Jochen Spengler vom Deutschlandfunk landete ich in Athens im Südstaat Georgia. Uns erwartete nicht nur eine weitere durchgehend heiße Spätsommerwoche, sondern auch hier wieder ein vom dortigen Professor Lee Becker gut ausgearbeitetes Programm, das diesmal aber auch etwas mehr Freiraum für eigene Erkundungen ließ.
Die Glanzpunkte dieser Woche waren vor allem die Begegnungen mit den Lehrern der Journalistik-Studenten und mit den Studierenden selbst. Beeindruckend, wie professionell sie schon als Anfänger ein eigenes Uni-Fernsehen auf die Beine stellen: mit einer täglichen Live-Nachrichtensendung, die von den Beiträgen und Live-Schalten über die Moderation bis zur Regie komplett von den Studierenden selbst produziert wird.
Wir wurden auch in den Lehrplan eingebaut und haben von unserer Arbeit und vom Rundfunksystem in Deutschland erzählt. Das war zwar interessant, aber darüber hinaus hätten wir gerne auch mal die Chance gehabt, die ein oder andere Veranstaltung aus dem Vorlesungsverzeichnis herauszupicken, um einfach als passive Teilnehmer „die Schulbank zu drücken“.
Nach drei Tagen war der Uni-Besuch beendet. Es schloss sich ein Ausflug nach Atlanta an. Dort hatte unser Host Lee Becker unter anderem eine Spezial-Tour durch die CNN-Zentrale organisiert, die uns wirklich hinter die Kulissen blicken und gehen ließ.
Die freien zweieinhalb Tage nutzten wir, um mit unserem Mietwagen bis nach Savannah und nach Hilton Head Island in South Carolina zu fahren — ein Ausflug, der nicht nur touristisch äußerst empfehlenswert ist, sondern auch um jenseits offizieller Gespräche Land und Leute besser kennen zu lernen.
3. Woche: Lokalstation Channel 6, Lansing, Michigan
Nachdem sich auch unsere Kleingruppe voneinander verabschiedet hatte, ging es dann für mich in einen völlig anderen Landesteil: nach Michigan bei den großen Seen im Norden. Hier hatte ich das Glück eines wunderbaren Hosts: Dave Akerly, der langjährige News-Anchor des Lokalfernsehens Channel 6, hat mich am Flughafen abgeholt und gleich ein Six-Pack Bier für meinen Kühlschrank mitgebracht. Er hat sich viel Zeit genommen, um mir alles zu zeigen und hat viel mit mir diskutiert. Dabei war er sehr informiert über Deutschland und sprach sogar ein bisschen Deutsch. Gleichzeitig hat er mir genügend Freiraum gelassen, damit ich auch eigenständig Land und Leute kennen lernen konnte.
Channel 6 ist ein typischer Lokalsender, der von der Neuwahl der Schulrates über die Planung eines neuen Marktzentrums bis hin zu Unwetterfolgen die üblichen Lokalthemen abdeckt. Dass dies in den USA aber offensichtlich viel erfolgreicher ist, wurde mir bereits am Flughafen deutlich, als Dave von mehreren Menschen freudig gegrüßt wurde, die ihn aus dem Fernsehen kannten.
Ich selbst konnte bei der Station mit einigen Kollegen auf Dreh gehen und habe viel über ihre Arbeitsweise gelernt. „Producer“ heißen dort die verantwortlichen Senderedakteure (CvD) und nicht etwa wie bei vielen anderen U.S.-Sendern die Redaktionsassistenten, die den Reportern die meiste Arbeit abnehmen. Solche „Producer“ gibt es da nicht. Stattdessen müssen bei Channel 6 die Reporter ihre Beiträge (die nur 1:10 lang sind) selbst recherchieren, drehen (freilich mit einem Kameramann) und dann eigenhändig schneiden und vertonen.
Die meisten Reporter waren sehr nett und interessiert. Ein Kameramann hat mich sogar zu seiner Familie zum Essen eingeladen. Da er vorher Pressesprecher für die Republikaner im Staat Michigan war, konnte er auch viel über politische Zusammenhänge erzählen.
Das half mir für einen besonderen Höhepunkt: Dave hatte für mich mit viel Aufwand ein persönliches Treffen mit Gouverneurin Jennifer Granholm organisiert — nur sie, die Pressesprecherin und ich, alles off-the-records. Die Gouverneurin wusste sehr gut Bescheid über Deutschland, war auch schon mehrfach hier. Sie ist sehr daran interessiert, weitere deutsche Firmen als Investoren zu gewinnen.
4. Woche: New York City
In New York kam dann die ganze Gruppe wieder zusammen. Wieder Gespräche: Medien, Lobbyisten, UNO. Besonders erwähnen möchte ich den Besuch bei einer High-School in Holboken, New Jersey. Dort konnten wir feststellen, wie viele Schüler Migrationshintergrund haben (nämlich fast alle, mit denen wir gesprochen haben). Da an dem Tag an der Schule auch eine Art College-Messe stattfand, konnten wir sehen, mit welchen Argumenten (und Werbemitteln) verschiedene Hochschulen, aber auch die Nationalgarde, die Air Force und die Marines um die Schüler werben.
Besonders beeindruckend auch das immer wieder gehörte Plädoyer für Meinungs- und Redefreiheit. Dass Amerikaner das wirklich ernst meinen, zeigte vor allem David Harris überzeugend: Der Chef des „American Jewish Committee“ verteidigte tatsächlich das Recht amerikanischer Neonazis, den Holocaust zu leugnen. Er sagt, es tue ihm weh, er kämpfe mit allen demokratischen Mitteln und Argumenten dagegen, aber man dürfe es ihnen nicht verbieten, ihre Meinung zu sagen. Unglaublich konsequent.
Ein weiterer Höhepunkt war am (sehr frühen) Sonntagmorgen der Besuch eines afroamerikanischen Gottesdienstes: mitten in Harlem bei der Abyssinian Baptist Church — eine Lehrveranstaltung für deutsche Kirchenreformer und ein Beleg dafür, dass eine deutliche bibelbezogene Predigt, gemischt mit schmissig vorgetragenen und in der Aussage eindeutigen Anbetungsliedern zu vollen Kirchen führen können.
Fazit:
Wer sich für dieses Programm nicht bewirbt und auf diese Fülle an Erfahrungen verzichtet, ist selber schuld.
Tipps für künftige Teilnehmer:
Dress Code
Ein häufig angesprochenes Thema. Unser U.S.-Betreuer Jon Ebinger macht bei der Begrüßung am ersten Tag eine Ansage, was bei welchem Treffen angemessen sei. Nach unseren Erfahrungen heißt „nicht casual“ für die Herren zunächst nur, dass man keine Jeans, dafür aber Hemd und Sakko tragen sollte (so lief Jon zumindest meist rum). Anzug und Krawatte sind in der Regel nicht erforderlich, stören aber auch nicht. Für einige wenige Treffen, wie z. B. mit dem deutschen Botschafter oder mit U.S.-Politikern, sind Anzug und Krawatte empfehlenswert. Es reicht aber völlig, zwei bis drei Anzüge bzw. Kombinationen und zwei Krawatten mitzubringen. An vielen Tagen war aber auch „casual“ ausreichend.
Kleidungs-Shopping
Hemden und auch sonstige Bekleidungsstücke sollte man, wenn der Dollarkurs so günstig bleibt (bei uns ca. 1 € = 1,40 U.S.-$) unbedingt dort kaufen. So gibt es z. B. beim Kaufhaus Macy’s (gibt es in jeder größeren Stadt) sehr häufig dramatische Rabattaktionen bis zu 75%. Ausländer können sich dort zusätzlich beim Visitor Center eine 11-Prozent-Rabatt-ID geben lassen. So kommt man auf Preise von Markenhemden von umgerechnet 10–15 Euro.
Hotels
Bei den Hotels (vor allem in New York) unbedingt darauf achten, dass man so weit wie möglich oben ein Zimmer bekommt. Die im Club Quarters NY-Midtown zum Lüftungsschacht gelegenen Zimmer bis Etage 10 haben einen scheußlichen Ausblick und viel Außenlärm durch die Klimaanlagen.
Laptop/Internet
In allen Hotels gibt es inzwischen kostenloses WLAN. Laptop mitbringen lohnt sich also, zumal wir zwischendurch Emails von unserem Gruppenbetreuer und den Hosts bekommen haben. Allerdings gibt es in den Hotels auch immer mindestens einen kostenlosen öffentlichen Internet-PC. Da wir reichlich fotografiert und gefilmt haben, waren diejenigen mit Laptop klar im Vorteil, weil sie zwischendurch die Bilder hochladen konnten (ich hatte leider keinen dabei).
Adapter
Für deutsche Laptops oder Handys braucht man einen Adapter, aber keinen Konverter. Die Spannungsumwandlung machen die Netzteile selbst. Ein reiner Steckeradapter kostet in Deutschland ca. 5 bis 10 Euro, in den USA ca. 10 U.S.-$ (bei Radio Shack).
Gepäckgewicht
Bei den Inlandsflügen ist es absolut unerlässlich, die Gewichtsgrenzen (50 Pfund, ca. 23 Kg pro Koffer) beim Gepäck einzuhalten. Wir mussten wegen 2 kg tatsächlich vor dem Schalter (und vor allen Augen) vom schweren in den leichteren Koffer umpacken oder hätten 50 U.S.-$ zahlen müssen, obwohl das Umpacken ja das Gesamtgewicht des Gepäcks nicht verändert, sondern nur das Gewicht der einzelnen Gepäckstücke. Ein Trick dafür: Manche Gesellschaften bieten vor dem Terminaleingang einen Schnell-Check-In an: da wird meist nicht gewogen und es geht viel schneller als drinnen am Schalter.
Gastgeschenke
Es empfiehlt sich, für den Station-Host und den University-Host ein kleines Gastgeschenk mitzubringen. Irgendwas aus der Heimat. Ich hatte ein Stück Berliner Mauer und eine Miniatur vom Brandenburger Tor. Ansonsten gibt es immer wieder Anlässe, um kleinere Gimmicks vom eigenen Sender loszuwerden: Aufkleber, Kugelschreiber oder in meinem Fall: Mainzelmännchenfiguren.
Handy
Die meisten modernen Handys sind Triband und funktionieren in den USA. Abgehende, aber auch ankommende Gespräche sind allerdings sehr teuer. Auch unbedingt dran denken, noch in Deutschland die Mailbox zu deaktivieren, sonst zahlt man kräftig Auslandszuschlag. Es gibt die Möglichkeit (wenn auch nicht so verbreitet wie in Deutschland), in den USA eine Prepaidkarte (z. B. von T-Mobile) zu kaufen und ins Handy zu stecken. So ist man für dortige Gesprächspartner leicht und günstig erreichbar — und für Anrufer aus Deutschland auch, wenn sie Call-by-Call-Nummern nutzen.
———
Boris Baumholt, Westdeutscher Rundfunk
Ich reibe mir die Augen und staune: 3000 Studenten um mich herum erheben sich von ihren Stühlen, singen mit Inbrunst die Nationalhymne. Dann beten alle auch noch gemeinsam mit dem Politiker auf der Bühne, lauter als in jeder Kirche, in der ich bislang war. Wo bin ich denn hier gelandet?
Mitten in Amerika oder genauer gesagt in der Sporthalle der Brigham Young Universität in Provo im Bundesstaat Utah, in der heute mal kein Basketball gespielt wird, sondern einer der führenden Demokraten zu Gast ist, Senator Harry Reid. Auch wenn im Mormonenland Utah vieles anders ist als in den übrigen 49 U.S.-Staaten, ist dieser Moment doch so etwas wie das Konzentrat meines RIAS-Stipendiums. Religion und Patriotismus — diese Themen haben mich durch die gesamten vier Wochen begleitet, und mir ist schnell bewusst geworden, dass sie tragende Fundamente der amerikanischen Gesellschaft sein müssen.
Washington D.C.
95 Prozent der Amerikaner glauben an Gott, drei Viertel gehen mehr oder weniger regelmäßig in die Kirche. Das sind die Zahlen, die uns Luis Lugo vom Pew Forum in unserer ersten Woche in Washington präsentiert. Und Religion ist untrennbar mit Politik verbunden, meint der renommierte Experte. „Wahlen gewinnst du in der Kirche. Ein Kandidat, der dort sonntags nicht gesehen wird, hat kaum eine Chance.“ Welch großen Einfluss Religion in der Politik spielen kann, hat George Bush vorgemacht. In Europa wird er dafür kritisiert, in Amerika hält das die Mehrheit für richtig. 22 Prozent sind sogar der Ansicht, dass ihr Präsident seinen Glauben zu wenig berücksichtigt, wenn er politische Entscheidungen trifft. So verwundert es nicht, als Luis Lugo uns zum Ende sagt: „Anders als in Deutschland haben wir zwei christliche Volksparteien: die Republikaner und die Demokraten.“
Na, da ist es für alle Nicht-Christen in den USA aber sicherlich ganz schrecklich, könnte man meinen. Doch die berichten uns, dass sie es hier ganz gut aushalten. Wie so häufig in diesen vier Wochen müssen wir feststellen, dass unsere Schablonen nicht immer passen. Die Muslime zum Beispiel sind in den USA oft deutlich besser integriert als in Deutschland, erklären uns zwei Vertreter einer großen muslimischen Lobbygruppe. In den Moscheen wird meist Englisch gepredigt. Die große Mehrheit der Muslime sieht sich in erster Linie als Amerikaner. Sie sind stolz auf ihr Land. Ein paar Tage nach meinem RIAS-Stipendium bin ich bei einer Demo von Deutsch-Türken auf der Kölner Domplatte. Auch hier sind alle stolz auf „ihr“ Land und schwenken hunderte türkische Fahnen. Der deutsche Pass, den hier viele in der Tasche haben, ändert daran nichts.
Immer wieder komme ich in den vier Wochen ins Grübeln, vergleiche, was in den USA besser und was schlechter ist. Wünschen wir uns nicht manchmal auch ein Stück mehr Patriotismus, der ein Land zusammenhält? Oder vernebelt diese Vaterlandsliebe nicht auch den Blick? Man schaue nur auf den Irak-Krieg. Nicht immer lassen sich die einfachen Antworten finden.
So vergeht unsere erste Woche in Washington wie im Flug, wir sind bei CNN und ABC, treffen einen Kongressabgeordneten und debattieren ausführlich mit dem deutschen Botschafter darüber, wie sich das deutsch-amerikanische Verhältnis in den letzten Jahren verändert hat.
Provo, Utah
Auf diese Woche bin ich besonders gespannt, und tatsächlich, Utah ist ein bisschen wie ein Besuch auf einem anderen Stern. Eintauchen in fantastische Landschaften und einmalige Einblicke in die Kirche der Mormonen.
Beim ersten Rundgang durch die Brigham Young University sieht eigentlich alles so aus wie an einer gewöhnlichen Uni. Die Studenten sehen aus, wie Studenten eben aussehen, auffällig höchstens, dass relativ viele Kinder an der Hand halten. Später erfahren wir dann, dass über die Hälfte der Studenten bereits verheiratet ist. Das durchschnittliche Heiratsalter liegt bei 22. Den Mormonen ist Sex vor der Ehe verboten, Scheidung übrigens auch. Natürlich kommt trotzdem beides in Utah vor. Doch am College kann es einen im Extremfall den Studienplatz kosten. Wer an der renommierten Uni studiert, muss die Regeln akzeptieren. Dazu gehört auch der Verzicht auf Alkohol und Zigaretten. Außerdem muss jeder hier ein paar Kurse Religion belegen, egal was er sonst studiert. Dafür sind die Gebühren vergleichsweise gering und die Ausstattung exzellent. Im Kommunikationsinstitut haben sie ein professionelles, voll ausgestattetes Fernsehstudio, digitale Kameras und Schnittplätze. Davon kann man an deutschen Unis nur träumen. Jeden Tag produzieren sie hier eine Stunde Programm, das im Kabel ausgestrahlt wird. Selbst Werbung gibt’s, meistens für die Church of Jesus Christ of Latter-Day Saints, wie sich die Mormonenkirche selbst nennt.
Wir treffen niemanden, der die strengen Vorschriften innerhalb der Kirche oder auf dem Campus in Frage stellt. Ganz im Gegenteil. Die Studenten seien meist konservativer als ihre Lehrer, erzählt unser host Dale Cressmann. Das gilt auch politisch. Der demokratische Senator Reid (ebenfalls Mormone) hat deshalb keinen leichten Stand, als er die riesige Basketballhalle betritt. Vizepräsident Dick Cheney haben sie hier vor ein paar Monaten noch frenetisch bejubelt, Reid erntet allenfalls höflichen Applaus.
Ein Höhepunkt wird die Fahrt nach Salt Lake City, so etwas wie die „Zentrale“ der Mormonen. Es ist ein bisschen wie religiöses Disneyland. Ein riesiger Tempel, der irgendwie unwirklich aussieht. Das Family Center mit einem hollywoodreifen Film, zu dem die Musik extra von einem großen Orchester komponiert und eingespielt wurde. Und ein angestrahlter Jesus vor einen Sternenfirmament, der in verschiedenen Sprachen zu den Besuchern spricht. Schließlich der Termin, um den uns alle Stundenten beneidet haben, als träfen wir einen Popstar. Dieter F. Uchtdorf, früher Pilot bei der Lufthansa und heute einer der 12 Apostel, empfängt uns. Der Deutsche hat eines der höchsten Kirchenämter inne. Zu uns ist er alles andere als abgehoben. Er ist sehr offen, wir diskutieren kontrovers. Wieder eine dieser positiven Überraschungen auf unserer Reise.
Nach vier Tagen Uni und Mormonen fahren Sylvia, Anne-Katrin und ich noch für drei Tage in die grandiosen Nationalparks von Utah. Sonnenuntergang bei 25 Grad im Arches Nationalpark — Sonnenaufgang bei minus 5 im Bryce Canyon und dazwischen Canyonlands, Goblin Valley und Capital Reef Nationalpark. Ein Feuerwerk für die Augen, das unvergessen bleibt.
Toledo, Ohio
Morgens Frühnachrichten moderieren, anschließend im Regen an der Tankstelle drehen, mittags Liveschalte vor der Ölraffinerie und am Nachmittag den Beitrag über Benzinpreise für die Abendsendung fertigmachen. Der Job beim kleinen Fernsehsender WTVG in Toledo kann ganz schön hart sein. Die Reporter nehmen es gelassen.
Ich bin in Ohio gelandet, vielleicht der amerikanischste Ort auf meiner Reise. Es gibt viele große Highways für viele große Autos. Die Region ist (war) so etwas wie die Herzkammer der Autoindustrie. Ford, Chrysler, General Motors produzieren längst nicht mehr nur in der Region rund um Detroit, sondern mittlerweile auch in Asien. Viele Fabrik- und Wohngebäude stehen deshalb leer. Mit viel Aufwand versucht man die Innenstädte wiederzubeleben, neue Jobs anzusiedeln und die Kriminalität zu bekämpfen. Letzteres ist das Hauptthema beim kleinen Fernsehsender. Das zweite große Aufregerthema der Woche: eine Schwulen- und Lesbengruppe. Die hat sich ausgerechnet an einer katholischen Highschool gegründet, auch noch mit Zustimmung der Schulleitung. Fundamentalistische Christen aus Toledo sind empört und planen bereits eine Demo, die ich leider nicht mehr erleben kann. Denn es geht weiter geht nach…
New York
Wie ließen sich die vier Wochen besser beschließen als hier? Beim Spaziergang über die Brooklyn Bridge in der Abenddämmerung sind wir uns einig: es war ein phantastisches Programm in einem faszinierenden und manchmal auch verstörenden Land. Die tiefen Eindrücke, die wir in den letzten vier Wochen bekommen haben, werden haften bleiben.
———
Anne Brühl, Zweites Deutsches Fernsehen
„Welcome to Keloland“, sagt Matt, als wir von Sioux Falls nach Yankton fahren. Draußen regnet es in Strömen, aber viel zu sehen gibt es hier sowieso nicht: ab und an mal ein kleiner Ort oder eine einsame Farm. Das hier also ist Keloland, so nennen sie bei Kelo, einer CBS-Station in South Dakota, ihr Berichtsgebiet. Matt Belanger arbeitet als Reporter für den Sender, bei dem ich eine Woche meines RIAS-Programms verbringe.
Yankton, das ist der Heimatort von Tom Brokaw, einer amerikanischen Fernsehlegende. Aber deshalb sind wir nicht da. Yankton will seinen Bürgermeister loswerden, zu unzufrieden sind die Bürger hier mit der Art, wie sie regiert werden. In einer runtergekommenen Schulturnhalle sammeln sie deshalb Unterschriften für ihr Vorhaben. Matt und Rock, der Kameramann, beeilen sich. Schnell ein paar Bilder, ein Interview mit einem der Organisatoren — nach 20 Minuten ist alles im Kasten. Auf dem Weg zurück in die Redaktion textet Matt schon mal. Zu Hause wird dann Rock die Bilder und O-Töne dazu schneiden. Fertig, Matt sitzt da schon an der nächsten Geschichte.
Für mich sind viele Themen eher gewöhnungsbedürftig: Dominic schafft es in die Nachrichten: Er ist 27, krebskrank und wünscht sich einen Anzug, damit seine Mama ein schönes Erinnerungsfoto bekommt. Keloland nimmt Anteil an seinem Schicksal, spendet für ihn — und sieht, wie Dominic eingekleidet und fotografiert wird. Eine Woche später stirbt Dominic. Als die Fasanenjagdsaison beginnt, ist das das Topthema: Ankunft der Jäger am Flughafen Sioux Falls, Unterkünfte, Luxusjagdgesellschaften, alles ein eigener Bericht. Und an noch etwas muss ich mich gewöhnen: Der Börsenblock mittags kommt ganz ohne Dow Jones aus. Dafür erfahren die Zuschauer die Preise für Lämmer und Zuchtbullen. Übrigens: Einschaltquoten von bis zu 50 Prozent machen Kelo zu einer der erfolgreichsten CBS-Stationen in ganz Amerika.
South Dakota ist anders, Amerika ist anders und voller Widersprüche — es ist vor allem das, was ich in 4 Wochen RIAS-Programm lerne. Dieses ganz spezielle Lebensgefühl, an meiner Uni-Station Hawaii — überall ist der „Aloha-Spirit“ greifbar. Aber die Obdachlosen an den Stränden — die hätte ich dort nun gerade nicht erwartet. Autos mit laufenden Motoren mitten im tropischen Paradies — und der Friedensnobelpreis für Klimaschützer Al Gore, der selbst CNN am Abend nur noch eine kurze Laufzeile wert ist. Irak-Veteranen im Rollstuhl im Capitol in Washington und meine Sitznachbarin im Flugzeug, die sich empört, dass ich nicht klatsche mit all den anderen bei der Landung in Atlanta. Der Applaus gilt einem U.S.-Soldaten, der am nächsten Tag in den Irak weiterfliegen soll. „Support the troops“ — auch wenn die große Mehrheit der Amerikaner mit George W. Bush und dessen Politik nicht übereinstimmt.
South Dakota versöhnt mich mit all diesen Widersprüchen: Zwei Tage habe ich frei bekommen bei Kelo um Richtung Westen zu fahren, ans andere Ende des Staates, 500 Meilen durch den Mittleren Westen, vorbei an den Reservaten der Lakota und Sioux Indianer. Im Autoradio singt John Mellencamp von der „Small Town“ und ich komme mir vor wie die Siedler, die westwärts gezogen sind. Am Horizont tauchen die Badlands auf: schroffe Hügelzüge inmitten der Prärie, südlich davon liegt Wounded Knee. Ich begegne freilebenden Büffeln, die sie im Custer State Park wieder angesiedelt haben. Das hier ist Amerikas „heartland“, Schauplatz blutiger Indianerkriege und doch auf unvorstellbare Art faszinierend!
„Vergiss Washington, vergiss New York — die meisten Amerikaner leben so ähnlich wie wir hier“, hatte Matt mir gesagt. Die beiden Programmwochen voll spannender Begegnungen in Washington und New York will ich trotzdem nicht missen. Aber irgendwie hat Matt wohl recht: South Dakota ist Keloland — und Keloland, das ist für mich Amerika.
———
Sylvia Burian, Norddeutscher Rundfunk
Washington
Im Bus viel zu kalt, aber draußen scheint die Sonne. T-Shirt-Wetter in Washington im Oktober. Nach dem deutschen „Sommer“ genau das richtige. Die T-Shirts werden im Outlet gekauft. Kaum einer der Gruppe hatte mit 25 Grad gerechnet. Die Memorials sind sehr eindrucksvoll, aber der Jetlag wirft mich zurück. Der Busfahrer Cameron weiß nicht, wie man die Temperatur von Erkältungsgefahr auf angenehm pegelt, und darf auch nicht in Washington DC wählen, muss aber seine Steuern dort zahlen. Seine Parole: „No taxation without representation.“
Am nächsten Tag besuchen wir erst eine Vertretung der Muslime, dann eine der Afro-Amerikaner. Die erste Gruppe sind stolze Amerikaner, die zeigen wollen, dass nicht alle Muslime Terroristen sind, die zweite Gruppe führt Statistiken über die Ungleichbehandlung der Afro-Amerikaner. Zwei sehr lebendige Runden, die zeigen, wie wichtig Lobbyarbeit in Washington ist.
Dazwischen allerdings ein beeindruckender Besuch der Library und des Capitols. Unter der mächtigen Kuppel zu stehen, ist ein erhebendes Gefühl. Man kann auch innen hinaufsteigen, allerdings nur in Begleitung eines Kongressabgeordneten. Wäre mir sowieso viel zu hoch. In einer Statuenhalle beobachten wir eine amerikanische Familie. Gezeichnet vom Irak-Krieg. Zwei Söhne, einer in Uniform, sein jüngerer Bruder mit nur einem Arm und einem Bein im Rollstuhl. Sie lassen sich mit ihrem Abgeordneten aus Virginia fotografieren. Gespenstisch.
Am Tag der Deutschen Einheit treffen wir den Bundesminister für den Aufbau Ost, Tiefensee, in Washington. Der Minister hält einen Abriss über deutsche Geschichte. Goethe und Schiller dürfen nicht fehlen. Der Mauerfall war ohne die Amerikaner nicht möglich. In Deutschland gab es „candles and prayers“. Tiefensee spricht die Amerikaner ganz amerikanisch an, dann verlassen ihn aber doch seine Kenntnisse. Er verrennt sich und muss eingestehen: „Die englische Sprache ist wie eine Frau: You love her but you don’t master her.“ Wir gucken uns verschämt an. In welche Kiste hat er denn da gegriffen? Überhaupt ist die Darstellung Deutschlands in den USA an dieser Stelle eher bescheiden.
Ganz taff dagegen Chris van Hollen, Kongreßabgeordneter für den Staat Maryland, Demokrat. Wird alle zwei Jahre neu gewählt und muss sich seinen Wählern schonungslos stellen — ganz anders als unsere Abgeordneten. Wir sind beeindruckt von seiner Kenntnis und den Einschätzungen. Ein wacher Kopf in einem kleinen Büro. Er wird sich sicher noch eine Etage höherarbeiten. Er hat ein starkes Gefühl, dass „President Bush’s policy was a failure.“ Van Hollen kann sich durchaus vorstellen, dass Hillary es schafft.
Nach einem Snack — wie meist hurtig zwischen zwei Terminen — sind wir bei ABC. Robin Gradison zieht schonungslos Bilanz: Business is changing, TV verliert Zuschauer, die Zukunft liegt im Internet — da gibt es Parallelen zur Tagesschau. Bei anderen Punkten zum Glück nicht: Die Korrespondentenliste wurde um ein Drittel zusammengestrichen, es werden nur noch Internet-Leute eingestellt. Aber: Die Präsentatoren hier sind so alt wie Dagmar Berghoff und werden erst einmal auf Sendung bleiben.
Am nächsten Tag laufen wir um den Block zur L-Street. Dort wartet Luis Lugo, Direktor des PEW Forum on Religion. Ein Think Tank, der die Verteilung der Religionen in den USA und weltweit untersucht. Keine Überraschung: Die Amis sind sehr religiös. Für 59 Prozent ist die Religion sehr wichtig. Viel im Vergleich zu Europa, aber wenig im Vergleich zum Rest der Welt. So ist für 97 Prozent der Senegalesen Religion sehr wichtig. Viele Amerikaner würden sich auch freuen, wenn Bush den Glauben mehr in seine Reden einbaut. Herr Lugo kennt sich aus. Seine Erhebungen sind sehr aufschlussreich. Dazu gehört auch diese Erkenntnis: No God — no morality.
Verschleiert dagegen der Auftritt der konservativen Heritage Foundation, mit bestem Platz nahe dem Capitol oder — wie sie hier sagen — nahe dem Hill. Die Konservativen treten ein für freie Marktwirtschaft, freie Religion, wenig staatliche Regulierung, möglichst nur im Sicherheits- und Verteidigungsbereich. Ihre Ansichten verkaufen sie als „education“ — no lobby! Wir fragen kritisch nach, aber Christian Burks lässt sich nicht beirren. Dunkler Anzug, kurze Haare, Zahnpastalachen. Der passt gut in die Junge Union. Im Keller dieses sichtbar sehr reichen Think Tanks ein eigenes Fernsehstudio mit Fake-Büchreregal und mehrere Hörfunkstudios. Ronald Reagan grüßt von jeder Wand.
Deutlich sparsamer dagegen die öffentliche Radiostation „npr“. Finanziert mit Spenden. 15 Prozent der Hörer spenden durchschnittlich 100 Dollar. Zusammenhänge zwischen Geldgebern und Berichterstattung gibt es natürlich nicht. Hier arbeiten ältere Herren, die sich der Information verpflichtet sehen — eine letzte Bastion in der werbe- und blödsinndurchzogenen Radio- und Fernsehlandschaft. Ernsthaftes sucht man hier den USA vergeblich. Wo holen sich die 30 Millionen Zuschauer und Hörer ihre Nachrichten? Oder wollen alle nur noch wissen, wie die Verkehrslage und das Wetter ist. Ich befürchte fast.
Aufbruchstimmung in der Gruppe. Am Wochenende geht’s in die Uni-Städte. Vorher treffen wir den deutschen Botschafter, Klaus Scharioth, in der German Embassy. Jahrzehnte im diplomatischen Dienst haben ihn zu einem abgeklärten Mann gemacht, der sich in einem dicken Stuhl zurücklehnt und hinter sich eine grüne Traumkulisse weiß. Seine Bilanz: Das Image der Deutschen in den USA ist wieder ok. Über die Videokonferenzen, die Bush und Merkel führen, ist er auch meist ganz gut informiert, und wenn Hillary in Iowa gewinnt, dann macht sie das Rennen. Wir dürfen uns die Residenz noch von außen anschauen, dann schiebt uns die spröde Referentin aber vom Platz. Die 12 Digitalkameras schießen noch mal den Eingang ab — da sind wir von Anbeginn wie die Japaner.
Danach trennt sich die Truppe. Ich gehe mit Gabi, Anne-Katrin, Boris und Juri ins ARD-Studio. Ina Ruck, Udo Lilischkies und Klaus Scherer haben Kaffee und Kuchen vorbereitet. Erzählen über ihre tolle Arbeit in Washington, aber auch über die Schwierigkeiten. Kein Kongreßabgeordneter will mit ihnen reden. Das deutsche Fernsehen erreicht eben keine U.S.-Wähler. Zum Trost ist Udo gerade drei Wochen den Colorado River entlanggereist.
Provo, Utah — Universitätswoche
Allan Palmer, unser Host in Utah, holt Anne, Boris und mich im Hotel ab. Ein Uni-Guide, ordentlich, mit Lächeln im Gesicht, zeigt uns das Universitätsgelände: Eine der weltbesten Bibliotheken, eine der besten juristischen Fakultäten, fast jeder Student fließend zweisprachig (wegen der Missionarsarbeit), spektakuläre Forschung. Eine hochmoderne, saubere Uni, 95 Prozent sind Mormonen. Immer on top, aber immer auch in „the name of God“. Auf dem Campus zwanzig Jahre alte, verheiratete Paare, kaum einer ohne Ring. Viele Kleinkinder, schwangere Frauen. Wer als Mann hier mit 28 noch keine abgekriegt hat, bekommt Panik. Kein Alkohol, keine Zigaretten, kein Sex vor der Ehe. Kaum zwei Stunden auf dem Campus, lautet die erste Frage immer: Are you member? Sind wir nicht, sehen in unseren dunklen Anzügen aber aus wie Missionare. Bei dem Gedanken bekommen Anne und ich mitten in einer Unterrichtsstunde einen Lachkrampf. Kein Problem, der Professor kümmert sich eh nicht um uns. Anders Dale Cressman. Er freut sich, seinen Studenten mal deutsche Fernsehmacher vorstellen zu können.
Wir fahren danach in die Berge, zum Sundance Ressort von Robert Redford. Ein Roundtrip mit dem Sessellift steil bergauf. Um uns verschneite Gipfel — Urlaubsgefühle. Den Hollywood-Star haben wir nicht gesehen.
Abends gehen wir mit Allen und drei anderen Mormonen typisch amerikanisch in einem Steakhaus essen: Die Vorspeise ist so groß wie ein Hauptgericht. Kaum halb auf, kommt der Salat mit dicker Soße; kaum die Blätter ohne Soße gerettet, kommt der Hauptgang. Ein riesiges Steak oder ein riesiger Lachs mit Steaksauce. Kaum, dass der Teller sichtbar wird, bringt Stacy lächelnd die Rechnung. Es gibt noch ein wenig Small Talk, da spricht die Frau von Allen: Oh, it was such a nice dinner with you. Startschuss zum Aufbruch. Die Aktion hat gerade mal anderthalb Stunden gedauert!
Genauso lange suchen wir anschließend nach einem Bier. Bar? Fehlanzeige. Ohne dinner läuft in Sachen Alkohol hier gar nichts. Im Supermarkt kaufen wir dann ein Sixpack, das uns der Verkäufer doppelt einwickelt. Soll ja schließlich keiner sehen. Wir Verbrecher trinken das giftige Zeug verschämt auf dem Zimmer. Wo sollen wir bloß mit den leeren Flaschen hin? That’s Utah!
Dann geht’s über die Autobahn nach Salt Lake City zu einem der zwölf Apostel: Dieter Uchtdorf aus Deutschland, ehemaliger Lufthansa-Pilot und jetzt religiöser Führer der Mormonen. Unser Begleiter von der Uni, Dale Cressmann, ist deutlich aufgeregter als wir. Der Apostel freut sich, Landsleute zu treffen, ist offen für alle Themen, will uns — vorerst — nicht bekehren, erzählt aus seinem Leben. Seine Familie, zwei Kinder und mehrere Enkel leben in Europa. Wie wird man Apostel, fragen wir; nun, es fängt mit kleinen Aufgaben für die Kirche an, steigert sich, irgendwann hat ein Entscheider die Eingebung, dass dieser Mann zu Höherem geboren ist, und ruft ihn in die neue Position.
Bananen, Wasser und Kekse an Bord, dann geht’s Richtung Arches Nationalpark. Beeindruckende Felsformationen in tollen Rottönen, die uns bei bestem sonnigem Herbstwetter entgegenstrahlen. Die einen heißen die „drei Richter“, daneben der „Supreme Court“. Bei den anderen Felsen werden wir ideenreich und sehen wieder schwangere Mormonenfrauen, Bären und Liebespaare. Eine zauberhafte Reise in eine zauberhafte Welt, die uns RIAS ermöglicht hat. Das vergegenwärtigen wir drei uns immer wieder. Ich glaube, Anne, Boris und ich wissen sehr genau, was wir für ein Glück haben.
Im Hot Spot Moab suchen wir uns ein Hotel. Gar nicht so einfach, hier ist die Hölle los. Freaks, Quad-, Motorradfahrer, Biker, hier scheint sich alles zu treffen, was Lust an Geschwindigkeit und Herausforderung hat. Ein Zimmer bekommen wir deshalb auch erst nach langer Suche und vielen Schildern „no vacancy“. Tipp an andere RIAS-Fellows: Eine Zimmervorbestellung in Moab ist immer ratsam.
Früh geht’s los durch die Canyons: Rote schroffe hohe Felsen, der Colorado schlängelt sich durch. Wir sind in den Canyonlands, die erahnen lassen wie imposant der Grand Canyon ist. Der liegt nicht auf unserer Route, dafür aber der „Zwergenpark“ Capitol Reef, eine Autopiste auf einem Felsengrat in gelben Tönen. Utah bietet derart unterschiedliche Felslandschaften in schönsten Farben und Formen, dass man dem Reiseführer nur recht geben kann: Mother Nature was kind with Utah.
South Bend, Indiana — TV-Station
Von Utah geht’s wieder Richtung Osten: Meine TV-Station heißt WNDU und liegt in South Bend, Indiana. Mit dem Redakteur Ryan und seinem Kameramann geht’s gleich am ersten Tag raus nach Niles, Michigan. Unser Thema: Drei Hunde in drei Tagen verschwunden. Sensationell! — eben Lokalfernsehen. Die Interviews mit einer Familie und zwei Frauen sind skurril. Ryan bleibt immer sehr ernst, obwohl zumindest die dritte Frau sichtbar verwirrt ist. Ich mache viele Fotos beim Drehen. Eine nette Tour durch die Nachbarschaft: in den Vorgärten Halloween, in den Häusern überdimensionale Fernseher, die den ganzen Tag keiner ausmacht — who cares — und im Garten alte Reifen und Futternäpfe, die keiner mehr benutzt.
In dieser Ecke ist wirklich mehr los als erwartet: In Shipshewana fahren überall sogenannte Buggies herum: schwarze hohe Kutschen mit kleinen Fenstern gezogen von einem Pferd. Man kann nicht hinein sehen, und das ist auch das Ziel! Die Amish huschen von hinten an ihre Kutsche heran, steigen nach dem Einkaufen schnell ein, wollen auf keinen Fall fotografiert werden. Schade, aber auch eine Herausforderung. Ich lege mich auf die Lauer und erwische tatsächlich einige Familien. Glückstreffer: Vor einem schlichten Holzhaus — offenbar eine Schule — beobachte ich spielende Amish-Kinder. Frage, ob ich fotografieren darf. Die beiden Lehrerinnen sind dagegen, laden mich aber ein, an einer Schulstunde teilzunehmen. 40 Kinder, der Raum geteilt durch einen Vorhang. Jeder hat einen eigenen Tisch. Die Mädchen tragen eine schwarze oder weiße Kappe, ein Leinenkleid im Blauton und sind meistens barfuß. Wer Schuhe trägt, hat schwarze an. Die Jungen in hellen Leinenhemden und Leinenhosen, dazu Hosenträger oder Latz. Alle einen einheitlichen Haarschnitt. Zu Beginn der Stunde singen alle ein religiöses Lied auf deutsch für mich. Rührend. Dann sind sie hochkonzentriert, sagen kein Wort mehr. Immer sechs Kinder arbeiten vorne an Aufgaben unter Aufsicht. Die anderen arbeiten still am Platz. Wer fertig ist, hebt sein Heft wortlos in die Höhe. Die Lehrerin nickt, der Junge darf sich ein Buch holen. “The world is God’s garden.“ So ruhig geht es 60 Minuten zu. Keiner stellt Fragen, keiner ruft etwas. Alle holen sich stumm neue Aufgaben oder Bücher oder Stifte aus dem hinteren Regal. Einige lächeln mich an. Mehr darf wohl nicht sein. Die Kinder sind alle unterschiedlich alt und in vier Gruppen eingeteilt. Alle werden nur acht Jahre zur Schule gehen und nicht studieren. Wie ich später nachlese, ist dies eine Vorgabe der strengeren Amish.
Heute bin ich schon früh los nach Chicago — mit dem Auto und ohne Navigation. Kaum habe ich „State Street“ auf dem Highway gelesen, bin ich abgefahren. Viel zu früh. So musste ich durch die ganze Stadt. Ist ja eigentlich auch das Ziel, aber ich hatte einen Termin mit der Nachrichtenchefin von ABC Chicago im Nacken. Die Hektik war umsonst. In Chicago ist es eine Stunde früher als in South Bend. Der TV-Sender ist proper ausgestattet. Alle Studios vom Feinsten, doppelte Technik: digital und analog, jeweils mit Backup, zweimal am Tag kreist ein hauseigener Hubschrauber über der City, um die neuesten Bilder einzufangen. Das Kontrastprogramm habe ich einen Tag später bei einem Public-TV-Sender in South Bend erlebt.
Nach der Station-Tour habe ich eine Bootsfahrt auf dem Chicago River unternommen. Viele Bilder geschossen, weil gerade alle Brücken hochgingen, und das gibt es wohl eher selten, so die ältere Dame, die uns jedes Gebäude im Detail erklärt hat und das zweieinhalb Stunden lang — nun weiß ich Bescheid. Chicago ist schön, kleiner als New York und deshalb auch weniger aufreibend.
Das Telefon im Hotel klingelt, mein Host CJ ist dran. Der Termin bei der Produktionstätte des Hummer ist schon um 9.00 Uhr. Ich fahre zum Sender, CJ bringt mich nach Michawaka — the home of the Hummer. Ein beeindruckendes Auto und eine beeindruckende Produktion. In einer neuen Fabrikhalle aus dem Jahr 2000 wird der Hummer2 gebaut. Keine moderne Produktionsstraße, eher alles Handarbeit, die von Maschinen unterstützt wird. Jedes einzelne Loch im Blech wird per Hand mit dem Schweißbrenner gefertigt. Die Funken fliegen durch den Raum, jetzt weiß ich, warum ich eine Schutzbrille tragen muss. An dieser Stelle mache ich das einzige Foto. Alles mal wieder streng geheim, wie bei den Amish. In die Halle, wo der Hummvie für den Irak gebaut wird, darf ich gar nicht rein.
Hier ist es Zeit für einen Blick in die U.S.-Arbeitswelt. Wer neu anfängt, hat ein Jahr keinen Urlaub, später eine Woche im Jahr, altgediente zwei Wochen. In der TV-Station fangen alle um halb 9.00 Uhr an und gehen frühestens um 19.00 Uhr. Gerade heute bekam ich ein Gespräch der Redaktionsleiter mit, in dem darüber diskutiert wurde, wer wie lange Lunchpause macht und trotzdem noch produktiv ist. EINE Redakteurin schreibt und produziert eine halbstündige Newsshow. Ganz schön happig.
Am Ende der Woche werden zwei Tornados gemeldet: Der erste um 20.00 Uhr, der zweite um 22.00 Uhr. Die Leute bei WNDU senden eine halbe Stunde um 23.00 Uhr und bereiten in der Nacht das Frühprogramm vor. Ich fahre am nächsten Vormittag mit einem Team nach Napanee und sehe ein großes verwüstetes Gebiet: 200 Häuser kaputt, auf dem Gelände eines Wohnmobilbauers liegen die Fahrzeuge kreuz und quer, zum Teil mit den Reifen nach oben. Entwurzelte Bäume, Holzstücke mit Wucht in Wände gerammt, aber zum Glück ist niemand verletzt. Auf den Dächern räumen Einwohner halbe Bäume weg, die aufgestellten Container füllen sich mit Schutt. Eine gespenstische Szenerie.
New York
Die Sonne scheint. Ich fahre mit dem Bus in die Hamptons — das Wochenendziel reicher New Yorker. Entsprechend schick ist die Einkaufsmeile in Easthampton, entsprechend groß die Fahrzeuge auf der Straße und die Hüte der Frauen mit breiten Gürteln. Einen soliden Starbucks finde ich auch hier. Gut mit Cafe Latte und Keksen ausgestattet bringt mich ein Taxifahrer an den Strand. Schön wie auf Sylt. Die Holzbank bei den Dünen gehört den sonnigen Nachmittag über mir.
In der Woche treffen wir einen, der weiß, worauf es hier ankommt: cash. Wir sitzen im eindrucksvollen Konferenzraum in der Avenue of the Americas bei Gary Ginsberg, senior executive bei der News Corporation — dem Laden von Rupert Murdoch. TV-Sender, Zeitungen, Radiostationen, Internet-Portale weltweit und dann gleich in hunderter Stückzahl. 8 Millionen Dollar Gewinn macht die Company in diesem Jahr, so die Schätzung von Gary. Auf unseren investigativen Kommentar, dass FOX News sehr konservativ ist und den Republikanern in die Hände spielt, meint er: Wem das nicht passt, der kann ja abschalten. Das Magische an dem Fernsehmarkt in den Staaten sei ja die freie Auswahl unter sehr vielen Programmen. Wir haken noch mal nach, keine Chance. Gary ist voll drauf, arbeitet, sobald er wach ist, und erhält von australischen Geschäftspartnern auch nachts die Mails. Exciting, so Gary, er möchte nicht als Anwalt sein Geld verdienen. Rupert gibt übrigens die Richtung vor. Und wenn der alte Mann nicht mehr ist? Keine Sorge, es gibt einen starken Zweiten und einen Sohn.
Nach einer Lunch-Pause in der Central Station treffen wir einen aus dem Architektenteam des Freedom Towers. Eindrucksvoll, was da auf dem Ground Zero entstehen wird. Bis 2011 soll der gesamte Komplex fertig sein. An der Stelle, wo die Twin Towers standen, soll es zwei Wasserbecken geben, in die ständig Wasser fließt. Der Fluss des Lebens. Für die Entwicklung des 540 Meter hohen Freedom Towers hat Daniel Libeskind den ersten Preis gewonnen, bauen wird er ihn nicht. Er hat sich mit Behörden und anderen Leuten überworfen. Was genau dahinter steckt, will uns Sang-Won Lee nicht erzählen. Es ist aber insgesamt toll, die aktuellen Pläne aus erster Hand zu erfahren. Diese Informationsmappe findet ihren Weg in den Koffer.
Abends schau ich mir mit Anne-Kathrin „König der Löwen“ auf dem Broadway an. Eine fulminante Aufführung. Die Tickets für 51 Euro, spontan am ersten Tag geschossen, sind ihren Preis wert. Auch in der vorletzten Reihe sieht man nämlich prima.
Nachtrag: Kaum wieder im Dienst bei der Tagesschau in Hamburg sehe ich George Bush vor der Kulisse der Heritage Foundation. Ich weiß jetzt, woher der Wind weht. Toll.
———
Monika Dittrich, Deutsche Welle
Washington D.C.: Die besseren Amerikaner
„Erstens sind wir amerikanische Patrioten, zweitens sind wir Muslime.“ Der Satz kommt mit überraschender Beiläufigkeit aus dem Mund der jungen Safiya Ghori. Im dunklen Hosenanzug steht sie da, die schwarzen Haare fallen über ihre Schultern, die Füße stecken in Flipflops. Es sei doch gar kein Gegensatz, ein Moslem zu sein und gleichzeitig ein überzeugter Amerikaner, schickt sie hinterher. Safiya Ghori arbeitet für die Organisation „Muslim Public Affairs Council“ (MPAC), die sich für die Bürgerrechte amerikanischer Muslime einsetzt. Jetzt sitzen zwölf deutsche Journalisten im Washingtoner Büro von MPAC und Safiya erklärt, wie sie sich um gute Beziehungen zu den Mächtigen in der amerikanischen Hauptstadt kümmert. Wir hören, dass sich die muslimischen Einwanderer erstaunlich gut mit ihrer neuen Heimat Amerika arrangiert haben — auch und gerade nach dem 11. September 2001. Fast scheint es, als wollten sie beweisen, dass sie die besseren Amerikaner sind.
So wie der ägyptische Taxifahrer, der mich eines Abends durch die Stadt kutschiert. Ob er sich als Amerikaner fühle, will ich von ihm wissen. Als was er sich denn sonst fühlen solle, gibt er etwas beleidigt zurück. Seit zwanzig Jahren lebe er „in this great country“, nach nur einem Jahr habe er sich heimisch gefühlt und gutes Englisch gesprochen. Seine Kinder seien auf amerikanischem Boden geboren. Er habe dieses Land mit aufgebaut und gehöre als U.S.-Citizen selbstverständlich dazu. Integration wie aus dem Bilderbuch — davon kann so manche deutsche Großstadt nur träumen.
Soweit die Erfolgsgeschichte. Die andere Seite der Medaille spricht Spanisch, fühlt sich in Amerika wenig zu Hause und hisst mancherorts lieber die mexikanische Flagge als die obligatorischen „Stars and Stripes“. Die Hispanics sind die größte Minderheit in den USA, 40 Millionen Menschen aus Lateinamerika leben in den Vereinigten Staaten, viele von ihnen ohne gültige Aufenthaltsgenehmigung. Die größte Interessenvertretung der Hispanics in den USA heißt „La Raza“. Hier hören wir vom mühsamen Kampf für die Rechte der Latinos, vor allem für diejenigen, die illegal in den USA leben. Wir erfahren von Eltern, die abgeschoben werden, während ihre amerikanischen Kinder allein in den USA zurückbleiben. Von Menschen, die ausgewiesen werden und doch immer wieder zurückkehren, egal wie lebensgefährlich der Weg über die abgezäunte und streng gesicherte mexikanisch-amerikanische Grenze auch sein mag.
Warum aber fällt es den Menschen aus Lateinamerika anscheinend so viel schwerer, sich in die amerikanische Gesellschaft zu integrieren? Warum sprechen sie oftmals nach Jahren noch immer nur gebrochenes Englisch? Viele Fragen bleiben auch bei „La Raza“ unbeantwortet. Nur eins ist klar: Einwanderungspolitik gehört auch in Amerika inzwischen zu den größten innenpolitischen Zankäpfeln.
Honolulu, Hawaii: Schatten im Paradies
Das Meer rollt mit weißen Schaumkrönchen an den Strand, unter den Füßen knirscht der feine Sand und die saftig grünen Palmen rascheln im lauen Wind. Hawaii sieht wirklich aus wie in den Hochglanzbroschüren der Reisebüros, und es fühlt sich auch so an. Bis man nach Waienae fährt. Dort wölbt sich ein Schatten über das Paradies, und den spürt man spätestens, wenn die ersten Zelte am Strand zu sehen sind. Eigentlich sind es nur aufgeständerte Planen und zerschlissene Papphütten. Hunderte oder vielleicht sogar Tausende Obdachlose hausen hier.
Waienae liegt im Westen der Hauptinsel O’ahu; es ist die Heimat vieler Ureinwohner und zugleich so etwas wie das Armenhaus von Hawaii. Touristen kommen nicht hierher, sie sind gewarnt durch ihre Reiseführer und haben Angst vor Kriminalität und Drogen. Denn in Waienae gibt es all diese traurigen Negativrekorde, wenn es um Armut und Arbeitslosigkeit, um Schulabbrecher und Teenagerschwangerschaften geht.
Wir verdanken es unserem Host Tom Brislin, dass wir auch diese andere Seite des Pazifikparadieses kennen lernen. Tom ist Professor für Kommunikation an der University of Hawaii. „Wir werden ein phänomenales Highschool-Projekt besuchen“, hatte er angekündigt, und damit wohl auch eine phänomenale Lehrerin gemeint. Denn die resolute Candy Suiso hat es in ihrer Schule geschafft, den Teufelskreis aus schlechter Bildung, Armut und Hoffnungslosigkeit zu durchbrechen.
Candy Suiso war einmal Spanischlehrerin, und in ihrem Unterricht benutzte sie ab und zu eine Videokamera. Die Schüler sollten sich gegenseitig filmen und in kleinen Rollenspielen die spanischen Vokabeln anwenden. Als Candy erkannte, wie viel Spaß die Jugendlichen mit der Kamera hatten und wie engagiert sie damit umgingen, kam sie auf die Idee, ein Multimedia-Projekt zu starten. Das ist inzwischen dreizehn Jahre her, und aus dem kleinen Projekt ist eine große Erfolgsgeschichte geworden. Heute drehen Candys Schüler eigene Werbefilme und Musikvideos, sie gestalten Internet-Seiten und haben ein Schulradio aufgebaut, sie produzieren Zeichentrickfilme und räumen so ziemlich alle Preise ab, die es in diesem Bereich zu holen gibt. Ehemalige Schüler haben inzwischen sogar eine kleine Produktionsfirma gegründet, um mit den professionellen Filmen auch ein bisschen Geld zu verdienen.
„I adore her“, sagt die 17jährige Schülerin Martinea über ihre Lehrerin Candy. Sie habe ihr gezeigt, dass die Menschen in Waienae nicht dumm und benachteiligt seien und dass sie selber etwas bewegen könnten.
Grand Rapids, Michigan: Support our radio!
„Was ist Ihnen Ihr Radioprogramm wert?“ — diese Frage stellen die Moderatoren immer wieder. So, oder so ähnlich. Eine Woche lang füllen sie mindestens ein Viertel ihrer Sendezeit bei WGVU Radio mit dem Betteln um Geld. „Es tut mir leid, dass wir ausgerechnet in dieser Woche unseren Pledge Drive haben“, begrüßt mich mein Host Fred Martino entschuldigend. Und macht damit klar, dass die Radiomacher die große Spendenwoche ebenso sehr hassen wie viele Hörer.
Zweimal im Jahr müssen sie das machen, müssen emotional, witzig, kess, seriös oder ernst um kleine und große Dollerbeträge bitten, müssen über die tollen „giveaways“ wie Tassen, T-Shirts oder Teddybären plaudern. Im Hinterzimmer sitzen Freiwillige an den altmodischen Telefonen und nehmen die Anrufe der Hörer entgegen; sie bedanken sich überfreundlich für jeden eingehenden Dollar. An der gegenüberliegenden Wand hängt ein Zettel mit der Erinnerung: „Dein Lächeln kann man hören. Auch übers Telefon.“
Wer aus dem gelobten Land des gebühren- und steuerfinanzierten Rundfunks kommt, kann es kaum glauben: 65 (!) Prozent seines Budgets bestreitet der kleine NPR-Sender WGVU aus den Spenden der Hörer. Eine Woche „Pledge Drive“ erzählt viel über den Zustand des öffentlichen Rundfunks in den USA. Bei WGVU Radio füllen nur drei Redakteure täglich mehrere Stunden Sendezeit. Sie kämpfen permanent um Qualität im Programm, obwohl für ausgiebige Recherchen, Reisen und Reportereinsätze weder Zeit noch Geld da ist. Aber: Eine Woche „Pledge Drive“ erzählt auch viel über die selbstverständliche Spendenbereitschaft der Amerikaner und die Überzeugung, dass der Staat sich nicht in Dinge einzumischen hat, die die Bürger selber regeln können.
New York City: Im Land der Widersprüche
Schneller atmen, schneller gehen, schneller sprechen. Das ist mein erster Eindruck von New York City. Eine Großstadt, wie ich noch keine zuvor gesehen habe. Ich fühle mich wie die Heidi von der Alm, überwältigt von Hochhäusern und Menschenmassen, von gelber Taxiflut und Lärm. Merkwürdig: Ich habe das Gefühl, jede Ecke und jedes Gesicht schon einmal gesehen zu haben — im Kino, im Fernsehen, in der Werbung. Mein erster Kontakt mit New York zeigt mir einmal mehr, wie globalisiert unsere Vorstellungen und Bilder von Amerika sind.
Und doch gibt es so viele Überraschungen. Da waren die Teenager in einer Highschool in Hoboken, New Jersey, die so gut wie nie nach Manhattan fahren, aber von einer Zukunft fernab von New Jersey träumen. Da war diese große Wunde Ground Zero, deren Schmerz zugeschmiert wird von geschäftigen Bauarbeitern und gaffenden Touristen. Da war dieser gesprächige Herr auf dem Flughafen, der mir erklärte, er denke mit Todesangst an Hillary Clinton und ihre Idee einer „sozialistischen“ Krankenversicherung. Oder diese interessierte Dame mit Universitätsabschluss, die mich fragte, ob wir in Germany denn auch schon Internet hätten. Und dann war da noch der fantastische Opernabend in der Met mit erstklassiger Musik, mit langen Abendkleidern und kostbaren Juwelen und Champagner aus dem Plastikglas. Amerika: ein Land der Widersprüche!
Fazit
Vier Wochen Amerika. Vier Wochen ein Trichter auf dem Kopf, in den ständig neue Erfahrungen und Erlebnisse eingefüllt werden. Klischeevernichter und Horizonterweiterer, Geraderücker und Neugierigmacher. Ich habe viel gelernt über dieses Land und seine Menschen, über Europas skeptische Liebe zu Amerika und unsere Vorurteile, die meistens nicht mal einen wahren Kern haben. Ich danke allen, die diese Reise zu einer großartigen Erfahrung gemacht haben: Isabell Hoffmann, Sandra Fettke und Rainer Hasters in Berlin, die immer ansprechbar waren und auf jede Frage eine Antwort wussten. Jon Ebinger in Washington und New York, der ein spannendes Programm für unsere Gruppe ausgeheckt hat. Tom Brislin in Honolulu, der uns mit dem Aloha-Feeling infiziert hat. Und nicht zuletzt Fred Martino, der neben seinen Aufgaben als Nachrichtenchef, Moderator und Universitätslehrer viel Zeit für mich und meine Fragen hatte.
Danke, RIAS!
———
Anne-Katrin Gottschling, Rundfunk Berlin-Brandenburg
Ich hasse frühes Aufstehen. Es ist 6:00 Uhr morgens. Draußen ist es stockdunkel, schweinekalt und wir sind mitten in der Pampa im Süden Utahs. Mein Körper fühlt sich an wie ein Autowrack: ziemlich zerknautscht. Eine knappe Stunde später stehe ich am Rand des Bryce Canyon, und bei minus 10 Grad Celsius erlebe ich den schönsten Sonnenaufgang meines Lebens. Wahnsinn. Bin ich froh, so früh aus dem Bett geklettert zu sein. Neben mir frieren Boris und Sylvia. Mit ihnen zusammen meistere ich das Abenteuer Mormonenstaat Utah: unendliche Weiten und überwältigende Landschaften gepaart mit der einmaligen Erfahrung, eine Religion kennen zu lernen, die uns bis dato fremd war.
Einige Tage zuvor saßen wir bei einem der zwölf Apostel der Mormonen, Dieter Uchtdorf, im Büro. Der war mal Chefpilot bei der Lufthansa, wurde dann zum Apostel berufen und lebt seitdem in Salt Lake City. Die Brigham Young Universität in Provo, eine knappe Stunde von Salt Lake City entfernt, ist DIE Mormonen-Uni schlechthin. 30.000 Studenten studieren hier, fast alle gehören zur Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage. Diese Kultur ist faszinierend: irgendwie unheimlich und sympathisch zugleich. An der Uni sind die Studenten nett, offen, gebildet (Mormonen sprechen wegen ihrer Missionen mindestens eine Fremdsprache fließend) — und fast alle verheiratet. Das ist bei den Mormonen so, die Familie ist das oberste Gut — es scheint alles ein bisschen zu perfekt. Alkohol trinken sie nicht, Kaffee auch nicht. Aber von wegen Mission Impossible: Wenn man will, bekommt man natürlich auch Kaffee oder Bier in Utah. Auch in Provo gibt es einen Starbucks, und Bier bekommt man entweder im Restaurant (aber nur, wenn man auch was isst), oder man fährt wie wir in einen stinknormalen Supermarkt, kauft sich ein Sixpack und genießt sein Bierchen im Hotelzimmer. Ungewöhnlich, aber zweckdienlich.
Nach der Woche in Utah fliege ich allein nach Tampa und bekomme einen Klimaschock: nach den winterlichen Temperaturen in Utah erwarten mich in Florida flotte 30 Grad. Kerry bei der lokalen Station der Sendergruppe ABC erwartet mich ebenfalls. Sie zeigt mir in dieser Woche, wie die Amerikaner Fernsehen machen: Die Reporter fahren raus, drehen und bringen dann ratzfatz eine Geschichte zu Papier. Ja, zu Papier, denn die Bilder schneidet der Cutter allein, nachdem der Reporter ihm seinen Text gegeben hat. Bei ABC in Tampa besteht ein Team aus zwei Leuten: Reporter und Kameramann. Tonassistenten gibt’s nicht, und um es noch effizienter zu machen, ist der Kameramann auch gleichzeitig der Cutter. Meine Mission hier ist es, den stellvertretenden Chefredakteur der Station davon zu überzeugen, dass der Rundfunk in Deutschland nicht der Regierung gehört, obwohl es Rundfunkgebühren gibt. Aber gegen sein polterndes: „Ihr werdet doch von der Regierung kontrolliert, deshalb könnt ihr doch gar nicht über alles frei berichten, und schon gar nicht objektiv!” gibt es kaum ein Ankommen. Ich gebe mir redlich Mühe, ihm klar zu machen, dass das Gegenteil der Fall ist. Wirklich überzeugt ist er am Ende aber nicht. Das ist offensichtlich eine Mission Impossible.
Ich war schon einige Male vor dieser Reise in den USA, so dass ich eigentlich dachte, ich kenne den ‚American Way of Life’ ganz gut. Diese Reise aber hat mir bewiesen, dass ich diesbezüglich niemals fertig sein werde. Während der Wochen in Washington und New York habe ich mit Vertretern von Organisationen gesprochen, die ich aus meinem Studium kannte, wie das American Jewish Committee und die NAACP, die Association for the Advancement of Colored People, dessen Chef im DC Büro, Hilary Shelton, dauernd sagte: „Does that soun’ gooood?!“ und “Aaaamen!“ Ich habe erlebt, wie sich ein deutscher Minister im Ausland blamiert hat, und hatte die Gelegenheit, mit dem deutschen Botschafter zu plaudern. Ein deutscher Minister, ein deutscher Botschafter und ein deutscher Mormonen-Apostel: wann bekommt man sowas schon mal geboten?
Vier Wochen, nachdem ich in Berlin losgeflogen war, sitze ich wieder im Flieger gen Heimat. Fliegen finde ich fast genauso doof wie frühes Aufstehen. Weil mich die krassen Temperaturwechsel der letzten vier Wochen — Sommer, Winter, wieder Sommer und dann Herbst — in die Knie gezwungen haben, bin ich mit Taschentüchern, Hustenbonbons und einem „Vicks Vaposteam Inhaler“ bewaffnet. Mein lautes Husten stört meinen Vordermann. Doch das ist mir egal. Denn nach dieser Reise, die hinter mir liegt, genieße ich ausnahmsweise mal den Flug.
———
Björn Heckmann, RTL
Washington D.C. — Honolulu — Atlanta — New York
Ein langer Gang mit schweren Holztüren, mit Namensschildern wie „Edward Kennedy“, „John Kerry“ oder „Nancy Pelosi“. Ein Kongressabgeordneter, der berichtet, dass Demokraten und Republikaner dort zwar miteinander ringen, dass der „wahre Feind“ aber der Senat sei. Eine Vertreterin der U.S.-Hispanics, nach deren Einschätzung die Einwanderungsgesetze der USA „einfach keinen Sinn“ machen.
Eine Senatorin in kurzen Hosen und Flip-Flops, die einem Fernsehteam ein Interview gibt. Ein freundlicher Professor, der mindestens jeden dritten Menschen auf „seiner“ Insel kennt, uns Blumenkränze um den Hals legt und uns als „drei meiner neuen besten Freunde“ bezeichnet. Eine High-School-Lehrerin, die die Welt unzähliger Schüler zum Besseren verändert hat.
Ein Kamerareporter als Einzelkämpfer, dessen Bilder eines verschwundenen Sees um die Welt gehen. Eine Nachrichtenfabrik, deren Fernsehprodukt nach den Qualitätskriterien einer Manufaktur hergestellt wird. Ein regionaler TV-Markt, in dem der Kampf um Quoten auch per Polizeifunk und Hubschrauber gefochten wird.
Eine Kirche, in der gelacht und applaudiert wird. Eine High School, in der man sich auf „Jon and the Germans“ freut und in deren Turnhalle Universitäten genauso mit Informationsständen um die Schüler werben wie Model-Agenturen, Nationalgarde und US Marines. Eine Stadt, die so unendlich viele Facetten hat wie das Land, durch das ich einen Monat lang reisen durfte.
All das sind nur einige der unzähligen Eindrücke, die ich in vier Wochen USA gesammelt habe, die meinen Horizont erweitert und meine Sichtweise verändert haben. Vier Wochen RIAS-Programm in den Vereinigten Staaten, vier Wochen mit vier sehr unterschiedlichen Perspektiven. Doch der Reihe nach:
Washington D.C.
Man stelle sich einmal vor, über die Friedrichstraße in Berlin führe ein Betonmischtransporter, auf dem sich in riesigen Buchstaben die Aufschrift „Wir unterstützen unsere Bundeswehr“ zu lesen ist. Oder man sähe in Hamburg die Filiale einer Drogeriekette, in deren Fenster ein großes Schild mit der Aufschrift „Vereint stehen wir zusammen“ platziert ist. Kaum vorstellbar in Deutschland, völlig normal und real in den USA. So gesehen und geschehen in Washington D.C.
Vieles ist anders in diesem Land, in dem ein Präsidentschaftskandidat ohne deutliches Bekenntnis zur Religion von Anfang an zum Scheitern verurteilt wäre. Einem Land, das sich im Gegensatz zu Westeuropa seit Jahrzehnten quasi permanent im Kriegszustand befindet.
Während mit beeindruckenden Erinnerungstafeln, Statuen und Namenslisten beispielsweise der im Vietnam- oder Korea-Krieg gefallenen Soldaten gedacht wird, und obwohl das Land unter permanenten Hiobsbotschaften aus dem Irak ächzt, hören wir aus den unterschiedlichsten Richtungen, von Journalisten, Politikern, Interessenverbänden, dass der nächste Krieg, diesmal mit dem Iran, wohl nur noch eine Frage der Zeit sei. Krieg als Mittel der Politik scheint hier oft nicht nur allgegenwärtig, sondern auch fast schon selbstverständlich zu sein.
Umso spannender und aufschlussreicher ist es deshalb auch, in Washington mit Menschen zu sprechen, die mit dem derzeitigen Präsidenten und seiner Politik alles andere als einverstanden sind. Die den Tag offenbar herbeisehnen, an dem diese Amtszeit vorbei ist. In der Hoffnung, dass sich dann etwas ändern wird. Nicht alle tun ihre Meinung allerdings so ausdauernd und eindrucksvoll kund wie jene Frau, die auf der Pennsylvania Avenue an prominenter Stelle ihr Zelt aufgeschlagen hat und so Tag und Nacht vor dem Weißen Haus gegen George W. Bush, seine Regierung und den Krieg protestiert.
Wir lernen viele Sichtweisen kennen, viele Einschätzungen darüber, wie Amerikaner sich selbst sehen und was es bedeutet, „Amerikaner“ zu sein. Und ganz gleich, ob es die Sichtweise der Afroamerikaner ist, die der amerikanischen Muslime oder jene von Politikern und Medienkollegen: Für alle steht es außer Frage, dass sie sich vor allem als Amerikaner fühlen, erst in zweiter Linie als Moslem oder Jude, als europäischer oder afrikanischer Einwanderer.
Honolulu / Oahu, University of Hawaii
Es gibt vieles, was auf dieser Insel, sechs Flugstunden vom Festland entfernt, zu finden ist. Nur eines sicher nicht: Das schnelle, das oberflächliche Amerika. Weit weg die Hektik, die rasante, manchmal aggressive Geschwindigkeit großer U.S.-Metropolen. Wohl nie zuvor sind wir beim Autofahren so oft von freundlichen Fahrern vorgelassen worden, wenn wir einmal mehr zunächst auf der falschen Abbiegespur fahren. Auf der hawaiianischen Insel Oahu geschieht das dutzendfach, immer wieder. Ganz gleich, wie chaotisch wir erst nach links, dann geradeaus und dann doch wieder links abbiegen wollen. Die Menschen sind ganz grundsätzlich entspannter hier, so scheint es. Das Leben hat ein anderes Tempo.
Wohl nur hier ist es innerhalb der USA denkbar, ohne Anmeldung, ohne Ausweis, ohne Sicherheitskontrolle mit dem Auto in die Tiefgarage des Capitols zu fahren, im Aufzug beispielsweise auf „Senate“ zu drücken und dann mit unserem fantastischen Gastgeber Prof. Tom Brislin umherzuwandeln. Ein spontaner Besuch im Büro des Gouverneurs ist da ebenso problemlos möglich wie das zufällige Treffen mit einer Senatorin, die in kürzesten Jeans und mit Flip-Flops bekleidet gerade einem lokalen TV-Sender ein Interview gibt. Selbstverständlich haben alle (Reporter und Senatorin) danach Zeit für ein kurzes Gespräch mit den Besuchern aus Deutschland. Keine Spur hier von grimmigen Sicherheitsbeamten, von Kontrollen, von der stets latent präsenten Angst vor Angriffen, die in Washington oft zu spüren war. Hawaiis Bürgermeister formuliert es so: „Security is necessary, sure. But don’t forget hospitality!”
Keineswegs aber ist Hawaii die Insel der Gastfreundschaft und Glückseligkeit für alle, die hier leben. Denn es gibt tatsächlich so etwas wie die „andere Seite des Paradieses“: Wir fahren mit Tom Brislin die Westküste von Oahu entlang. Für Touristen gar keine gute Idee, wie jeder gedruckte Reiseführer eindringlich warnt. Denn die Strände sind zwar auch hier wunderschön, das Meer und die Wellen genauso einladend wie anderswo auf der Insel. An der Westküste allerdings leben Obdachlose am Strand. In Blechhütten, in Zelten, unter Planen, unter freiem Himmel. Alte Autositze im Sand markieren das Wohnzimmer jener Inselbewohner, die hier unterhalb des Existenzminimums leben. Eine Seite der Insel, auf der die Arbeitslosenquote höher ist als anderswo; auf der Schüler nach dem Abschluss schlechte Aussichten auf eine qualifizierte Arbeit haben.
An der Waianae High School ist das anders. „One person can make a difference.“, verspricht die amerikanische Legende so gern. Und tatsächlich: Solche Personen gibt es. Eine davon heißt Candy Suiso, ist Lehrerin und hatte eines Tages die Idee, Schülern ein Angebot zu machen. Sie können in zusätzlichen Kursen lernen, wie man mit TV-Kameras und Schnittprogrammen umgeht, wie man Animationen am Computer produziert, wie man hochwertige Fernsehbeiträge, Filme und Werbespots herstellt. Die Schule wird seither mit Preisen überhäuft, ehemalige Schüler kehren an ihre Schule zurück und geben ihr Wissen an die nächste Generation weiter oder arbeiten in einer neu gegründeten Firma, die im Auftrag von Unternehmen DVDs, Filme und TV-Spots produziert. Eine beeindruckende Erfolgsgeschichte über Eigeninitiative, Hoffnung und den standhaften Glauben daran, etwas verändern zu können.
Atlanta, Georgia (WXIA-TV, CNN, CBS 46)
Der erste Tag in Atlanta beginnt im Newsroom von WXIA-TV, einem lokalen Sender des NBC-Networks. Nach der im Stehen abgehaltenen Themenkonferenz am Newsdesk-Tresen macht sich Reporter Jerry Carnes auf zum Lake Allatoona, einem inzwischen nur noch „ehemaligen“ See, von dem außer einem Rinnsal und auf dem Trockenen liegenden Stegen wenig übrig geblieben ist. Georgia gehört zu jenen Staaten im Südosten der USA, die eine nie erlebte Dürreperiode erleben. Man streitet sich über die Wasserlieferungen beispielsweise nach Florida, weil das Wasser hier immer knapper wird. Wir treffen den Besitzer eines ehemaligen Uferrestaurants, dem wegen der Trockenheit der See abhanden gekommen ist. Seine Kundschaft bleibt aus, die Schiffstankstelle liegt auf dem Trockenen, er muss immer mehr Personal entlassen. Eine greifbare Geschichte über die wirtschaftlichen Auswirkungen der Dürre in Georgia.
Jerry, der seit 25 Jahren als TV-Journalist arbeitet und seit kurzem als so genannter Backpack-Reporter unterwegs ist, macht alles allein. Er telefoniert pausenlos und macht Interviewtermine ab, während er sein Auto mitsamt Kameraausrüstung zum nächsten Drehort steuert. Er dreht seine Bilder selbst, er nimmt die Texttonspur seines Beitrags selbst auf, schneidet seine Beiträge und präsentiert sie jeweils live als Reporter vor Ort. Einzige Unterstützung: Der Sende-Truck, der zur Überspielung und Live-Schalte am Nachmittag eintrifft. Ein Blick in die Zukunft des Fernsehens? Neidlos muss man anerkennen, dass das Ergebnis sich zumindest in diesem Falle durchaus sehen lassen kann. Die Bilder des vom ausgetrockneten See abgeschnittenen Restaurants beispielsweise hat Jerry so eindrucksvoll in Szene gesetzt, dass sie in den folgenden Tagen nicht nur USA-weit bei NBC zu sehen sind, sondern auch von CNN immer wieder gezeigt werden.
Dort allerdings sind sie nur ein winziger Baustein, eine kleine Minute Rohmaterial für die Nachrichtenfabrik, die nicht nur die USA, sondern auch den „Rest der Welt“ mit aktuellem Fernsehen versorgt. In einer Ecke des Großraum-Newsrooms sitzt mein Host Mark Engel. Er arbeitet in einer Abteilung, die mit Respekt und Ehrfurcht „The Row“ genannt wird. Hier werden alle Texte der Reporter redigiert, bevor sie über den Sender gehen. Zahlen, Fakten, Namen werden von Rechercheuren überprüft, Formulierungen erhalten durch Kollegen wie Mark so etwas wie den letzten „Feinschliff“.
Sehr viel kleiner als die riesige Redaktion für das Inlandsprogramm ist der Newsroom von CNN International. Jenes CNN, das beispielsweise Europäer zu sehen bekommen, hat weniger Mitarbeiter, das Themenspektrum ist dagegen deutlich internationaler. Ruhiger geht es hier zu, auch die Moderatoren sitzen nicht inmitten des Großraumbüros, sondern genießen den Luxus eines abgeteilten, „eigenen“ Studios. International sind übrigens auch die Moderatoren: Aus Kanada, Europa, Asien, Südamerika. Gemein ist ihnen allen eine fast unglaubliche Professionalität, mit der sie sich oft über lange Passagen des Live-Programms völlig frei, ohne Teleprompter durch die Sendung bewegen.
Auch die Multimediaseite der Berichterstattung wird bei CNN mit aller Konsequenz umgesetzt. Für CNN.com produzieren die Kollegen täglich acht Stunden moderiertes Live-Programm. Quasi ein eigener Sender nur für das Internet. Permanent sich verändernde Sendeabläufe mit mehr als fünfhundert Programmpunkten für eine zweistündige Sendung sind nur ein Indiz des atemberaubenden Tempos, mit dem hier gearbeitet wird.
Anders, allerdings keinesfalls ruhiger geht es bei CBS46 zu, einem weiteren der in Atlanta konkurrierenden Lokal-TV-Sender. Aus sechs Lautsprechern krächzt ununterbrochen der örtliche Polizei- und Feuerwehrfunk. Jeder Unfall, jeder Stau könnte das nächste Top-Thema werden. Jeder 911-Anruf bei der Polizei die nächste große Crime-Story. Der für TV-Sender in Atlanta obligatorische News-Hubschrauber von CBS46 ist ständig in der Luft, überträgt permanent Bilder von Verkehrsunfällen, Staus und Polizeieinsätzen. Lokale „Breaking News“, die die Sendung auf den Kopf stellen, gibt es hier täglich. Jeannette Jordan, die mir in dieser Woche ihr Atlanta und ihren Sender CBS46 zeigt, hält während der Sendung den Kontakt zu den Live-Reportern. Fast jeder Beitrag wird in Live-Schalten der Reporter eingebettet und es kann passieren, dass eine Kollegin (wie an diesem Tag) erst von einem Prozess über Kindesmissbrauch und eine Stunde später über einen schweren Highway-Unfall berichtet. Übrigens nicht das letzte Thema ihres heutigen Arbeitstages, denn nach der Live-Schalte vom Stau blickt sie neben die Kamera und sagt: „Da hinten brennt es! — Soll ich hinfahren?“
New York
Während in Washington D.C. nahezu jede Strecke (zumindest laut Jon Ebinger) zu Fuß in „twenty minutes“ zu bewältigen war, ist es in New York bekanntermaßen ratsam, sich zuweilen in den Untergrund zu begeben, um zügig von der Stelle zu kommen. Das Spannende daran ist, dass es jedes Mal völlig anders aussieht, wenn man wieder ans Tageslicht klettert. Steigt man in Downtown Manhattan aus, ist ein direkter Blick zum Himmel meist schon aus architektonischen Gründen äußerst schwierig. Die Straßen sind voller hektischer Anzugträger auf dem Weg ins nächste Hochhaus. Um sich verständlich zu machen, müssen selbst erfahrene Stadtführer fast permanent aus Leibeskräften gegen den Lärm anbrüllen.
Entsteigt man dagegen in Harlem den U-Bahn-Schächten, dann geht es (besonders an einem frühen Sonntagmorgen) deutlich ruhiger, aber auch sehr viel weniger glamourös auf den Straßen zu. Dieses Bild hat, wie es scheint, so gar nichts mit jenem gemein, das sich geboten hatte, als man eine halbe Stunde vorher in die U-Bahn gestiegen war. Eine andere Stadt, eine andere Seite von New York. In der Abyssinian Baptist Church wird der Gottesdienst im wahrsten Sinne des Wortes „gefeiert“: Hier wird aus vollem Hals gesungen, hier wird gelacht und applaudiert — für den Gospel-Chor und sogar für die Journalistenbesuchergruppe aus Germany. Nicht nur dafür hat sich das frühe Aufstehen gelohnt.
Ein weiterer, wieder ganz anderer Tag mit einem völlig anderen Stadtbild beginnt ähnlich früh in der High School von Hoboken in New Jersey. „Jon and the Germans are coming“ steht für den heutigen Tag auf der Tafel und die deutsche Fahne hängt im Klassenraum. Heute zwar mal falsch herum, aber der gute Wille zählt! Auch hier wird bei den sehr offenen Gesprächen besonders deutlich, dass es „das Amerika“ genauso wenig gibt wie „den Amerikaner“ oder „die Amerikanerin“. Alle Schüler der Klasse haben familiäre Wurzeln in jeweils bis zu vier verschiedenen Ländern aus den unterschiedlichsten Regionen der Erde. Ihre Familien stammen aus Südamerika oder Europa. Die Jugendlichen wollen Lehrer werden oder Zahnarzt, einer auch Soldat. Zu Beginn der Unterrichtsstunde legen sie alle ganz selbstverständlich für die USA ihre Hand aufs Herz.
Das Land, in dem sie leben, ist so vielfältig, dass es sich einem Besucher wohl nie völlig erschließen wird. Es ist voller Widersprüche, aber auch voller faszinierender Facetten. Washington, Honolulu, Atlanta, New York: Vier Varianten der USA, vier Wochen, in denen ich mich dieser Nation auf jeden Fall angenähert habe. Ich habe unendlich viel Gastfreundschaft erfahren, unendlich viele Einblicke erhalten, wertvolle Kontakte geknüpft und vor allem Menschen kennen gelernt. Nicht nur der berühmte „große Teich“, auch die „gefühlte“ Distanz zwischen den USA und Europa ist ein ordentliches Stückchen kleiner geworden!
———
Gabriele Kostorz, Norddeutscher Rundfunk
„Don’t meet Americans, go and meet people“ — gibt uns Jon Ebinger gleich am ersten Tag mit auf den Weg. In vier Wochen Rundreise durch die Vereinigten Staaten treffen wir höchst unterschiedliche Menschen: überzeugte Individualisten, engagierte Teamworker, Demokraten, Republikaner, Bush-Hasser, Bush-Freunde. Nicht alle sind Amerikaner, aber sie alle sind Amerika. Doch der Reihe nach.
David Bohrman (Washington DC). Der Studioleiter von CNN Washington sieht mit seinem weißen Hemd und schwarzen Hosenträgern wie eine fülligere Ausgabe von Larry King aus. Er könnte auch einem Film der 40er Jahre entsprungen sein — so wie sich Deutsche eben einen amerikanischen Journalisten vorstellen. Doch er verkörpert das moderne Fersehen. CNN, in den USA eher ein Spartensender, will die Präsidentschaftswahlen nutzen, um die politische Berichterstattung neu zu erfinden. Gerade haben sie eine TV-Debatte mit den acht Kandidaten der Demokraten übertragen. Sonntag Abend zur besten Fernsehzeit, 3000 Zuschauer haben ihre Fragen als Film über YOU TUBE eingeschickt. Kleine und große Fragen, drei Millionen Menschen haben zugesehen. Stolz präsentiert uns Bohrman sein neuestes Spielzeug, den „portable newsroom“ — ein großer Truck, der Nachrichtenbilder aus aller Welt nicht nur senden, sondern auch empfangen kann, in dem Beiträge produziert und abgesetzt werden können und der noch dazu über ein großes Studio verfügt, in dem Talk-Sendungen aufgezeichnet werden können, zum Beispiel mit Politikern. Im Wahljahr 2008 soll das mobile Nachrichtenstudio durch die USA reisen und die Stimmung der Wähler einfangen. Die Route wird durch die Vorwahlen vorgegeben. Schon auf dem Weg dorthin könne man Geschichten einsammeln und berichten, was die Zuschauer über Politik / den Wahlkampf denken. „Warum brauchen wir noch ein Büro in Denver oder in Dallas, wenn wir diesen Supertruck haben“, sagt Bohrman. Zur Kernmannschaft gehörden gerade mal zwei Kollegen, der Fahrer und Josh, der „editing bus producer“, der drehen, schneiden und live überspielen kann. Fehlt nur noch der Reporter, und die Fahrt kann losgehen. Das Büro in Dallas wurde übrigens gerade geschlossen. Die Personalkosten waren zu hoch.
William und Charles (Washington DC). Mit den langjährigen CBS-Reportern sind wir zum Essen verabredet. Ein „blind date“ arrangiert von Jon, der uns mit ehemaligen RIAS fellows zu einem Essen in Washington zusammenbringt. Es wird ein lustiger Abend und ein ernster zugleich. Am Tisch sitzen mehr als 60 Jahre politische Berichterstattungserfahrung. Bill und Charlie haben alles gesehen, alles erlebt. Der Abend wird zur Abrechnung mit einer Regierung, der sie kein Wort mehr glauben „the Bush administration keeps telling us lies“, und mit ihrem Arbeitgeber CBS, der — wie viele der großen Networks — ältere, erfahrene Reporter entlässt, um hohe Gehälter einzusparen, und stattdessen junge, unerfahrene einstellt, die neben dem Fernsehen auch das Internet mitbedienen. Charles hat sein Büro, wie alle außenpolitischen Reporter, im State Departement. Er gehört zu jenen, die mit Condoleeza Rice die Krisenherde dieser Welt bereisen, persönliche Ansprache auf der Pressekonferenz inclusive. Bill hat den Job gewechselt und die Seiten. Er macht Öffentlichkeitsarbeit und spricht offenere Worte. Auf Bush wollen beide keinen Cent mehr wetten, auch Rice wird keinen Stich mehr machen nach den Wahlen. Da sind sie sicher. Leider dauere es noch ein ganzes langes Jahr, bis die Regierung abgelöst ist. Da könnten noch viele Dummheiten passieren, ein Angriff auf den Iran eingeschlossen. Doch auch Selbstkritik gehört dazu. Die amerikanischen Medien hätten beim Irak-Krieg zu spät reagiert, zu wenige Fragen gestellt, weil sie keine Zuschauer verlieren wollten und keine Werbung. Ein Fehler.
Monty Claussen (Athens, GA). Monty heisst eigentlich Montgomery, kein typischer Frauenname. Deshalb hat sich die blonde Journalismusstudentin mit der Perlenkette aus Athens für die Kurzform entschieden. Monty — mit breitem Südstaatenakzent gesprochen MOOAADI — lernt mit 20 anderen Studentinnen an der University of Georgia, wie man Fernsehen macht. Wie in einer echten Redaktion: jeden Morgen Konferenz, Themensammlung für NEWSSOURCE 15, das abendliche CampU.S.-TV-Magazin, das über Kabel auch in Athens zu sehen ist. Eigentlich sollen die Studenten Themen finden, die nicht schon in der Zeitung stehen. Aber die lesen sie ohnehin nicht, höchstens online, dafür surfen sie im Internet, informieren sich bei You Tube und CNN.
Die Suche heute verläuft etwas schleppend. Das kann auch an der Hitze liegen, Mitte Oktober noch Temperaturen bis zu 90 Grad Fahrenheit (35 Grad Celsius), das Wasser wird knapp in Georgia. Seit einer Woche dürfen Rasenflächen nicht mehr gesprengt werden, die Kürbisernte ist bedroht, angeblich will jetzt auch die Universitätsverwaltung das Wasser rationieren. Na endlich, ein Ansatz gefunden, los gehts. Hier beim Studenten-TV muss jeder jeden Job machen. Moderator und Reporter wollen fast alle sein, Kamera, Regie oder Chef vom Dienst sind weniger gefragt. Im Studio stehen dann auch vier Moderatorinnen, zwei für die Nachrichten, eine für das Wetter und eine für den Sport. Monty präsentiert heute die Football-Ergebnisse des Wochenendes. Immerhin besser als Wetter, sagt sie, und zieht sich die Lippen noch mal nach.
David Hazinski (Athens, GA). „We call them kids“, sagt der Professor. „Sie kommen mit einer miserablen College-Bildung, manche sind noch nicht einmal über die Grenzen Georgias hinausgekommen, und den Unterschied zwischen Strafrecht und Zivilrecht kennen sie auch nicht.“ Neulich sollten sie eine Polizeigeschichte recherchieren. Eine Studentin fragte den Professor nach der Telefonnummer des Sheriffs, er sei doch mit ihm befreundet, habe ihn neulich zu einem Hintergrundgespräch mitgebracht. „Call 911“ war die trockene Antwort.
Theoretische Grundlagen zu lehren ist nicht Daves Aufgabe. Er ist der Praktiker unter den Professoren, hat das TV-Studio im Keller aufgebaut, indem er die alte Studioausrüstung von CNN erbettelt und ausgeschlachtet hat. Jetzt haben sie eins der modernsten Uni-Studios. Nebenbei betreibt er eine Softwarefirma, schreibt elektronische Abläufe für Newsrooms, die er der Universität zur Verfügung stellt. Die Studenten sind die ersten Anwender, testen das Produkt und beide haben etwas davon: Drittmittelbeschaffung auf amerikanisch. Von Daves Reporterruhm zeugen die NBC-Stationen an der Wand in seinem Büro. Jetzt zeigt er den „Kids“ wie es geht. Die Nachbesprechung der heutigen Sendung ist detailliert und praxisnah. Lob für den Wassermangelreporter und den Hinweis: „Lasst Euch nicht mit Pressesprechern abspeisen. Wenn die Verantwortlichen nicht reden wollen, wird dies erwähnt. Und Monty, nimm die Haare aus der Stirn, die Zuschauer mögen das nicht.“ Jeder muss hier alles können, davon ist Dave überzeugt, und ein bisschen stolz sagt er uns noch: „Wenn sie hier fertig sind, können sie sofort in jeder Redaktion einsteigen.“
Joe Arndt (Portland, OR). Der „assignment desk“ ist das Herz der Redaktion von NewsChannel 8: hier im Cockpit des Regionalsenders — leicht erhöht über dem Newsroom — laufen die Nachrichtenmeldungen ein und die neuesten Bilder. Von hier werden Reporter und Teams losgeschickt und die Konkurrenzprogramme beobachtet. Planungschef Joe Arndt schiebt seit sechs Uhr früh Dienst, sortiert die Lage für die Konferenz, wenig später kommt Sheryl, die Producerin, dazu.
Ohne Unterbrechung klingeln die Telefone. Reporter melden sich zurück, Kameramänner fragen nach weiteren Drehs, Zuschauer haben Anmerkungen zur Sendung. Nebenbei hören Joe und Sheryl den Polizeifunk mit. Zehn schwarze Empfangsgeräte sind hier aufgereiht, damit kann man den gesamten Funkverkehr von der Portland City Polizei bis zur Oregon State Polizei abhören.
Den ganzen Tag über werden sie hier von Such- und Alarmmeldungen beschallt, aber sie reagieren nur noch auf Schlüsselwörter. „Shooting“ ist so eins, oder „55“, das ist der Polizeicode für „tote Person“. Wird ein Unfall gemeldet, genügt ein Tastendruck, und Sheryl kann sich auf eine von 150 Verkehrsüberwachungskameras aufschalten und mitzeichnen. Könnte ja ein Bild für die nächste Sendung sein. Gerade sucht sie in der Gerichtsdatenbank von Oregon nach einem Verdächtigen. Ein Pfarrer wurde festgenommen, er soll Gemeindemitglieder sexuell belästigt haben. Mal sehen, sagt Sheryl, vielleicht ist er ja schon mal aktenkundig geworden. Und tatsächlich: der Pfarrer hatte mal einen Strafzettel wegen zu schnellen Fahrens. Das Verfahren wurde gegen Geldbuße eingestellt, doch die Daten sind auf ewig gespeichert und den Journalisten zugänglich. Die Medien dürfen auf alle Verwaltungsregister zurückgreifen. „Datenschutz?“ frage ich. „Freedom of Information!,“ antwortet Joe, so stehe es in der Verfassung,. „The people have a right to know and we tell them.“
Pat Dorris (Portland, OR). „You don’t phone them, you just go there“, befiehlt der Chefredakteur von NewsChannel 8 in der Frühkonferenz. Und schon hat Pat, der investigative Reporter, seinen Auftrag: Kameraüberfall auf den Sheriff von Portland. Aufregend. Ich hefte mich sofort an seine Fersen. Der Sheriff soll die Frage beantworten, ob er Mitwisser in einem Fall von sexuellem Missbrauch war. Den hat der frühere Gouverneur von Oregon begangen, schon vor 20 Jahren, und daher ist die Geschichte nicht ganz griffig. Doch das Thema ist aktuell und mit dem O-Ton des Sheriffs wäre der Sender ganz weit vorn. Wir also los in die Stadt, rein ins Gebäude, vorbei am Pförtner und in den Aufzug. Erste Hürde geschafft. Pat nickt mir verschwörerisch zu. Sechster Stock, kein Sheriff-Büro, also wieder rein in den Aufzug. Fünfter Stock, auch hier gibt es kein Büro. Vierter Stock, da ist es endlich, doch die Sekretärin hält uns auf. Der Sheriff ist nicht da, er ist bei einer Pressekonferenz zur Nationalen Antiterrorübung, an der Portland diese Woche teilnimmt. „Hätte man auch vorher drauf kommen können“, grummelt Pat und ist besorgt um seinen Reporterruf: „don’t tell your colleagues in Germany“. Keine Sorge Pat, ich weiß, du bist ein guter. Einer, den sie rausschicken „when something needs digging.“
Wilson und Adam (Portland, OR). „Noch 30 Sekunden, dann geht es los, und achtet auf den Bus“. Na endlich. Schon seit einer Stunde lungern wir auf dem Renngelände von Portland, gerade hat es wieder einmal angefangen zu nieseln. Doch dann geht es los: KAWUMM. Eine Explosion. Über dem Bus leuchtet ein Feuerball. Alle zwei Jahre lässt die Bundesbehörde, das Homeland Security Office, in einem anderen Winkel der USA einen Terroranschlag simulieren. Diesmal detoniert die „dirty bomb“ in Portland. Die örtlichen Katastrophenhelfer müssen bei diesem Worst-Case-Szenario gut zusammenarbeiten, und aus dem fernen Washington sind Beamte gekommen, um zu beobachten, wie sie das hier in der Provinz regeln. Die Journalisten allerdings werden auf Abstand gehalten, hinter einem Absperrgitter, 500 Meter vom Geschehen. Die Reporter murren. In der Ferne verschwimmen Feuerwehr, Notarzt und Polizei zu kleinen Punkten. Nur Adam, der Kameramann, kann durch sein Objektiv Einzelheiten erkennen. Eine erste improvisierte Pressekonferenz von Polizei und Feuerwehr hat dann auch nur eine Botschaft: alles läuft prima, bis auf das Wetter.
Reporter Wilson sitzt im Schnittmobil und schreibt seinen Text für die Mittagssendung. Glaubt er den Verantwortlichen? „Muss ich ja, wir waren soweit weg. Wenn etwas schief ging, kommt das frühestens in zwei Tagen raus.“ Wilson spricht seinen Text über das EB-Kameramikrofon ein. Anschließend schneidet Adam die Bilder, die er gedreht hat, unter den vorgefertigten Text. So machen das hier alle. Doch nicht nur das, Adam übernimmt auch noch die technische Organisation der Live-Schalte und wählt im Übertragungswagen den Satelliten an. Rückmeldung vom Sender: noch fünf Minuten und ihr seid drauf. Adam setzt den gelben Südwester wieder auf und geht raus, um Wilson mit der Live-Kamera ins Bild zu setzen. In Deutschland wären dafür fünf Kollegen mitgereist. Hier macht der EB-Kameramann alle Jobs in einem.
Der erste Antiterrorübungstag geht zu Ende, Pressekonferenz. Neben dem Gouverneur von Oregon stehen der Bürgermeister von Portland und die Einsatzleiter von Polizei und Feuerwehr. Das Wort aber hat der Bundesbeamte vom Homeland Security. Er rechtfertigt die 25-Millionen-Dollar-Übung und erinnert an den Wirbelsturm Katrina: „We are experienced with tornados and floods but not with dirty bombs. This exercise will help to understand national desasters“.
Endgültige Aussagen ließen sich erst nach Auswertung der Übungen treffen, die diesmal zeitgleich in Arizona und Guam stattgefunden haben. Doch ebenso wie bei der letzten Katastrophenübung vor zwei Jahren wolle man auch dann keinen Bericht herausgeben: „das wäre doch so als würden wir den Feind aus erster Hand informieren.“
Sang-Won Lee (City, New York). Er hätte sich auch nicht träumen lassen, dass er mal das berühmteste Gelände der Welt bebauen würde. Mitte dreißig ist der Architekt, Harvard-Absolvent aus Hongkong, er hat schon einige internationale Renommierbaustellen bearbeitet, Bürogebäude in Paris, Flughafenterminals in Toronto und Orlando. Doch diese Baustelle ist anders als alle bisherigen: Ground Zero. Lee und seine Kollegen bauen den Freedom Tower. Offiziell heisst er World Trade Center Tower One, der erste von sieben Türmen auf dem Gelände. Mit leiser Stimme erläutert Lee seine Vision, die er mit dem Projektor an die Wand geworfen hat: der Turm ist ein Geflecht aus Beton und Stahl, der Grundriss um 45 Grad gedreht, die Glasfassade symbolisiert Transparenz und bricht zugleich das Licht.
Doch es reicht nicht, schlichte Baumaterialien zu einem stabilen Wolkenkratzer zu fügen. Es geht um mehr als Stahlträger, Statik und Sicherheit, hier geht es darum, eine Wunde im amerikanischen Selbstwertgefühl zu verschließen. Nine-eleven hat sich eingegraben — nicht nur in das Gedächtnis der New Yorker. „Der öffentliche Druck ist enorm“, sagt Lee auf die Frage, wie es sich unter öffentlicher Beobachtung arbeiten lässt. Aber: „Time is healing — Anfangs wollten die Menschen den Platz frei lassen, erst nach fünf Jahren war man überhaupt bereit, über eine Bebauung nachzudenken.“ Er persönlich findet das richtig: „Den Platz nicht zu bebauen wäre ein Akt der Passivität.“ Der Freedom Tower wird ein Symbol, sein Bau ist ein Politikum. Das hat Lee schon leidvoll erfahren. Die Höhe soll 1776 Fuss betragen — 1776 das Jahr der amerikanischen Unabhängigkeit — diktiert wurde das vom früheren Gouverneur von New York, sagt Lee.
Bohrende Nachfragen der deutschen Journalisten: mit dem ersten Architekten, Daniel Libeskind, soll es Streit gegeben haben? Das möchte Lee so nicht stehen lassen. Libeskind habe den Masterplan gestaltet, das Gesamtkonzept vorgegeben, sagt er, die einzelnen Gebäude sollten von anderen gebaut werden. Überhaupt redet Lee lieber über seinen Entwurf und gerät ins Schwärmen. Leuchtende Animationen illustrieren die Fassade, ein „Vorhang aus Glas“, einen Meter dick, und gehen über zur Antenne. Eine geflochtene Stahlspitze, die das Dach krönen und weithin über Manhatten ragen soll. Fast trotzig und 20 Meter höher als die Zwillingtürme, die einst hier standen.
Auf die Frage, ob Turm Nr. Eins denn einem Flugzeugangriff standhalten könne, weicht er aus. „I don’t know how to answer that.“ Es sei Sache der Regierung, das zu verhindern, nicht Sache der Architekten. Nach einer Stunde verlassen wir das Büro von Architekt Lee und gehen noch einmal um die Ecke zu Ground Zero. 2010 soll die Turmikone hier eingeweiht werden. Unten auf der Baustelle tragen die Bauarbeiter immer noch Trümmer ab.
Calvin O. Butts (Harlem, New York). Wir haben Glück, ohne es zu wissen. Auf eindringliche Empfehlung von Jon besuchen wir den Gottesdienst der Abyssinian Baptist Church in Harlem. Einmal mehr früh aufstehen. Noch etwas müde traben wir zur U-Bahn. Einmal mehr sind alle im schicken Business Dress unterwegs, gedecktes Schwarz und Blau überwiegen. Gut so, denn auch die Gemeinde erscheint im besten Sonntagsstaat. Wir haben Glück: statt langer Schlangen, wie erwartet, empfängt uns ein Gemeindediener und lädt uns in die Kantine im Untergeschoss ein. Hier gibt’s ein warmes Frühstück für drei Dollar, das nutzen viele aus der Gemeinde vor dem Gottesdienst. Wir auch. Oben in der Kirche bekommen wir zum ersten Mal ein Gefühl dafür, was es bedeutet eine Minderheit zu sein. Um uns herum: schwarze Männer, Frauen, Kinder. Der Chor singt Amazing Grace und dann predigt der Hauptpfarrer. Und wie. Reverend Calvin O. Butts wettert gegen den Rassenhass und wirbt für die Überwindung der Grenzen zwischen schwarz und weiß — als wäre Martin Luther King noch am Leben. In freier Rede, ohne Manuskript. Politisch und dennoch unterhaltsam. Schon vor 200 Jahren hat sich die Abessynian Baptist Church von der Mutterkirche abgespalten, aus Protest gegen die Rassentrennung. Auch Butt protestiert und kämpft seit 18 Jahren — gegen die brutalen Übergriffe der New York Police gegen Schwarze, für die Abschaffung negativer Werbung, gegen die Verwendung herabsetzender Texte in der Musikindustrie und damit auch gegen Hiphop-Songs, eine urschwarze Domäne. Politik muss unterhaltsam sein, Unterhaltung darf politisch sein. Reverend Butts verbindet beides. Zu Beginn des Gottesdienstes bedenkt er einige der Anwesenden mit besonderer Aufmerksamkeit. Dem ältesten Gemeindemitglied, einer 99-jährigen silberlockigen Frau, ruft er zu „keep on looking good“, die Basketball-Legende Earl „the pearl“ Monrose ruft er wie ein Hallensprecher auf und dann begrüßt er uns, „welcome to a group of German journalists who joined us today“. Einige Gospels später singen, klatschen und schwingen alle mit, die Gemeinde und wir. Ein einzigartiges
Erlebnis. Wir hatten Glück. Einmal mehr in vier Wochen USA.
———
Juri Rescheto, Freelancer
Ein leuchtender Punkt am Anfang der Reise und eine kaputte Gabel zum Schluss. Zwischendurch ein ganz normaler amerikanischer Reporteralltag.
Ein leuchtender Punkt
Roxanne blickt hinauf zum Himmel. Ihr Lächeln verschwindet. Verlegenheitspause. Ein kleiner Punkt über Roxannes Haus leuchtet auf. Er wird größer und heller, dann wieder etwas kleiner, bis er sich schließlich ganz auflöst im schwarzen Himmel. Die Düsen schallen nach. „Verwundete aus dem Irak. Die werden mit solchen Flugzeugen gebracht.“ Die sonst immer fröhliche, ansteckend laut lachende Roxanne spricht jetzt ganz leise. „Hier in der Nähe ist das Militärhospital. Alle Soldaten kommen dahin, wenn sie verletzt sind. Es werden immer mehr.“
Die Grille zirpt friedlich weiter, das Bächlein in Roxannes Garten plätschert vor sich hin. Wir sind sprachlos. Das ist unsere erste Party hier in Amerika. Unsere erste Woche in Washington DC. Und unsere erste persönliche „Berührung“ mit dem wichtigsten Thema der U.S.-amerikanischen Politik.
Roxanne, Ex-Journalistin, gibt eine Party für uns. Einfach so. Weil sie Deutschland mag und in Heidelberg studierte. Weil sie gern Deutsch spricht und ein schönes Haus hat, in dem Platz für viele Gäste und einen wunderbaren Weinkeller ist.
„Noch einen Schluck?“ Die Party geht weiter.
An jenem Abend spricht niemand mehr über die verwundeten GIs und leidenden Iraker. Später taucht das Thema natürlich immer mal wieder auf. Plakate mit „Welcome home!“, „Thank You!“ und „We support our troops“ hängen an Flughäfen und Fensterscheiben der Privatautos. „Wir sind gegen den Krieg, aber wir unterstützen die Armee.“ Sätze wie diesen höre ich von verschiedenen Menschen. Das ist der Unterschied zu Deutschland, wo die Bundeswehr keinen guten Ruf hat, egal an welcher Front sie gerade kämpft. Amerikanischer Patriotismus heißt: Wir können nicht gegen die Armee sein, weil das unsere Jungs sind.
Der leuchtende Punkt über Roxannes Haus bleibt für mich die prägendste Erfahrung mit der amerikanischen Politik. Vielleicht weil sie gleich am Anfang der Reise ist? Vielleicht.
Kollegiales
Ich staune, als ich die Produktionsstudios des Uni-Fernsehens in Bloomington (Indiana) betrete. Profischauspieler produzieren hier ihre Soap Operas. Angehende Reporter bringen Wochenshows und tägliche Nachrichten für die Region. Technik, die begeistert, und das in einer Uni-TV-Station!
Eine Woche später: Praktikum bei dem kleinen News Channel 7 in South Carolina. Vier Satellitenwagen, zehn Teamwagen, drei Korrespondentenbüros auf 15 Reporter. Täglich cruist ein Hubschrauber herum, um mal eben ein Bild für die Live-Show zu bringen. Das Bild steht dann auch ganze drei Sekunden lang. Der tapfere Pilot bleibt lange weiter in der Luft: es könnte sich ja was Spannendes ergeben. Technik, die begeistert und … Geld, das vermutlich in Strömen fließt. Alle fünf Minuten ein ausführlicher Werbeblock.
An meinem ersten Tag bei Channel 7 denke ich: die bringen fünf Live-Nachrichtensendungen pro Tag aus einer kleinen Region. Was senden die bloß?
Montag. Ein junger Polizist wird während seines Dienstes festgenommen, als er — selbst sturzbetrunken — versucht, Alkoholkontrollen bei den Autofahrern durchzuführen. Langes Interview mit dem betagten, betroffen wirkenden Obersheriff. Mehrere Live-Schalten vor dem Polizeipräsidium. Der Heli kreist über dem Dach des U-Haftgebäudes, in dem sich der glücklose Polizist vermutlich befindet. Vermutlich …
Dienstag. Ein Fünfjähriger klaut aus dem Schlafzimmer seiner Eltern eine Knarre, spielt den ganzen Vormittag „Krieg“ mit dem Nachbarsjungen und erschießt ihn schließlich. Aus Versehen. Ein Unglück, eine Tragödie für beide Familien, aber was für eine Story!
Mittwoch: Der seit Monaten ausbleibende Regen verursacht eine bis dahin ungekannte Trockenheit. Die Wasserreserven der umliegenden Seen sind auf dem kritischen Niedrigstpunkt: Der Heli steigt. Ein winziger Punkt auf den Bildschirmen der Regie flackert erfolgversprechend: Leute, das ist ein See! Ein See voller Wasser. Zwei Reporter berichten live … am Ufer eines anderen Gewässers.
Krise in Pakistan? Wahlen in der Ukraine? Oder wenigstens der Beginn einer neuen Karnevalssaison in Deutschland? Wer den Blick über den Ozean werfen möchte, liest lieber eine Zeitung oder surft im Netz. Für die meisten TV-Stationen ist Amerika groß genug, um täglich ihre Nachrichtensendungen mit berichtenswertem inländischem Material zu füllen.
Die kaputte Gabel
South Karolina ist der Geldbeutel Amerikas. Hier leben die wenigsten Arbeitslosen und rollen die meisten Autos. Dazwischen besteht ein kausaler Zusammenhang: Die meisten Autos sind die BMWs, die in South Carolina produziert werden. Der deutsche Autohersteller ist der wichtigste Arbeitgeber in der Region.
Aber der Bie Ähm Dabbl-Juh ist zu teuer, darum fährt Charmain einen Chevrolet, einen Chevy. Charmain ist die afro-amerikanische Kollegin vom Channel 7. Sie ist müde heute, weil sie den ganzen Tag über den ausbleibenden Regen berichten mußte. Zu Hause warten drei Kinder und ein kreativ tätiger Mann. John ist Grafikdesigner.
Und jetzt kommt auch noch ein Gast aus Deutschland. Aber: promised is promised. Ein Dinner in Charmains Haus wird nicht gestrichen.
Von der Redaktion aus fahren wir direkt zum Supermarkt, um dort ein fertiges Grillhähnchen für das Dinner zu kaufen. Fertighähnchen? Na und. Ich kann sie gut verstehen, die kreative Charmain. Wer hat schon nach einem anstrengenden Reportertag Lust, für sechs Leute zu kochen? Warum dann kein Superfertighähnchen aus dem superamerikanischen Supermarkt, es schmeckt fast wie zu Hause und spart superviel Zeit in der Küche.
Charmain hat reizende Jungs zwischen 35 (der afro-amerikanische Gatte) und 2 (der kleinste Sohn), die alle (bis auf den Zweijährigen) den deutschen Gast brav mit „Guuuut Aaaabn!“ begrüßen. Ganz wie es sich für eine wohlerzogene, kultivierte Reporter-Grafikdesigner-Familie gehört. Ich fühle mich wohl in Charmains Haus, und das obwohl die Gastgeberin nicht in Deutschland studierte und im Gegensatz zu Roxanne kein Deutsch spricht. Der kühle Chardonnay fördert meine Englischkentnisse von Schluck zu Schluck. Das Gespräch fließt. Der Wein auch. Wir lachen, tauschen unsere Familienfotos, spielen mit Kindern. Alles ist „super“, alles ist „great“.
Nur eins trübt die Laune: mein vergeblicher Kampf mit dem Plastikgeschirr. Weil Charmain so müde war, dass sie keine Lust auf Spülen hatte, griff sie aus ihrer Sicht zum geringsten Übel — dem Plastikgeschirr. Drei Gabeln mache ich kaputt, ehe ich den richtigen Druck raushabe. Das Superfertighähnchen aus dem superamerikanischen Supermarkt ist dann doch ein bißchen zäh. Oder liegt es an meiner supereuropäischen Superunerfahrenheit im Umgang mit dem Plastikgeschirr?
„Wir sind schon die größten Umweltschweine auf dieser Welt“ lacht Charmain. „Aber es ist sooo bequem!“ Ich widerspreche und stecke meine Gabel ins Hähnchen. Die vierte. Die hält.
———
Robert Ritzow, Mitteldeutscher Rundfunk
„Where are you from?“, fragt Lucy, die Bedienung bei Dick’s Sportwaren. Das ist einfach — „Germany“, sage ich, so wie ich es in den vergangen Tagen schon dutzende Male getan habe. „Oh. How is it? Very different from here?“ Womit wir beim komplizierten Teil wären. Was soll ich sagen? Ja? Bei uns gibt’s im Sportgeschäft in der Regel keine halbautomatischen Feuerwaffen. Bei uns ist Baseball eine Randsportart. Bei uns gewinnt der die Wahl, der die meisten Wähler hat. Bei uns sind die Fleischportionen höchstens halb so groß — viele Autos auch. Bei uns wird nicht so viel gebetet. Bei uns muss man bei der Einreise nicht die Fingerabdrücke abgeben — noch nicht … Das alles wären mögliche Antworten gewesen, doch ich sage: „Bei uns sind 25° C im Oktober eher selten.“ Womit wir beim Wetter wären, einem echten Thema für die Nachrichten hier.
Rückblende
Die Sirenen der Polizeiwagen sind nicht zu überhören. Die Eskorte macht den Weg frei für drei schwarze Limousinen, die über die Connecticut Avenue Richtung Weißes Haus fahren. Alles bestens zu beobachten von unserem Hotel in Washington. Diesmal war es nicht der Präsident, lerne ich, denn am Ende der Kolonne fährt kein Krankenwagen. Vielleicht war es Dick Cheney oder Condoleezza Rice. Sie alle bekommen umfangreichen Personenschutz und freie Fahrt durch die rush hour, aber nur George W. Bush wird von einem Rettungswagen begleitet. Solche Details machen die Faszination aus, vor Ort zu sein. Zu hören, dass die Familie des Präsidenten in Räumen ohne Fenster wohnt. Zu erleben, dass er selbst von vielen verspottet wird, dass andere ihn verachten und ihn kaum jemand verteidigt. Wer will schon eine „lahme Ente“ unterstützen?
Washington zum Einstieg in die Erfahrung, wie ein Land und seine Medien sich auf den Abschied einer Administration vorbereiten und gleichzeitig das Rennen um die Nachfolge schon im Gange ist. Eine Woche voller Eindrücke aus Gesprächen, Diskussionen, Vorträgen und Fragerunden, die mir vor allem eins gezeigt haben: Dieses Land ist nicht zu verstehen, wenn man nur die deutsche oder europäische Messlatte anlegt.
Dick’s Sportgeschäft in Bloomington ist wirklich nicht der richtige Platz, um gesellschaftliche Unterschiede zwischen Deutschland und den USA zu erörtern — oder vielleicht doch? Die Indiana University ist es aber auf jeden Fall. Weltoffen, intelligent, engagiert und überaus freundlich, so präsentieren sich die Lehrkräfte hier. Der Campus ist so beschaulich wie ein Postkartenmotiv. Doch hinter den altehrwürdigen Kalksteinmauern pulsiert das akademische Leben zum neidisch werden. Wir versuchen, viel zu erklären und noch mehr erklärt zu bekommen. Leider fehlen die Zeit und die Gelegenheit, mit den Studenten außerhalb des Klassenzimmers ins Gespräch zu kommen. Nach knapp zwei Wochen muss man eingestehen, dass man selbst in einem Monat nicht alles haben kann. Aber das Programm hat noch viel zu bieten — Chicago zum Beispiel.
Meine erste Stadt im Hochformat. Der ratternde, marode L-Train, die Art-Déco-Wolkenkratzer, die Installationen am Millennium Park — ich gucke, bis ich Nackenschmerzen bekomme. Chicago ist eine Metropole im Wandel. Aus Lagerhäusern werden Lofts, aus Industrieanlagen Brachland. Nicht mal zwei Tage sind wir hier, doch der Besuch in einem Musikclub ist Pflicht, denn die „Windy City“ ist und bleibt die Welthauptstadt des Blues. Wandel hin oder her.
Die ersten Menschen, die mir in Springfield, Missouri begegnen, sind drei Jungs in Schottenröcken mit schwarz gefärbten Haaren und Fingernägeln. Offenbar sind sie Mitglieder einer Band — doch ehrlich gesagt hatte ich im Herzen des „Bibel Belt“ anderes erwartet. Auch sonst ist die Stadt für viele Überraschungen gut. Da ist der demokratische Landrat, der im Interview das Recht auf Waffenbesitz verteidigt — bis aufs Messer, welches er im Gespräch aus dem Gürtel zieht. Er selbst hat zwanzig Gewehre und Pistolen im Haus. Da ist die republikanische Landrätin, die sich freut, dass sich eine Frau um das höchste Amt in den USA bewirbt. Da sind die jungen Reporterinnen einer lokalen Fernsehstation, die selbst am Hartschnittplatz sitzen, ihre Berichte zusammenstellen und Dreifach-Schichten schieben, weil heute Tornados die Region heimsuchen. Ich habe mich in Springfield keine Sekunde gelangweilt.
Die Yankees sind aus dem Rennen um die World Series geflogen und FOX hat einen neuen „business channel“ in den Äther geschickt. Sind das gute oder schlechte Voraussetzungen für eine Woche New York? Aus sportlicher Sicht vielleicht Pech. Doch wie gesagt, man kann nicht alles haben. Für ein Gespräch mit einem Repräsentanten von Murdochs News Corp. könnte es wohl kaum einen besseren Termin geben. Wie wurde FOX in den vergangen Wochen verteufelt. Kein ernst zu nehmender Journalist hätte zugegeben, für diesen Sender arbeiten zu wollen. Und dabei ist doch alles so einfach. Wer braucht Meinungsvielfalt, wenn News Corp. Profit haben kann?
Es sind ehrliche Aussagen wie diese, die den Nachhall bewirken, selbst wenn man den Konferenzraum schon lange verlassen hat. Sie mögen einem nicht passen, aber sie sind, wie sie sind — professionell, offen und oft erschütternd charmant. Es ist das große Plus dieses Programms, dass man hier nicht irgendwen trifft. Es sind Menschen, die etwas zu sagen haben. Der Priester in der Kirche in Harlem, die Lehrerin in der Schule in Hoboken, die Architekten des neuen Freedom Tower.
Und so sind es für mich nicht Washington, Bloomington, Springfield oder New York gewesen, die diese Reise unvergesslich gemacht haben. Es sind die Menschen, die ich in diesen Städten getroffen habe — auch Lucy, die Bedienung bei Dick’s Sportwaren.
———
Barbara Schmidt-Mattern, Deutschlandfunk
„Warum fotografieren Sie das?“ Der Mann blickt mich mit einer Mischung aus Befremden und Neugier an. Er kann mich nicht einordnen, ich sehe nicht unbedingt aus wie eine Touristin. Kein Rucksack, keine bequemen Schuhe, keine Gegend, in der man nur über Touristen stolpern würde. Ich habe ja noch kein Wort gesagt, meinen European accent hat er nicht gehört. Die Überraschung ist auf beiden Seiten. Es ist erst mein vierter oder fünfter Tag in den USA, in Washington D.C.
Ich habe mich noch immer nicht daran gewöhnt, dass Menschen mich so oft auf der Straße ansprechen, fast immer hilfsbereit, freundlich, offen. Herzlich! Ich stehe in einer dunklen Unterführung, die direkt von der Subway Station Pentagon City in die blinkende Verlockung des Kaufrausches führt. Auf meinem Weg in die fünf Etagen große Riesenmall bin ich hier hängengeblieben, wegen dieser Werbung für einen amerikanischen Rüstungskonzern. Ich stehe den vorbeihastenden Pendlern im Feierabendverkehr im Weg, aber dieses erleuchtete Transparent schreckt mich ab und macht mich neugierig: When the Front Line depends on it, we’re right alongside, steht in weißen Lettern über der hollywoodartigen Szene. Ein Hubschrauber mit rotierenden Flügeln steht im gleißend hellen Licht der untergehenden Sonne, zwei GIs laufen auf ihn zu, im Vordergrund ein dritter hastender Soldat. Das Bild wirkt verherrlichend. Aber auch bedrohlich und gefährlich — wie Krieg eben aussieht.
„Ich fotografiere das, weil ich es ungewöhnlich finde. Weil ich so was aus Deutschland kaum kenne“, antworte ich. Das ist nicht die ganze Erklärung. Eigentlich werde ich aufmerksam, wann immer mir Spuren des Irak-Kriegs begegnen, wie er sich in den amerikanischen Alltag frisst, in Bildern, Parolen und in den Mienen der Menschen auftaucht, wann immer die Rede auf den Irak kommt, auf die Politik und George Bush. Die Mienen verdunkeln sich dann, und kritischen Geistern ist im Gesicht abzulesen, wie sehr sie unter diesem Präsidenten leiden und dem Schaden, den er Amerikas Ruf in der Welt angetan habe. Der Mann in der Unterführung, der selber eiligen Schrittes auf dem Weg nach Hause ist und dennoch stoppt, um mich nach dem Foto zu fragen, ist weniger besorgt, sondern ungehalten, fast wütend. Nicht etwa auf mich. Er holt weit aus, um mir zu erklären: Rüstungsfirmen wie diese finanzieren ihre Werbung mit unseren Steuergeldern. Der Irak-Krieg ist für sie ein großes Geschäft, an dem sie gut verdienen. Aber den Krieg, den bezahlen wir mit unseren Steuern.
So sehr das Thema Irak vielen auf der Seele lastet, so sehr befördert es auch eine Art trotzigen Patriotismus. United we stand, heißt es auf dem großen Stars and Stripes Plakat im Drogerie-Schaufenster von cvs — nur zwei Blocks vom Weißen Haus entfernt. Support our troops steht quer geschrieben auf dem Bauch des riesigen Betonmischers auf einem Laster, der am nächsten Tag mitten in D.C. — wie der Washingtoner sagt — an uns vorbeifährt. Egal, in welchen Winkel von Amerika ich in diesen Wochen komme, überall ist die ungeheure Welle an Solidarität für our troops zu sehen und zu spüren. Die Trennlinie zwischen Bush, der Politik und den Verantwortlichen in Washington und denen, die Kopf und Körper hinhalten im Irak, ist messerscharf in der öffentlichen Wahrnehmung. Die einen richten an, die anderen baden aus. „Vielleicht haben wir versäumt, die richtigen Fragen zu stellen“, sagt Robin, leitende Redakteurin bei NBC, als die Rede auf Bush und den Krieg kommt. Es klingt bekümmert, auch resigniert.
Ein sonniger Sonntag, 7. Oktober 2007. Abflug mit American Airways in den Mittleren Westen, nach Indianapolis. Es ist eine kleine Maschine mit einem winzigen Cockpit: Die Tür steht offen, und mein Blick fällt auf kleine Zeiger, Hebelchen und Knöpfe. Davor eingezwängt Pilot und Co-Pilot, verdammt cool sehen sie aus mit ihren dunklen Sonnenbrillen. Darf ich ein Foto machen? Zweimal strahlendes Gewinnerlächeln ist die Antwort, tolles Bild — sie machen es einem leicht: Gute Laune haben ist nicht schwer in Amerika. Als ich ein paar Tage vorher allein auf dem Capitol Hill herumspazierte und dann doch den Stadtplan herauszog, kommt ein sonnenbebrillter Officer auf mich zu: Come on, help me to look smart, how can I help you? Mitten in der Bannmeile, zwischen Straßensperren, Waffen am Gürtel und blinkenden Funkgeräten überrascht mich nicht nur die Offenheit, sondern auch der Humor. Solche Begegnungen wird es immer wieder geben.
Dann kommt Kevin! Meine zweite Station in diesen vier Wochen: Bloomington, Indiana University, im gleichnamigen Bundesstaat. Warmherzig, ein wenig schüchtern und glücklich, endlich wieder deutsch sprechen zu können, begrüßt Kevin Grieves uns in der Lobby des CampU.S.-Hotels. Lädt Juri, Robert und mich zum Barbecue zu Hause in seinen Volkswagen, auf den vorne ganz botschaftlich die deutsche Flagge geschraubt ist anstelle des Kennzeichens. Kevin hat wie so viele Amerikaner German roots. Seine Doktorarbeit schreibt er über die Medienlandschaft in der SaarLorLux-Region. Über Saarbrücken kann man viel lernen von Kevin. Bloomington, mein einziger Aufenthalt in Smalltown America, ist eine kleine Oase. Studenten, Rasen, alte Gebäude, Pubs und ein Dutzend Uni-Stores, in denen man Indiana-T-Shirts, -Hosen, -Jacken, -Strampler, -Tassen und -Bettwäsche kaufen kann. Wir sind zurück in der Uni: Sitzen jeden Tag mit im Seminarraum und haben die nicht ganz dankbare Aufgabe, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk auf Englisch zu erklären. Keine Spenden, nur Gebühren. Wie übersetzt man GEZ? Abends und in jeder Mittagspause begleitet uns ein Prof., lädt uns ein in ein immer anderes leckeres Restaurant — tibetisch, thailändisch oder truly American. Einfach großartig: Mike Conway, Journalist und jetzt Professor. Radfahrer. Liebt Texas (außer Dallas), den Grand Canyon und ist auf George Bush gar nicht gut zu sprechen. Aber seinen Humor verliert er nie, auch wenn es um Umweltpolitik, die Präsidentschaftswahlen oder um Journalismus in neokonservativen Zeiten geht. Auch Beunruhigendes erfahren wir in diesen Tagen von unseren Gastgebern: Der lange Arm Washingtons habe wegen einer ungenehmen Studie selbst bis nach Bloomington gereicht. Hier und da haben wir gefragt, ob sich die Ära Bush im Wissenschaftsbetrieb niederschlägt. Dass sie es tatsächlich tut, überrascht uns dann umso mehr.
Auch NPR bekam den Gegenwind schon zu spüren. Das öffentliche National Public Radio ist fundierter Journalismus vom Feinsten. Schnörkellose Information, aber immer unterhaltsam: Dass Witz und Seriosität sich in Amerika nicht ausschließen (Ausnahme Fernsehen), ist unbeschreiblich erfrischend: Vielleicht muss man Deutsche sein, um das so wertschätzen zu können. Die Morning Edition, NPRs Informationsprogramm am Morgen, bringt direkt nach der Irak-Reportage eine Meldung über eine neue Erfindung aus Deutschland: Das Anti-Schnarch-Kissen: Es richtet sich bei akustischer Störung automatisch auf, so dass der Schnarcher aufwacht und schweigt. Das sind allerdings nicht die Nachrichten, die NPR in Ungnade fallen ließen. Der Sender ist vor allem bei den Neokonservativen als liberal gebrandmarkt, er sei zu links und damit angeblich nicht ausgewogen. Wer zuhört, wird eines Besseren belehrt, doch in den letzten Jahren gab es in Washington mehrfach Versuche, die Gelder für den öffentlichen Rundfunk zu kürzen. Dabei macht diese Summe ohnehin nur einen kleinen Teil des Budgets aus, das den rund 800 privaten, nicht profitorientierten NPR-Stationen in ganz Amerika zur Verfügung steht. Als ich in der dritten Oktoberwoche im herbstlich kalten Seattle eintreffe, im Bundesstaat Washington, in der nordwestlichsten Ecke der USA, da ist gerade mal wieder der halbjährliche Pledge Drive an der Reihe. Jede Stunde rufen die Moderatoren ihre audiences auf, Geld zu spenden und damit einen Dienst für ihre community zu leisten. Manche Hörer nervt es, uns nervt es — aber wir können ja nicht ohne — schallt es mir aus der Redaktion von KUOW entgegen, Seattles NPR-Station. Der Sender ist so wie die Stadt: liberal, gebildet, kritisch, umweltbewusst. Alle hassen den Verkehr und die Staus, aber jeder fährt Auto — auch, weil es bis heute keine U-Bahn in Seattle gibt. Ich fahre die ganze Woche Bus und lerne weniger das hippe als vielmehr das HartzIV-Seattle kennen. Es müfft oft im Bus, besonders abends, wenn Obdachlose und Abgestürzte gleich gruppenweise im Bus sitzen, sich manchmal mit dem Fahrer anlegen und schließlich kollektiv an der Kirche aussteigen, weil es dort ein Nachtasyl gibt. Im Uni-Viertel, wo KUOW und auch mein Hotel liegen, sitzen sie derweil in den Cafés, trinken Vitamin Water oder Café Latte, und tippen auf ihren Laptops. Merkwürdig oder gerade nicht: Apple regiert in der Microsoft-Stadt.
Und in New York erst recht. Unsere letzte Station ist in den ersten Tagen sonnig, danach nur noch verregnet und grau. Fast immer ruppig, gehetzt und überall zu voll. Hier residiert Apple, der Store, direkt am Central Park: Bonbonbunte IPods in allen Farben, IPod-Strümpfchen, IPod-Täschchen. Das große Thema unserer Reise –diversity — kosten wir in New York noch einmal in vollen Zügen aus: Sonntagmorgen mitten in Harlem sind wir zu Gast in der Baptist Abyssinian Church, umgeben von Afroamerikanern. Alle lachen uns an, reichen uns die Hand, erklären uns die kleinen und großen Dinge in diesem Gottesdienst, der nicht nur ein Dienst an Gott, sondern auch volle zwei Stunden Spaß und Freude ist. Ein paar Tage später sitzen wir bücherumrahmt im eleganten Konferenzraum des American Jewish Committee bei Bagel und Kaffee. Spüren die Sorge beim Thema Iran, die Resignation beim Stichwort UN, und erfahren, dass seit dem Jahr 2000 immer mehr Jewish Americans zum Lager der Demokraten übergewechselt sind. Kaum ein Land wird so sehr in Schubladen gesteckt wie die USA. Tatsächlich ist das Land ein einziger großer Kleiderschrank. We had a great time there! Vielen Dank, liebe Rias Berlin Kommission.
———
Joachim Spengler, Deutschlandfunk
Sag mir, wo die Bush-Fans sind? Vier Wochen lang treffe ich keinen, der sich als solcher hätte „outen“ mögen. Vielleicht liegt es auch daran, dass meine Stationen sämtlich an der Ostküste liegen: Washington, Georgia, Neu England, New York. Fast nur Begegnungen mit Bush-kritischen und sogar wegen des Irak-Kriegs beschämten Amerikanern — wer hat den Mann aus Texas eigentlich zweimal ins Amt gewählt? Um es gleich am Anfang hinter mich zu bringen: es wäre spannend gewesen, auch mit Vertretern der religiösen Rechten zu diskutieren.
Aber das ist meine einzige Kritik, und sie mutet an wie Erbsenzählerei. Denn das Berliner Team und Jon Ebinger haben insgesamt ein fantastisches Programm zusammengestellt. Weder verwunderlich noch verwerflich, dass die thematische Ausrichtung auf U.S.-Medien und U.S.-Minderheiten immer wieder überlagert wird von einer Frage: wer wird Bushs Nachfolger oder seine Nachfolgerin?
Die meisten der Gesprächspartner tippen auf Hillary Clinton. Auch wenn sie von vielen nicht gemocht wird: „too artificial“, lautet eine Begründung. Aber wer Hillary wählt, bekommt auch Ehemann Bill. Und Bushs charismatischem Vorgänger trauern offenbar etliche Amerikaner hinterher.
Der amtierende Präsident selbst wechselt allmählich in den Aggregatzustand einer lame duck über, die allabendlich den TV-Größen Letterman, Leno und Steward als Gag-Vorlage dient. Die herzlichen Lacher des Publikums täuschen aber nicht darüber hinweg, dass von der selbstbewussten Leichtigkeit, die ich bei meinem letzten USA-Aufenthalt — zwölf Jahre zuvor in der Clinton-Ära — gespürt habe, nicht mehr viel übrig ist.
Es zeigt sich zwar kein Amerika der Angst und der Erschütterung wie nach dem 11. September 2001; doch es ist ein Amerika der Ratlosigkeit, des Selbstzweifels, der Politikerverdrossenheit. Hat das Land möglicherweise zum zweiten Mal seit Vietnam seine Unschuld verloren (wenn man denn die Unschuld zweimal verlieren kann)?
Seinen Glauben an Gott wird es nicht verlieren. Soviel steht nach dem fantastischen Referat von Luis Lugo fest, dem Direktor beim PEW Forum on Religion. Seine Untersuchungen über die tiefe Religiosität der Amerikaner, die nicht an einen bestimmten Glauben gebunden ist, unterfüttern die spannenden Begegnungen mit den Vertretern der (wenig integrierten) Latinos, der (einigermaßen integrierten) Muslime und der (zunehmend integrierten) Schwarzen.
Wo sich selbst Muslime vor allem als Amerikaner fühlen, da erscheint es mir unwahrscheinlich, dass man jemals um den amerikanischen Patriotismus wird fürchten müssen. Stars und Stripes sind allgegenwärtig wie eh und je. Einmalig das Gespür für Symbole: 1776 Fuß hoch wird der Freedom Tower gebaut, was an das Jahr der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung erinnert. Die Wiederaufbaupläne für Ground Zero, die uns das Architekturbüro in New York erläutert, beeindrucken.
Hingebungsvoll und unnachahmlich pflegt Amerika die Erinnerung an seine Helden — ob in den New Yorker Feuerwehrstationen oder in Washington vor den Memorials des Zweiten Weltkriegs, Koreas und Vietnams. Gewiss wird es irgendwann ein Irak Memorial geben. Platz genug dafür ist jedenfalls in der wunderbaren Parklandschaft Washingtons, die zu erlaufen unser gedrängtes Programm nicht jeden Morgen erlaubt.
Nicht vergessen werde ich den Anblick der 100 Marines, die sich in ihrer schwarz-weißen Galauniform in aller Herrgottsfrühe pedantisch auf den Stufen des Lincoln Memorial zum Fotoshooting aufbauen. Unübersehbar prangen ihre Wahlsprüche von den beiden Bussen: „The Few. The Proud.“ und „Earned. Never given.“
Auch wenn die Mehrheit der Amerikaner inzwischen allen Umfragen zufolge gegen den Irak-Krieg ist — die Unterstützung der eigenen Soldaten, die die politischen Entscheidungen ausbaden müssen, bleibt ihnen dennoch selbstverständlich. Und so applaudieren die Passagiere auf dem Flughafen von Atlanta ihren boys und girls, als die in eine ungewisse Zukunft Richtung Irak aufbrechen.
Wie wird es sein, wenn die Vereinigten Staaten den Preis für Bushs Irak-Krieg werden zahlen müssen? Werden sie dann erneut in eine Phase tiefer Depression schlittern? Jedenfalls dürfte der politische und wirtschaftliche Preis hoch sein — davon zeigt sich der leidenschaftliche Journalisten-Ausbilder Professor Steve Smith am Grady College der Universität von Georgia überzeugt. Und dieser Preis werde seine jungen Studenten, die so eifrig und arglos erscheinen, wie noch jede junge Generation in den USA, schockieren.
Der Süden ist „different“: Athens, Atlanta, Savannah, Macon. Die Menschen sind gelassener, offener und noch herzlicher als anderswo in den USA. Diese Atmosphäre färbt auf Thorsten, Gabi und mich ab und macht die Uni-Woche zu einem einmaligen Erlebnis.
Warum vor dem Irak-Krieg die viel gepriesenen „checks and balances“ des U.S.-Systems so versagt haben, wird mir während der vier Wochen nicht wirklich klar. Vielleicht vernebelt zuviel Patriotismus auch der politischen Klasse gelegentlich das Hirn?
Eigentlich kann es die älteste Demokratie der Welt besser. Der durchschnittliche U.S.-Politiker erscheint mir fachlich und rhetorisch einem durchschnittlichen Bundestagsabgeordneten überlegen (es gibt ja auch keine Listenwahl). Der Kontrast war jedenfalls nicht zu übersehen zwischen dem kurzen, beeindruckenden Treffen mit Chris van Hollen, dem Kongressabgeordneten aus Maryland, und dem unmittelbar vorangehenden Empfang des Bundesministers Tiefensee, der vor U.S.-Investoren einen langatmigen, uninspirierten Vortrag hält („Germany — a motor of innovation…“)!
Klaus Scharioth, der deutsche Botschafter, verteidigt dagegen tapfer Tiefensees Auftritt und führt die nüchterne Rhetorik deutscher Politiker auf das Erbe der Nazi-Zeit zurück. Seither vermeide man eben emotionalisierte Reden. Na ja… Das Treffen mit Scharioth ist ansonsten aufschlussreich. Wir erfahren, dass das deutsch-amerikanische Verhältnis wieder so gut sei, wie vor dem Zerwürfnis zwischen Bush und Schröder.
Damals standen die U.S.-Medien auf der Seite ihres Präsidenten. Immerhin: Washington Post und New York Times haben sich inzwischen entschuldigt für ihre Irak-Vorkriegsberichterstattung, die so gar nichts gemein hatte mit dem investigativen Journalismus der Watergate-Zeit.
Ein bis heute trauriges Bild bieten die elektronischen Medien. Zu Gast sind wir bei ABC, NBC, Fox oder CNN. Alle werden immer stärker auf Profitabilität hin getrimmt. Deshalb ist mainstream angesagt, Zwischentöne haben keine Chance. Für mich ist U.S.-Fernsehen nur schwer zu ertragen. Das liegt an dem eingeschränkten Themenspektrum, den ständigen Wiederholungen, und der aufgeregt-überzeichneten Mimik, Gestik und Rhetorik der Reporter und Moderatoren — von den nervigen Werbeunterbrechungen gar nicht zu reden.
Gut dass es NPR, das national public radio, gibt. Konkurrenzlos und kompliziert mit seinen mehr als 800 Lokalstationen, selbstbewusst mit 25 Millionen Hörern, reich nach der 225 Millionen-Dollar-Erbschaft der McDonalds-Witwe, altmodisch auf erfrischende Weise und nicht frei von Selbstironie in einer relaxten Chefetage: „We are always too late, but we call it analysis.“
Nicht nur mir erscheint NPR als verlässlicher Anker in der chaotischen, elektronischen Informationsflut. Hautnah erlebe ich das in der dritten Woche: Die Cape and Island NPR Station, wo mein Host Dan Tritle die morning edition moderiert, muss sich zwar mit einem kleinen, heruntergekommenen Holzhaus begnügen. Ihr Progamm ist aber auf Cape Cod, Nantucket und Marthas Vineyard eine Institution, die von den meist wohlhabenden Bürgern geliebt wird, was mir einige beim Hummeressen in Provincetown erläutern. Dan hat auch Treffen mit weniger begüterten, außergewöhnlichen Amerikanern organisiert: mit Dave Masch, dem Fischer und Schiffskoch, oder mit Vernon Laux, dem in der Fachwelt bekannten Ornithologen, der mit mir durch Tomatenrabatten und Kürbisfelder stapft, um mir seltene Spatzen und Finken zu zeigen.
Ein wunderbarer Kontrast zu den Wochen in Washington, Georgia und New York, noch besonders unterstrichen von den Farben des Indian Summer in diesem gesegneten Flecken Erde.
Am Ende ein riesiges Kompliment dem gesamten Planungsteam! Die vier Wochen sind nicht nur inhaltlich anspruchsvoll und bereichernd, sondern auch ein organisatorisches Meisterstück. Was auch immer: Flüge, Hotels, Mietwagen, Ansprechpartner, Vorträge und Verabredungen — alles klappt nahezu reibungslos und ist perfekt organisiert. Wahrlich nicht einfach angesichts von zwölf Individualisten und vieler dutzend Flüge und Hotelbetten.
Hinzu kommt, dass die Kommission in Berlin mit dem unvergessenen Jürgen Graf, dem während unseres Aufenthalts leider verstorbenen Mr. RIAS, ein glückliches Händchen bei der Zusammenstellung der Gruppe bewiesen hat: aller Intensität zum Trotz gibt es weder Teamkonflikte noch Kleingruppenbildung, weder individuelle Verweigerung noch „Burnout“-Erscheinungen. Alles war gut!